«Was ist, Fritz?«fragte sie mit leiser Stimme.»Du siehst nicht aus wie ein glucklicher Mensch.«

«Ich bin ein Nichts… das hat man mir eben vorgefuhrt. Ich habe nichts mehr zu tun als neben dir im Schlitten zu sitzen. Furst Netjajew ubernimmt den Transport. Ich werde behandelt wie ein Kulak.«

«Noch konnen wir zuruck, Fritz. Nur ein paar Meter ruckwarts, und wir sind wieder in Preu?en. «Sie umklammerte plotzlich seine Hand und zog sie an ihre Lippen.»Fritz, la? uns umkehren. Es ist die letzte Moglichkeit.«

«Und das Bernsteinzimmer?«

«Es ist in Ru?land! Du bist frei…«

«Nicht von meinem Eid vor dem Konig. Ein Eid fur alle Nachkommen…«

«Willst du dein Leben opfern fur das Bernsteinzimmer?«

«Ja!«»Und mein Leben? Und das Leben deiner Kinder?«

«Wir alle gehoren zum Bernsteinzimmer, heute, morgen, solange die Welt besteht, hat der Konig gesagt. Ich habe es geschworen, Delchen… und wenn ich mit der Zunge die Bernsteinwande saubern mu?te, ich tate es, denn ich bin bei ihm.«

Zum erstenmal stand Wachter dem Zaren so nah gegenuber, von Angesicht zu Angesicht, da? er die Warze auf dessen Backe sehen konnte wie auch das plotzlich aufflammende Zucken der Gesichtsmuskeln, die Veranderungen der Augen, wahrend der Zar sprach, die Ungeduld in seinen Fingern und das Atmen des breiten Brustkorbes in dieser riesenhaften, von Kraft strotzenden Gestalt. Ein wenig bleich sah Peter I. aus. In Amsterdam hatte ihn eine schwere Grippe mit Nieren- und Blasenschmerzen der heftigsten Art aufs Lager geworfen, dann war er in Bad Pyrmont zu einer Kur gewesen, aber die Nachwirkungen der Krankheit hatte sein massiger Korper noch nicht uberwunden. Hinzu kam die Sorge um seinen Sohn, den Zarewitsch Alexej Petrowitsch, der aus Angst vor seinem herrischen Vater nach Osterreich gefluchtet war und in Wien versteckt lebte.

Alexej. Wenn der Zar an ihn dachte, kam Trauer uber ihn oder schaumende Wut, die jedesmal schreckliche Anfalle ausloste. Schwach war der Zarewitsch, ein Saufer und Hurer zudem, der seine Frau Charlotte von Wolfenbuttel nur zwangsweise, um einen Thronerben zu zeugen, im Schlafgemach besucht hatte, sonst aber mit Matressen sich vergnugte, vor allem mit Weibern niedrigen Standes, mit leibeigenen Magden, die sich glucklich schatzten, dem durren, schwarmerisch veranlagten Zarewitsch zu Willen zu sein. Als Charlotte bei der Geburt des Thronerben Peter Alexejewitsch nach neuntagigem Leiden am 22. Oktober 1715 starb, verlie?en den Zarewitsch alle Hemmungen. Er soff wie ein Irrer, ruinierte seine Gesundheit und wurde zu einem Thronfolger, dem kein Thron mehr gebuhrte. Die Briefe seines Vaters beantwortete er mit sklavischer Untertanigkeit, aber als Peter I. ein Ultimatum verfa?te, das ihm alle Ausschweifungen verbot im Hinblick auf seine spatere Zarenwurde, fluchtete er nach Wien. Von dort trafen laufend bose Nachrichten ein… von einer Verschworung war die Rede, sogar von einer Ermordung des Zaren, die der Sohn offen begru?te. Er lebte zusammen mit einem Madchen, Afrosinja, einer drallen, fast ha?lichen Bauernmagd, aber von einer solchen Lusternheit, da? sich der Zarewitsch ein Leben ohne Afrosinja nicht mehr vorstellen konnte.

Das alles hatte sich in das Gesicht des Zaren eingegraben… Wachter erschrak, als er Peter I. gegenuberstand und zu dem Riesen hochblickte.

«Ich habe den Brief Seines Konigs gelesen«, sagte der Zar mit erstaunlich gutiger Stimme.»Nicht nur das Bernsteinkabinett schenkt er mir, sondern auch Ihn! Samt Frau und Kindern. Er soll bis zu seinem Tode das Bernsteinzimmer pflegen, und spater seine Erben von Generation zu Generation. Nun wohl… der Wunsch des Konigs von Preu?en soll erfullt werden. Er bleibe also bei mir, erhalte eine Wohnung im Beamtenhaus und bekomme guten Lohn und freies Logis, einen Karren mit zwei Pferden, einen Schlitten und den Titel eines kaiserlichen Hausmeisters. Ist Er damit zufrieden?«

«Mir schlagt das Herz, Majestat. «Wachter verneigte sich tief.»Moge diese gro?e Gute immer anhalten.«

«Es liegt nur an Ihm. Solange Er das Bernsteinzimmer vorzuglich pflegt, gibt es keinen Grund, ihn das spanische Rohr spuren zu lassen. Er hei?t Friedrich Theodor Wachter?«

«Ja, Majestat.«

«Er und Seine Nachkommen werden immer in Ru?land leben. Einen russischen Namen mu? er haben, keinen preu?ischen. Ich mache Ihn zum Russen, also hei?t er ab sofort Fjodor Fjo-dorowitsch Wachterowskij. Seine Frau hei?t?«

«Adele, Majestat.«

«Adele Iwanowna — Sein Sohn?«

«Julius…«

«Hei?t Julian Fjodorowitsch. Geb Er mir die Hand und schwore Er, ein guter Russe zu sein.«

Zogernd reichte Wachter dem Zaren seine Hand. Zu widersprechen wagte er nicht, konnte nicht sagen, da? er ein Preu?e war und es bleiben wurde. Er sah den spanischen Stock, die beruchtigte Dubina, in der Zimmerecke stehen und hatte kein Verlangen, sie auf seinem Rucken oder uber seinem Kopf zu spuren. Er zuckte heftig zusammen, als der Zar ihm die Hand druckte, so fest, da? er einen Augenblick das Gefuhl hatte, man habe ihm alle Finger zerbrochen. Der Zar beobachtete Wachters Gesicht, erkannte die beherrschte Miene und war zufrieden.

«Schwor Er mir unbedingte Treue, Fjodor Fjodorowitsch.«

«Ich schwore es, Majestat, mit meinem Leben.«

«Jederzeit kann Er zu mir kommen, wenn es notig ist. Und wer Ihn hindern will, dem sage Er: Der Zar hat es befohlen. Er hat immer freien Zugang.«

Damit schien das Gesprach beendet. Aber Wachter, sich der Gunst der Stunde und des Zaren bewu?t, verlie? nicht das Zimmer.

«Majestat, ist eine Frage erlaubt?«sagte er. Peter I. sah erstaunt auf ihn hinab.

«Was will Er fragen?«

«Wo soll das Bernsteinzimmer aufgestellt werden?«

«Hier, in meinem Winterpalais. Es wird ein Saal dafur geraumt werden. Ich brauche die Ma?e, die Hohe…«

«Und ich brauche Spezialisten, Majestat. Fachleute, die mit Bernstein umgehen konnen, die Beschadigungen ausbessern, die das Zusammenfugen der Wandtafeln uberwachen, und dann noch Handwerker, vor allem Tischler, fur die tragende Zwischenwand aus Holz.«

«Bekommt Er alles. «Der Zar lachelte breit.»Fordere Er nur die Leute beim Haushofmeister an, wann Er sie braucht. «Zufrieden verlie? Wachter den Zaren und kehrte in das Beamtenhaus zuruck, wo die Verwaltung des Winterpalais bereits vier Zimmer angewiesen hatte. Langsam ging Wachter zu dem Gebaudeflugel zuruck, in dem nun sein Leben und das Leben seiner Familie eine Heimat finden sollte. Der erste Eindruck des Winterpalais war enttauschend. Ein zweistockiger Holzbau war's mit zwei Flugeln fur Hofstaat und Beamte. Kein Prunkbau also, der den Namen Palais verdiente, und dessen Fassade sich von den anderen Villen an der Uferstra?e der sudlichen Newa nur dadurch hervorhob, da? uber dem Einfahrtstor die Krone der kaiserlichen Marine angebracht war. Alle Hauser in der Umgebung des Zaren an der Newa waren dagegen wirkliche Palaste… der Palast des Generaladmirals Apraxin, die Hauser von Justizminister Jaguschinskij, die Villa von V-zeadmiral Cruys… sie alle aber waren Hutten gegen den Palast, den sich Furst Menschikow hatte bauen lassen. Nach dem Sieg von Poltawa gegen die Schweden hatte Peter seinem Gunstling die gro?te Insel im Newa-Delta, die Wassi-lewskij-Insel, geschenkt, und auf ihr, am Newa-Kai, war nach den Entwurfen des deutschen Architekten Friedrich Schadel ein dreistockiger Palast ganz aus massivem Stein entstanden, mit einem Dach aus weithin leuchtenden, rot lackierten Eisenplatten und einer so riesigen Haupthalle, da? kunftig die gro?en Feste und Balle von Petersburg nur mehr in ihr stattfinden konnten. Der Menschikow-Palast blieb bis zu Peters Tod das gro?te Privathaus der immer glanzender und schoner werdenden Stadt.

Fur Peter war dieser Prunk seiner Umgebung nur nutzlich, wenn er Empfange gab. In seinem» Winterpalais «konnte er das kaum… um die Symmetrie der Uferstra?e nicht zu unterbrechen, hatte er seinen Holzbau den anderen Hausern ai-gleichen lassen, was bedeutete, da? auf allen Stockwerken gro?e, hohe Raume entstanden waren, die den Zaren storten. Er, der Zwei-Meter-Riese, fuhlte sich nur wohl in niedrigen Raumen, wie er sie in Holland bei seiner Tatigkeit als Zimmermann der Schiffswerften kennengelernt hatte. Er lie? also in allen Zimmern, die er bewohnte, eine niedrigere Zwischendecke einziehen… hier lagen in dem Hohlraum zwischen der echten und der falschen Decke oft seine Spitzel auf den Holzdielen und belauschten die Gesprache der Besucher, die in zwei Vorzimmern auf eine Audienz beim Zaren warteten. Auf diese Art erfuhr Peter I. so manche Wahrheit oder

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