«Ja. Eben mit dem Zug angekommen.«

«Woher kommste denn?«

«Von der Front. Von Leningrad.«

«Das dreht ja 'n Hund in der Pfanne rum! Leningrad? Von ganz vorn?«

«Ja. Vom Hauptverbandsplatz.«

«Und was sollste dann hier bei uns?«

«Ich war krank. Typhus. Ich soll mich hier etwas erholen… und naturlich arbeiten. Sie haben mir einen Marschbefehl gegeben und mich losgeschickt.«

«Ja. So ist das!«Der Sanitater fa?te Jana unter und schob sie an seiner Seite zu einem Zimmer.»Mich hat's in Polen e-wischt. Schu? in die Hacke, und als ich hochgezuckt bin, noch'n Schu? in die linke Schulter. Schlusselbein zertrummert. Seitdem schlurfe ich hier herum. So, das ist mein Wachraum. Setz dich auf das Sofa, Madchen. Wie ist es mit nem Bier? Erzahl mal, was da drau?en los ist. Bis acht Uhr haben wir Zeit, vorher ist keiner in der Verwaltung, und Oberschwester Frieda kriegste erst um halb neun. Die Frieda Wilhelmi ist namlich so was wie ne Kommandeuse. Da stehn sogar die Arzte stramm. Was die sagt, stimmt und wird gemacht. Der kann keiner! Der erste Rat von mir: Stell dich mit der Wilhelmi gut. Aber das wird schwer sein… du bist zu hubsch, Madchen. Da sieht sie wieder was kommen. Alle Arzte sind wie Hunde, die eine laufige Hundin riechen, sagt sie.«

«So schlimm ist es hier?«

«Was? Hat dich noch kein Arzt angepackt?«

«An der Front hatten wir andere Probleme. Da standen wir zwischen Haufen zerfetzter Leiber… Wie hei?en Sie?«

«Karl Bludecker… Damlicher Name, was? Aber man kann sich ja seine Eltern nicht aussuchen. Und du?«

«Ich hei?e Jana Rogowskij.«

«Echter ostpreu?ischer Adel, was?«Bludecker grinste, holte eine Flasche Bier, aber Jana winkte ab.

«Danke, Karl. Ich kann doch nicht mit einer Bierfahne bei Frieda Wilhelmi vorsprechen.«

«Die Frieda sauft auch. Heimlich. Das wei? ich. Also dann nicht. «Er hob die Flasche hoch und prostete ihr zu.»Es lebe die Schiffahrt!«

Er nahm einen langen Schluck, setzte dann die Flasche ab und stie? diskret auf. Jana sa? auf dem Sofa und hatte die Hande in den Scho? gelegt.

«Warum Schiffahrt?«fragte sie.

«Das kennste nicht?«Bludeker klopfte gegen die Bierflasche.»Nach einem halben Liter Pissolin kannste ein Liter schiffen…«

«Oder strullen…«sagte sie.

«Auch. Das ist nur vornehmer ausgedruckt. Madchen, du bist in Ordnung!«

Um acht Uhr fuhrte Bludecker sie zum Zimmer der Oberschwester. Frieda Wilhelmi war noch nicht da, sie setzte sich artig auf einen Stuhl in der Ecke und wartete.

Punktlich um halb neun ging die Tur auf und ein beweglicher, massiger Turm rollte ins Zimmer. Der Turm war mit einer Schwesterntracht behangt und trug oben einen Kopf mit einem bebrillten Gesicht. Hellblaue Augen musterten kurz die sofort aufspringende Jana, dann rollte der Turm zum Schreibtisch und fuhr Arme aus, die sich auf die Tischplatte stutzten. Schon dieser erste Anblick genugte, um in Jana eine alarmierende Angst aufkommen zu lassen. Das war eine Frau, gegen die niemand ankam, die nichts erschuttern konnte, die gewohnt war, zu herrschen, die nichts anderes erwartete als Unterwurfigkeit.

«Was ist?!«fragte sie kurz.

Jana zuckte zusammen und starrte den Fleischberg an. Welch eine Stimme, dachte sie uberrascht. Eine angenehme, tiefe, klangvolle Stimme mit einem leicht singenden Ton. Vertrauen konnte man zu ihr haben, man mu?te nur die Augen schlie?en…

«Welche Station?«

«Noch gar keine, Oberschwester.«

«Wie bitte?«

«Ich soll mich hier melden. «Jana holte das selbstausgefullte Formular aus der Wachstuchtasche und hielt es Frieda Wil-helmi hin. Mit gro?ter Anstrengung versuchte sie, das leichte Zittern ihrer Hand zu unterdrucken. Jetzt entscheidet sich alles, dachte sie. Jetzt kann nur noch Gott helfen… falls er gegen Frieda eine Chance hat.»Ich komme von der Front. Von Leningrad.«

«Von der Front!«Frieda Wilhelmi warf wieder einen Blick uber Jana, ein Blick, der sie vollkommen umfa?te und wie ein Dorn in sie einzudringen schien.»Leningrad!«Frieda nahm das Formular an sich, uberflog es und warf es dann auf ihren Schreibtisch.»Papiere…«

«Ich habe nur diese Einsatzbescheinigung.«

«Sie mussen doch Papiere haben. Ihren DRK-Ausweis, ein Uberstellungsschreiben…«

«Ich habe nichts, Oberschwester. In den Hauptverbandsplatz schlugen drei schwere Granaten ein. Eine mitten in unsere Wohnbaracke. Alles wurde vernichtet und verbrannte. Das war eine Stunde, bevor ich abfahren mu?te. Nur meine Tasche ist ubriggeblieben, weil ich sie bei mir hatte.«

Frieda Wilhelmi nahm das Formular vom Tisch, las es noch einmal und zuckte dann mit den dickfleischigen Schultern. Jana atmete innerlich auf. Ein Schulterzucken ist eine halbe

Kapitulation.

«Man hat Sie also uns zugewiesen?«sagte der Turm und warf das Papier wieder auf den Tisch zuruck.»Waren Sie schon bei der Verwaltung?«

«Nein. Ich wollte mich erst bei Ihnen melden, Oberschwester. «Frieda nickte, fand nach dieser Antwort das Madchen sympathisch und setzte sich auf einen breiten Stuhl, der unter ihrer Korpermasse verschwand.

«Da mussen Sie gleich hin, Schwester Jana. Sonst gibt's kein Geld. «Wieder dieser forschende, in die Tiefe dringende Blick.»Wo steck ich Sie hin? In einem Hauptverbandsplatz waren Sie? Da kommt nur die Chirurgie in Frage. Davon haben Sie ja Ahnung. Wir sind hier das gro?te Heimlazarett. Ich bringe Sie nachher zum Chef, Dr. Pankratz. Stabsarzt Dr. Pankratz. Er jammert immer wieder nach einer guten Fachschwester. Gehen Sie jetzt zur Verwaltung und kommen Sie dann zu mir zuruck.«

«Jawohl, Oberschwester.«

Frieda Wilhelm! blickte Jana nach, als sie das Zimmer verlie?. Ein hubsches Madchen, dachte sie. Ein gut erzogenes Madchen. Ein offener Blick und noch nicht verdorben. Das sieht man sofort. Man wird auf sie aufpassen mussen, da? sie nicht unter die Rader kommt. Ich werde mich selbst um sie kummern. Jana Rogowskij. Geboren in Lyck… das liegt in Masuren, dicht an der russischen Grenze. Schlag den Arzten und anderen auf die Pfoten, wenn sie Griffe kloppen wollen. Ich pa? auf dich auf, Jana.

In der Verwaltung, Abteilung Personalburo, sa? ein rothaariger, jungerer Mann und hatte neben dem Tisch sein rechtes Bein lang ausgestreckt. Erst beim zweiten Blick sah Jana, da? es eine Prothese war. Der Mann nickte und schob sich etwas auf dem Stuhl zurecht.

«Frankreich«, sagte er.»Sturm auf die Maginotlinie, Granatsplitter. Hat glatt den Knochen oberhalb des Knies durchschlagen. «Er streckte die Hand aus und nahm das Formular ab.»Sie wollen bei uns arbeiten?«

«Ich bin hierher abkommandiert. «Jana Petrowna war jetzt sicherer geworden.»Oberschwester Frieda schickt mich zu Ihnen. Ich soll auf der Chirurgie anfangen. Es ist alles geklart, auch wegen der fehlenden Papiere. Ich komme von der Leningrad-Front.«

«Aha!«Der rothaarige Mann musterte Jana, als wollte er ein Kalb kaufen.»Wenn Frieda das sagt, ist ja alles in Ordnung. «Er wedelte mit dem Formular durch die Luft.»Das ist alles, was Sie haben?«

«Genugt das nicht?«

«Erraten. Aber wenn Frieda damit einverstanden ist… gut, ich trage Sie in die Personalliste ein. «Der Rothaarige steckte das Formular in eine blaue Mappe.»Aber sorgen Sie dafur, da? die fehlenden Papiere wieder beschafft werden.«

«So schnell wie moglich. «Sie wartete vor dem Tisch, aber die Einstellung schien damit beendet zu sein.»Wie ist Oberschwester Frieda?«fragte sie.

«Kennen Sie den Drachen, den Siegfried erschlug? Leider konnen wir Frieda nicht erschlagen… es meldet sich kein Siegfried.«

«So schlimm?«

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