«Es ist trotzdem eine Sauerei!«schrie Dr. Wollters in hellster Emporung.

«Auf dem Transport ist nichts verlorengegangen, das konnen wir alle bezeugen. Wenn von dem Bernsteinzimmer etwas fehlt, mu? es in Puschkin zuruckgeblieben sein. Wie ist das moglich? Wo stehen diese Kisten jetzt? Oder deutlicher: Wer hat sie in diesen Tagen geklaut?«

«Wenn hier Kisten verschwunden sind, werden wir das nie erfahren, Herr Kollege. «Dr. Runnefeldt setzte sich auf den Rand einer an der Wand stehenden, aufgestemmten Kiste.

«Wir konnen nur registrieren, was fehlt. Und nach dem Endsieg werden wir dann anhand der Fotos alles Fehlende wieder erganzen und restaurieren. Wir verfugen uber enorme Kunstler der Bernsteinschnitzerei. Das ware also kein Problem… was mich bis zur Galle argert, ist die lautlose Raffinesse, mit der man uns aufs Kreuz gelegt hat!«

«Das waren keine einfachen Landser«, sagte Wachter ganz ruhig.»Sie verfugen gar nicht uber Moglichkeiten, so etwas verschwinden zu lassen.«

«Etwas ganz Wichtiges ist anscheinend vergessen worden, meine Herren«, warf Dr. Findling ein.»Von den drei wertvollen, unersetzlichen, geschnitzten und mit Blattgold belegten Turen des Bernsteinzimmers fehlen zwei! Nur eine ist mitgekommen. Warum?«

«Schei?e!«Dr. Wollters ballte die Fauste.»Wenn man nicht selbst jede Schraube uberwacht — «

«Zwei riesige Turen kann man nicht ubersehen«, stellte der Museumsdirektor malizios fest.»Beim Auspacken der einzelnen Teile habe ich das gleich bemerkt. Wir mussen sofort in Puschkin anrufen.«

«Das wird kaum uber eine Privatleitung gelingen. «Dr. Runnefeldt schuttelte den Kopf.»Puschkin ist Frontgebiet, ist sogar nach dem Fuhrerbefehl der Belagerung von Leningrad die vordere Hauptkampflinie. Da gibt es nur militarische Sprechverbindungen. Wenn es uberhaupt moglich ist, in dieses Telefonnetz hineinzukommen, dann mu?ten wir mit dem Nachschubfuhrer der 18. Armee sprechen. Der ist jetzt der einzige, der die zwei Turen — und vielleicht die Wandfriese, falls noch vorhanden — auf den Weg nach Konigsberg bringen kann.«

«Dann versuchen Sie das, meine Herren!«Dr. Findling machte eine weite Handbewegung durch den noch leeren Saal.»Sollen wir in Zukunft alle Lucken mit ausstellen?«

«Der Gauleiter mu? helfen«, sagte Dr. Runnefeldt gepre?t.

«Ja, der Gauleiter. «Wachter nickte hoffnungsvoll.»Jetzt kann er zeigen, ob er wirklich so machtig ist, wie man sagt.«»Ist denn keiner hier, der diesen Kerl zur Ordnung ruft?«schrie Wollters emport.»Jetzt kritisiert er auch noch den Gauleiter! Mann, das alles ist nur Ihre Schuld! Sie hatten den Auftrag, das Bernsteinzimmer zu uberwachen, seit 225 Jahren, wie Sie immer betonen! Sie hatten das Fehlen bemerken mussen! Wozu sind Sie sonst da?!«

Wie immer, wenn sich hohe Herren in die Enge getrieben fuhlen, schuld haben immer die Untergebenen. Auf eine elegante und fast immer sichere Art schieben sie den anderen, den Wehrlosen, die Schuld zu. Was die Beschuldigten auch beteuern, es hat kein Gewicht. Bevor der eigene Kopf rollt, mussen erst andere den ihrigen hinhalten. Das Opferlamm wird nie aussterben. Aber Michael Wachter war kein solches Opfertier. Mit einem Satz brachte er den Rittmeister von seinem hohen Ro? herunter.

«Wie konnte ich das?«sagte Wachter ohne Erregung und hob dabei bedauernd die Schultern.»Sie haben mich wahrend des Abbaus genau zehnmal aus dem Bernsteinzimmer hinausgeworfen, Herr Rittmeister. Ich konnte meiner Aufgabe ja gar nicht mehr nachgehen — «

«Aha!«bemerkte Dr. Findling nur. Mehr nicht, aber es genugte, um Wollters erneut explodieren zu lassen. Er streckte den Korper, richtete sich auf den Stiefelspitzen auf und schleuderte einen vernichtenden Blick auf Dr. Findling.

«Ihre Anmerkung war vollig uberflussig!«brullte er.»Ich ubernehme die Verantwortung fur alles, was in Puschkin geschehen ist! Genugt das?!«

«Im Prinzip ja. «Dr. Findling schuttelte den Kopf, was eigentlich dem Ja widersprach, es sogar, genaugenommen, aufhob.»Aber davon habe ich noch nicht meine Turen und die Wandfriese wieder…«

Unterdessen war es auf der Treppe zu einer verhangnisvollen Begegnung gekommen: die herabsteigende Jana Petrowna stie? auf den hinaufeilenden Gauleiter Koch. Sie kannte ihn nicht, aber die goldbetre?te Uniform und die Personenbeschreibung, die man ihr von Koch gegeben hatte, pa?ten genau: mittelgro?er Mann, stammig, Augen, die alles abschatzend musterten mit einem kalten Blick, uber der Oberlippe ein kurzgehaltener, kleiner Schnurrbart, eine Nase mit breiten Nasenflugeln, eine Uniform, die vor allem dadurch auffiel, da? sie besonders breite, ausladende Breeches besa?, die an den Oberschenkeln wie Flugel aussahen, eine uberdimensionale Reithose also, die der kleinen Gestalt mehr Gewicht verlieh. Er mu? es sein, dachte Jana Petrowna blitzartig. Kein anderer konnte dieser Beschreibung so entsprechen.

Wie alle korperlich etwas zu kurz Geratenen war auch Koch immer und uberall bestrebt, dieses Manko durch Machtfulle, Forschheit, einen barschen Befehlston und eine unertragliche Rechthaberei auszugleichen.

Gauleiter Erich Koch verlor und kapitulierte nie. Seine entsetzlichen, gnadenlosen, vernichtenden Mittel heiligten sein ubersteigertes Selbstbewu?tsein und schmeichelten seinem schon paranoischen Drang, immer der Gro?te, der Unangreifbare, der Rechthabende zu sein. In seiner Nahe fror man nicht… man hatte einfach nackte Angst — und das war fur Koch der Gipfel seines Lebens.

Jana und Koch blieben ruckartig auf den Treppenstufen stehen und sahen sich an. Der Gauleiter, zu allem Uberflu? noch zwei Stufen tiefer als Jana und damit zusatzlich benachteiligt, denn es ist immer besser, auf etwas hinabzusehen als hinaufzublicken, glich diese Situation auf gewohnte Art aus.

«Ja, wer ist denn das?!«rief Koch. Ehrliche Begeisterung lag in seiner Stimme. Mit unverschamten Blicken musterte er Jana Petrowna, als stunde sie nackt vor ihm, tastete hren Korper ab, von den schlanken Beinen bis zu den schwarzen Locken, glitten dann zuruck zu ihren Brusten, die auch in der Schwesterntracht auffielen, und blieben an ihnen hangen.»Welch ein wunderschones Schwesterchen kommt da ins Schlo?! Wer ist hier krank? Wer braucht Ihre Hilfe? Was den Patienten auch qualt… jetzt mu? er eine neue Krankheit bekommen haben: Blutsausen und Herzklopfen!«

«Es war ein Fehlalarm, Herr Gauleiter. Niemand ist hier krank.«»Sie kennen mich?«fragte Koch kokett, obwohl er sicher war, da? ihn in Ostpreu?en jeder kannte. Das konnten andere Gauleiter nicht vorweisen, weder Mutschmann von Sachsen, weder Grohe von Koln-Aachen, noch Wagner von WestfalenSud. Sie waren bekannt, aber die zweifelhafte Popularitat von Koch erreichten sie nie.

«Wer kennt Sie nicht, Herr Gauleiter?«antwortete Jana Petrowna. Sie kam nicht naher, blieb auf ihrer Treppenstufe stehen und blickte auf Koch hinunter. Aber auch der stieg die beiden Stufen nicht hinauf… die jetzige Perspektive war ihm au?erst angenehm.

«Auch wenn es, wie Sie sagen, ein Fehlalarm war, er hat etwas Gutes: Ich bin Ihnen begegnet. Sonst ware das vielleicht nie geschehen… und das ware ein Verlust gewesen. Wie hei?en Sie, Schwesterchen?«

«Jana Rogowskij, Herr Gauleiter.«

«Das klingt ganz ostpreu?isch.«

«Ich wurde in Lyck geboren.«

«Das ist doch in Masuren?«

«Ja, Herr Gauleiter.«

«Jana — ein masurisches Madchen zu sein war immer eine Verpflichtung und ein Versprechen…«

«Wie soll ich das verstehen, Herr Gauleiter?«

«Ein masurisches Madchen ist hei?blutig, unersattlich in der Liebe, Himmel und Holle in einer Person. Bist du hei?blutig, Jana?«

Wie selbstverstandlich duzte er sie sofort nach den ersten konventionellen Satzen, und wieder tastete er ihren Korper langsam mit seinen unverschamten Blicken ab. Dabei lachelte er… ermunternd sollte das sein, aber Jana war nur um so mehr auf der Hut. Was sollte sie antworten? Wie wurden andere Frauen darauf reagieren? Nur lacheln — das war eine Aufforderung. Den Kopf schutteln — das wurde ihn nur zu neuen Fragen solcher Art provozieren. Bei jedem anderen Mann ware es einfach gewesen, ihn ohne Antwort stehen zu lassen und wegzugehen… konnte man das aber mit einem Gauleiter tun? Mit einem Tyrannen wie Erich Koch? Sie entschlo? sich, auszuweichen.

«Ich wei? es nicht, Herr Gauleiter«, sagte sie und spielte perfekt die Verschamte. Koch gefiel diese Geziertheit ungemein. Sein tastender Blick wurde fordernd, Jana spurte ihn auf ihrem Korper, als seien es Hande, die uber ihre Haut strichen.

«Es hat dir noch keiner gesagt?«

Вы читаете Das Bernsteinzimmer
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×