Herr Gauleiter.«

Wachter war auf der Hut. Er uberlegte jedes Wort genau, bevor er es aussprach. Nur ein kleiner Fehler, eine winzige Unaufmerksamkeit konnte sein Ende bedeuten — daruber war er sich absolut im klaren.

«1716…«Koch lehnte sich zuruck, faltete die Hande uber seinem Bauch und musterte Wachter wieder mit durchdringenden Blicken.»Und daran hat sich Stalin gehalten?«

«Jeder, Herr Gauleiter. Alle Zaren und Zarinnen. Kerenskij und Lenin und Stalin auch.«

«Und nun erwarten Sie das auch vom Fuhrer…«

«Von Ihnen, Herr Gauleiter. Dem Fuhrer wird es egal sein, wer das Bernsteinzimmer bewacht. Solange es in Konigsberg steht, haben Sie die Verantwortung.«

«Es wird jetzt fur alle Zeit in Konigsberg stehen!«rief Koch. Der Mann, wie hie? er? Wachter, machte einen guten Eindruck auf ihn. Vor allem konnte er ein Auge sein, das Dr. Findling standig beobachtete und laufend Berichte abgeben konnte. Nichts, was mit dem Bernsteinzimmer geschah, wurde ohne Wachter stattfinden konnen. Wirklich ein wichtiger Mann.»Wo haben Sie in Puschkin gewohnt, Wachter?«

«Im Katharinen-Palais, nicht weit vom Bernsteinzimmer entfernt.«

«Das werden Sie hier auch. Sie bekommen im Schlo? eine Wohnung.«

«Hei?t das, da? ich… Herr Gauleiter, ich kann bleiben? Ich darf weiter das Zimmer betreuen? Ich…«

Koch nickte. Es war ihm peinlich, plotzlich Tranen in den Augen des Mannes sehen zu mussen. Er empfand das als unmannlich, auch wenn er in dieser Situation Verstandnis dafur aufbrachte.

«Rei?en Sie sich am Riemen!«sagte Koch grob und doch mitempfindend.»Ich will, da? Sie mir uber alles berichten. Haben Sie Familie?«

«Meine Frau ist schon lange tot.«

«Keine Kinder?«

«Einen Sohn. Er hie? Nikolaus. Bei einem Unfall kam er ums Leben. Motorrad, Herr Gauleiter. Schadelbruch.«

«Ist wie ein Affe gesaust, was?«

«Die jungen Leute. «Wachter hob resignierend die Schultern.»Gut, da? seine Mutter ihn nicht so gesehen hat. Er war fur mich eine gro?e Hoffnung. Nun stirbt mit. mir die Familie

Wachter aus.«

«Wie alt sind Sie, Wachter?«

«Funfundfunfzig, Herr Gauleiter.«

«Zehn Jahre alter als ich! Wachter, das ist doch kein Greisen-alter. Da kann man doch noch einen Sohn zeugen… mit einer jungen, temperamentvollen Frau! Uberlegen Sie sich das. Ein Mann kann immer… nur Mut!«Koch lachte. Bei seinem Lieblingsthema angelangt, wurde er sogar kumpelhaft.»Sie wollen doch wohl nicht die 225-jahrige Kette zerrei?en? In den Lenden der Manner liegt Deutschlands Unsterblichkeit. Sehen Sie sich um, Wachter, in Konigsberg wimmelt es von alleinstehenden Frauen mit dem notigen Hunger.«

«Ich werde es mir uberlegen, Herr Gauleiter.«

Koch schlug die Beine ubereinander und nahm seine Mutze vom Kopf. Wachter wurde wieder vorsichtig. Es wird also langer dauern, dachte er. Das Verhor geht weiter. So schnell ist ein Koch nicht zu uberzeugen.

«Erzahlen Sie mir etwas von der Geschichte des Bernsteinzimmers«, sagte er ohne den sonst befehlenden Unterton.

«Das wird Tage dauern, Herr Gauleiter.«

«Na und? Wir haben doch Zeit. Jetzt eine Stunde… und morgen gehts weiter. Was hat zum Beispiel Lenin gesagt, als er zum erstenmal das Zimmer sah?«

«Auf dem Rucken der Werktatigen gebaut!«

«Das sieht ihm ahnlich!«Koch lachte schallend.»Weiter, mein lieber Wachter. Weiter.«

Nach drei Tagen hatte Jana Petrowna gelernt, mit zwei Fingern einigerma?en flie?end zu schreiben. Allerdings hatte sie unentwegt geubt, hatte zehn Stunden lang hinter der Schreibmaschine gesessen und sieh die Buchstabeneinteilung der Tastatur gemerkt. Sie hatte sogar versucht, mit geschlossenen Augen zu tippen, aber das ging zu diesem fruhen Zeitpunkt vollig daneben. Am Abend des dritten Tages zeichnete sie auf ein langliches Stuck Karton die Tastatur der Maschine, genau in der Gro?e des Originals. Frieda Wilhelmi begutachtete die

Zeichnung, als sie von einem Rundgang durch die Stationen zuruckkam. Wie ublich hatte es wieder eine Menge Arger gegeben. Friedas Trompetenstimme hatte durch alle Flure gedrohnt, ein paar Schwestern lie? sie weinend in den Stationszimmern zuruck. Ab und zu Dampf, das schadet nicht, war ihre Ansicht. Dampf treibt die Maschine. Ohne Dampf bleibt alles stehen.

«Was soll denn das, Kind?«fragte sie und legte den Karton zur Seite.»Merkst du dir die Buchstaben so leichter?«

«Nein, aber ich kann immer und uberall mit den Fingern darauf uben.«

«Sehr klug!«Frieda umfa?te Jana mit einem fast liebevollen Blick.»Hast du keine Lust, mal an die frische Luft zu gehen?«»Es regnet doch, Oberschwester.«

«Wie war's, wenn du mal in ein Kino gehst? Im Ufa-Palast lauft ein neuer Film mit Zarah Leander. Der Weg ins Freie, hei?t der Film. Und im Tivoli wird Jud Su? gespielt… das mu?t du dir ansehen, mein Kind.«

«Wenn ich darf…«

«Naturlich darfst du. Du bist doch hier nicht im Gefangnis. Au?erhalb deiner Arbeitszeit kannst du tun und lassen, was du willst. Selbstverstandlich im Rahmen von Anstand und Moral.«»Ich mochte zu gerne einmal in das Museum im Schlo?, Oberschwester. «Jana starrte auf ihre Schreibmaschine, um nicht Frieda Wilhelmi anschauen zu mussen.»Ich liebe Gemalde und Skulpturen. Bei einem Kurzurlaub von der Front habe ich sogar Schlo? Peterhof besichtigt. Ich war richtig ergriffen.«

«Dann sieh dir das Museum doch an, mein Kind.«

«Es ist nur am Tag geoffnet, nicht abends, wenn ich hier fertig bin.«

«Das stimmt. «Frieda Wilhelmi uberlegte nicht lange.»Ich gebe dir morgen einen freien Tag.«

«Wirklich, Oberschwester? O danke… danke…«

Sie wollte aufspringen und Frieda umarmen, aber dann sank sie auf ihren Stuhl zuruck und wischte sich uber die Augen.»Nun heul nicht!«sagte Frieda grob, aber nicht mit ihrer

Trompetenstimme.»Dir steht doch ein freier Tag zu. Du gehst also morgen ins Museum und erzahlst mir, was es da zu sehen gibt. Ich wurde mitgehen, aber ich kann ja hier nicht weg. Und ubermorgen Abend sehen wir uns Zarah Leander an.«

In dieser Nacht wurde Jana Petrowna gestort. Ein Klopfen schreckte sie aus dem Schlaf auf, und das erste, was sie dachte, war: Wie gut, da? ich die Tur abgeschlossen habe. Auch ohne da? sich der Klopfende vorstellte, wu?te sie, wer vor der Tur stand.

«Ja?«rief sie in der Art, wie sich Frieda immer meldete. Drau?en im Flur hustelte jemand. Dann sagte eine gedampfte Stimme:

«Machen Sie auf. Bitte…«

«Wer ist da?«fragte sie vollig uberflussig.

«Hans…«

«Ich kenne keinen Hans.«

«Hans Phillip.«

«Ach Sie, Herr Doktor? Ein Notfall? Ich habe keinen Stationsdienst, das wissen Sie doch.«

«Man konnte es einen Notfall nennen, Schwester. Schlie?en Sie die Tur auf.«

«Nein.«

«Seien Sie doch kein Frosch.«

«Ich bin eine Jungfrau.«

«Wie bitte?«

«Ich bin Sternzeichen Jungfrau.«

«Humor haben Sie! Das gefallt mir. Wir sollten uns naher kennenlernen, aber nicht durch die Tur.«

«Ich wu?te nicht, wozu das nutzlich ist.«

«Das konnte ich klaren, wenn Sie mich hereinlassen.«

«Auch dann wurden Sie mich nicht uberzeugen.«

«Es kame auf einen Versuch an, Schwester Jana. Im Leben gibt es selten ein Nie.«

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