«Dann gehore ich zu dieser Seltenheit, Herr Doktor. Lassen Sie mich jetzt weiterschlafen, bitte. Wieso sind Sie eigentlich noch im Haus?«»Ich habe Nachtdienst. Nun machen Sie schon auf. Ich habe auch zwei Flaschen Bier mitgebracht.«

«Pissolin?«

Schweigen. Dr. Phillip zwinkerte verblufft mit den Augen. Was ist denn das, fragte er sich. Die sprode Kleine und dann solch ein Wort. Junge, die hat es ja faustdick hinter den Ohren. Die ist ja gar nicht ein Krautchen-ruhr- mich-nicht-an. Die tut nur so, die spielt mit mir Katz und Maus.

«Madchen — «sagte er und pre?te dabei den Mund an den Turspalt.»Du bist ein Teufelsweibchen. Komm und dreh den Schlussel rum…«

«Nein. Gute Nacht, Herr Doktor.«

Jana Petrowna legte sich wieder zuruck und zog die Decke uber ihren Kopf. Sie horte nichts mehr und wu?te so auch nicht, wie lange Dr. Phillip noch an der Klinke ruttelte, redete, bettelte und lockte. Schlie?lich gab er auf, zum ersten Mal widerstand eine Frau seinen Lockungen, ein vollig unbekanntes Gefuhl war das, und enttauscht ging er zuruck zum Arztzimmer der Chirurgie. Na, dann heute nicht, dachte er. Wir haben ja Zeit. Einmal wird's gelingen. Wer hat heute Nachtdienst? Schwester Veronika. Vroni, die Rundarschige. Besser als gar nichts.

Er packte seine Flaschen Bier wieder in die Kitteltasche und ging zur Station III, in der das Wachzimmer lag.

«Gru? dich, Vroni«, sagte er zu dem drallen Madchen, beugte sich uber sie, ku?te sie und strich dabei uber ihre Bruste.

«Machen wir's uns gemutlich. Es wird sonst eine langweilige Nacht werden.«

Und Schwester Vroni knopfte ihren Kittel auf…

Gegen zehn Uhr am Vormittag betrat Jana Petrowna das Museum im Konigsberger Schlo?. Sie kaufte eine Karte, wagte aber nicht, zu fragen, wo man das Bernsteinzimmer aufstellen wollte. Niemand au?er ein paar Eingeweihten wu?te von der Ankunft des Schatzes. Es war anzunehmen, da? die Kartenverkauferin uberhaupt keine Ahnung hatte.

Um nicht aufzufallen, ging Jana von Saal zu Saal, blieb vor einigen Gemalden stehen, stieg hinauf in den ersten Stock und sah nirgendwo einen leeren Saal oder eine Betriebsamkeit, die auf ein Auspacken des Bernsteinzimmers hinwies. Erst als sie in den zweiten Stock gehen wollte, versperrte ein dickes Seil die Treppe. Ein Schild hing an dem Seil: Gesperrt. Und auf der Treppe auf einem Stander las sie: Bis auf weiteres kein Zutritt.

Jana blieb stehen und hob lauschend den Kopf. Da oben also, dachte sie. Da mu? Vaterchen sein. Was wird er sagen, wenn ich plotzlich vor ihm stehe? Sie horte entferntes Hammern, ein paar Stimmfetzen mischten sich dazwschen, irgend etwas schleifte uber den Boden, dann eine deutliche Stimme:»Karl, pack mal mit an! Vorsichtig, du Knallkopf! Und jetzt: Hebt hoch!«

Jana Petrowna hob das Seil an, ging gebuckt darunter her und stieg die Treppe hinauf. Um die Ecke des breiten Flurs horte sie nun deutlicher das Hammern. Zwei Manner bogen von einem Seitengang ein und blieben beim Anblick der Rote-Kreuz-Schwester stehen.

«Wo soll's denn hingehen, Schwester?«fragte einer von Ihnen.»Hier ist im Moment nichts zu sehen.«

«Ist denn das Schild unten weg?«fragte der andere.

«Ich bin dienstlich hier. Im Krankenhaus wurde angerufen. Ich wei? nicht, was los ist.«

«Wird sich einer an den Mistkisten den Daumen gequetscht haben«, sagte der eine frohlich.

«Hoffentlich nicht was anderes«, lachte der andere. Er winkte den Seitenflur entlang.»Freie Fahrt, Schwester. Und nehmen Sie ihn vorsichtig in die Hand…«

Laut lachend verschwanden sie in einem Zimmer. Jana zogerte einen Moment, dann pre?te sie die Lippen zusammen und ging weiter. Vor einer breiten Tur, uber der die Nummer siebenundzwanzig stand, blieb sie stehen. Hinter der Tur erklang laut das Stakkato des Hammerns und vielfaches Stimmengewirr. Sie nahm allen Mut zusammen, druckte die Tur auf und betrat einen gro?en, leeren Saal.

Auf dem Parkettboden war eine der Wandtafeln des Bernsteinzimmers zusammengelegt worden, zwei Manner in Offiziersuniform studierten einen Bernsteinengel, den einer von ihnen in beiden Handen hielt, drei Manner an der hinteren, kahlen Wand schlugen Haken in die Mauer, ein vierter, mit einem Plan in der Hand, zeichnete mit einem dicken Stift neue Bohrlocher an.

Und vor der auf dem Boden liegenden Wandtafel kniete Michael Wachter und untersuchte mit einer gro?en runden Handlupe das Mosaik aus geschliffenem, funkelndem Bernstein.

Der erste, der Jana Petrowna bemerkte, war Dr. Runnefeldt. Er blickte von dem Bernsteinengel hoch und sah sie an. Verbluffung lag in seinem Blick. Dr. Findling bemerkte es und drehte sich um. Auch ihm sah man das Erstaunen an.

«Sie haben sich verlaufen, Schwester«, sagte Dr. Runnefeldt hoflich.

«Ich wei? nicht. Jemand hat im Krankenhaus angerufen, hier soll es einen kleinen Unfall gegeben haben. «Ihre Geistesgegenwart war hervorragend. Sie sah dabei hinunter auf die Wandtafel, vor der Wachter kniete.

Ich bin da, Vaterchen! Mach dir keine Sorgen mehr um mich. Gut geht es mir. Schon bei den ersten Worten hatte es Wachter durchzuckt, er wollte herumfahren, aufspringen, aber dann siegte der Verstand, er blieb auf den Knien und schob nur seine Schultern hoch. Jana, das ist Janaschka… ihre Stimme ist es, keine zweite hat eine solche Stimme, eine solche Betonung der deutschen Sprache. Sie ist es, sie ist es… Jana ist nach Konigsberg gekommen.

Langsam, was ihm viel Muhe und Selbstbeherrschung kostete, drehte auch er sich um, und als er Jana anblickte, mu?te er sich zusammenrei?en, um nicht die Arme auszubreiten.

Mein Tochterchen, dachte er. O Gott, mein Tochterchen. Wir sind wieder zusammen! Wie geht es dir? Wo bist du untergeschlupft? Woher wei?t du, da? ich im Schlo? bin?

Er erhob sich von den Knien, klopfte den Staub von seinen Hosenbeinen und legte beide Hande flach auf sein Herz.

Tochterchen, ich gru?e dich.

Dr. Runnefeldt hatte unterdessen den Kopf geschuttelt.»Ein Unfall? Hier bei uns? Nicht da? ich wu?te. Haben Sie eine Ahnung davon, Dr. Findling?«

«Nein. Hier ist keiner verletzt. Vielleicht unten bei den Wagen?«

«Das wu?ten wir. «Dr. Runnefeldt kam einen Schritt auf Jana zu. Bedauern lag in seiner Stimme.»Es kann sich nur um einen dummen, aber gemeinen Scherz handeln, Schwester. «Erstaunen stieg plotzlich in seine Augen. Mit schrag gelegtem Kopf musterte er Jana genauer.»Kennen wir uns nicht?«»Nein. Bestimmt nicht.«

«Wir sind uns noch nicht begegnet? Ich habe mich bisher noch nie geirrt. Und ein gutes Personengedachtnis habe ich. Irgendwoher kenne ich Sie…«

«Vielleicht von der Front? Ich habe im Hauptverbandsplatz gearbeitet. Vor Leningrad. «Sie sagte es so sicher und bestimmt, da? keine Zweifel aufkommen konnten.»Waren Sie an der Front?«

«Nein. Zum ersten Mal irre ich mich. Verzeihen Sie, Schwester. Mein Name ist Runnefeldt.«

«Findling — «schlo? sich Dr. Findling mit einer kleinen Verbeugung an.»Wie gesagt: Hier gibt es keinen Unfall.«

«Dann ist es wirklich ein ubler Scherz. «Sie warf noch einen schnellen Blick auf Wachter und druckte ihre Einsatztasche an sich.»Wie komme ich jetzt wieder hinaus? In diesem Schlo? kann man sich ja verlaufen.«

«Kein Problem, Schwester. «Wachter trat vor und sah mehr Dr. Runnefeldt als Jana an.»Ich werde Ihnen den Weg zeigen. Kommen Sie mit.«

«Danke. Verzeihen Sie mein Eindringen, aber ich kann ja nichts dafur. «Sie drehte sich um und ging aus dem Saal, Wachter nach, der ihr vorauslief. Auf dem Flur waren sie allein. Mit schnellem Griff fa?te Wachter ihre Hand, zog sie in ein Zimmer mit Bildern von Liebermann und ModersohnBecker und ri? sie mit einem Aufschluchzen in seine Arme.»Tochterchen…«stammelte er.»O mein Tochterchen. Nun sind alle Sorgen fort. Wo lebst du? Wo hast du dich versteckt? Hast du Hunger? Brauchst du Geld? Eine neue Tracht hast du ja an. Wo hast du sie gestohlen? O Tochterchen, wie glucklich bin ich…«

Eine Weile standen sie so engumschlungen im LiebermannZimmer, sprachen nach den ersten gestammelten Worten keinen Ton mehr, sondern gaben sich ganz dem Gluck des Wiedersehens hin. Nur ein paar Tage waren sie getrennt gewesen, aber fur Michael Wachter war es in Puschkin ein Abschied geworden, eine unbekannte Zukunft lag vor ihm, die kein Wiedersehen einschlo?. Nun lagen seine Arme um Jana Petrowna, hier war sie, in Konigsberg, im Schlo?, so etwas wie ein Wunder war's, das uber einen hereinbricht und einen stumm werden

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