hatten mit einem Male sehen gelernt. Und wir sahen, da? nichts von ihrer Welt ubrig blieb. Wir waren plotzlich auf furchtbare Weise allein; – und wir mu?ten allein damit fertig werden.
Bevor wir zu Kemmerich aufbrechen, packen wir seine Sachen ein; er wird sie unterwegs gut brauchen konnen. Im Feldlazarett ist gro?er Betrieb; es riecht wie immer nach Karbol, Eiter und Schwei?. Man ist aus den Baracken manches gewohnt, aber hier kann einem doch flau werden. Wir fragen uns nach Kemmerich durch; er liegt in einem Saal und empfangt uns mit einem schwachen Ausdruck von Freude und hilfloser Aufregung. Wahrend er bewu?tlos war, hat man ihm seine Uhr gestohlen. Muller schuttelt den Kopf:»Ich habe dir ja immer gesagt, da? man eine so gute Uhr nicht mitnimmt.« Muller ist etwas tapsig und rechthaberisch. Sonst wurde er den Mund halten, denn jeder sieht, da? Kemmerich nicht mehr aus diesem Saal herauskommt. Ob er seine Uhr wiederfindet, ist ganz egal, hochstens, da? man sie nach Hause schicken konnte.
»Wie geht’s denn, Franz?« fragt Kropp.
Kemmerich la?t den Kopf sinken. »Es geht ja – ich habe blo? so verfluchte Schmerzen im Fu?.«
Wir sehen auf seine Decke. Sein Bein liegt unter einem Drahtkorb, das Deckbett wolbt sich dick daruber. Ich trete Muller gegen das Schienbein, denn er brachte es fertig, Kemmerich zu sagen, was uns die Sanitater drau?en schon erzahlt haben: da? Kemmerich keinen Fu? mehr hat. Das Bein ist amputiert.
Er sieht schrecklich aus, gelb und fahl, im Gesicht sind schon die fremden Linien, die wir so genau kennen, weil wir sie schon hundertmal gesehen haben. Es sind eigentlich keine Linien, es sind mehr Zeichen. Unter der Haut pulsiert kein Leben mehr; es ist bereits herausgedrangt bis an den Rand des Korpers, von innen arbeitet sich der Tod durch, die Augen beherrscht er schon. Dort liegt unser Kamerad Kemmerich, der mit uns vor kurzem noch Pferdefleisch gebraten und im Trichter gehockt hat; – er ist es noch, und er ist es doch nicht mehr, verwaschen, unbestimmt ist sein Bild geworden, wie eine fotografische Platte, auf der zwei Aufnahmen gemacht worden sind. Selbst seine Stimme klingt wie Asche. Ich denke daran, wie wir damals abfuhren. Seine Mutter, eine gute, dicke Frau, brachte ihn zum Bahnhof. Sie weinte ununterbrochen, ihr Gesicht war davon gedunsen und geschwollen. Kemmerich genierte sich deswegen, denn sie war am wenigsten gefa?t von allen, sie zerflo? formlich in Fett und Wasser. Dabei hatte sie es auf mich abgesehen, immer wieder ergriff sie meinen Arm und flehte mich an, auf Franz drau?en achtzugeben. Er hatte allerdings auch ein Gesicht wie ein Kind und so weiche Knochen, da? er nach vier Wochen Tornistertragen schon Plattfu?e bekam. Aber wie kann man im Felde auf jemand achtgeben!»Du wirst ja nun nach Hause kommen«, sagt Kropp,»auf Urlaub hattest du mindestens noch drei, vier Monate warten mussen.«
Kemmerich nickt. Ich kann seine Hande nicht gut ansehen, sie sind wie Wachs. Unter den Nageln sitzt der Schmutz des Grabens, er sieht blauschwarz aus wie Gift. Mir fallt ein, da? diese Nagel weiterwachsen werden, lange noch, gespenstische Kellergewachse, wenn Kemmerich langst nicht mehr atmet. Ich sehe das Bild vor mir: sie krummen sich zu Korkenziehern und wachsen und wachsen, und mit ihnen die Haare auf dem zerfallenden Schadel, wie Gras auf gutem Boden, genau wie Gras, wie ist das nur moglich -?
Muller buckt sich. »Wir haben deine Sachen mitgebracht, Franz.«
Kemmerich zeigt mit der Hand. »Legt sie unters Bett.« Muller tut es. Kemmerich fangt wieder von der Uhr an. Wie soll man ihn nur beruhigen, ohne ihn mi?trauisch zu machen!
Muller taucht mit einem Paar Fliegerstiefel wieder auf. Es sind herrliche englische Schuhe aus weichem, gelbem Leder, die bis zum Knie reichen und ganz hinauf geschnurt werden, eine begehrte Sache. Muller ist von ihrem Anblick begeistert, er halt ihre Sohlen gegen seine eigenen klobigen Schuhe und fragt:»Willst du denn die Stiefel mitnehmen, Franz?«
Wir denken alle drei das gleiche: selbst wenn er gesund wurde, konnte er nur einen gebrauchen, sie waren fur ihn also wertlos. Aber wie es jetzt steht, ist es ein Jammer, da? sie hierbleiben; – denn die Sanitater werden sie naturlich sofort wegschnappen, wenn er tot ist. Muller wiederholt:»Willst du sie nicht hier lassen?« Kemmerich will nicht. Es sind seine besten Stucke. »Wir konnen sie ja umtauschen«, schlagt Muller wieder vor,»hier drau?en kann man so was brauchen.« Doch Kemmerich ist nicht zu bewegen. Ich trete Muller auf den Fu?; er legt die schonen Stiefel zogernd wieder unter das Bett. Wir reden noch einiges und verabschieden uns dann.
»Mach’s gut, Franz.«
Ich verspreche ihm, morgen wiederzukommen. Muller redet ebenfalls davon; er denkt an die Schnurschuhe und will deshalb auf dem Posten sein.
Kemmerich stohnt. Er hat Fieber. Wir halten drau?en einen Sanitater an und reden ihm zu, Kemmerich eine Spritze zu geben.
Er lehnt ab. »Wenn wir jedem Morphium geben wollten, mu?ten wir Fasser voll haben -«
»Du bedienst wohl nur Offiziere«, sagt Kropp gehassig. Rasch lege ich mich ins Mittel und gebe dem Sanitater zunachst mal eine Zigarette. Er nimmt sie. Dann frage ich:»Darfst du denn uberhaupt eine machen?«
Er ist beleidigt. »Wenn ihr’s nicht glaubt, was fragt ihr mich -«
Ich drucke ihm noch ein paar Zigaretten in die Hand. »Tu uns den Gefallen -«
»Na, schon«, sagt er. Kropp geht mit hinein, er traut ihm nicht und will zusehen. Wir warten drau?en.
Muller fangt wieder von den Stiefeln an. »Sie wurden mir tadellos passen. In diesen Kahnen laufe ich mir Blasen uber Blasen. Glaubst du, da? er durchhalt bis morgen nach dem Dienst? Wenn er nachts abgeht, haben wir die Stiefel gesehen – «
Albert kommt zuruck. »Meint ihr -?« fragt er.
»Erledigt«, sagt Muller abschlie?end.
Wir gehen zu unsern Baracken zuruck. Ich denke an den Brief, den ich morgen schreiben mu? an Kemmerichs Mutter. Mich friert. Ich mochte einen Schnaps trinken. Muller rupft Graser aus und kaut daran. Plotzlich wirft der kleine Kropp seine Zigarette weg, trampelt wild darauf herum, sieht sich um, mit einem aufgelosten und verstorten Gesicht, und stammelt:»Verfluchte Schei?e, diese verfluchte Schei?e.«
Wir gehen weiter, eine lange Zeit. Kropp hat sich beruhigt, wir kennen das, es ist der Frontkoller, jeder hat ihn mal. Muller fragt ihn:»Was hat dir der Kantorek eigentlich geschrieben?«
Er lacht:»Wir waren die eiserne Jugend.« Wir lachen alle drei argerlich. Kropp schimpft; er ist froh, da? er reden kann. – Ja, so denken sie, so denken sie, die hunderttausend Kantoreks! Eiserne Jugend. Jugend! Wir sind alle nicht mehr als zwanzig Jahre. Aber jung? Jugend? Das ist lange her.
Wir sind alte Leute.
2.
Es ist fur mich sonderbar, daran zu denken, da? zu Hause, in einer Schreibtischlade, ein angefangenes Drama »Saul« und ein Sto? Gedichte liegen. Manchen Abend habe ich daruber verbracht, wir haben ja fast alle so etwas Ahnliches gemacht; aber es ist mir so unwirklich geworden, da? ich es mir nicht mehr richtig vorstellen kann. Seit wir hier sind, ist unser fruheres Leben abgeschnitten, ohne da? wir etwas dazu getan haben. Wir versuchen manchmal, einen Uberblick und eine Erklarung dafur zu gewinnen, doch es gelingt uns nicht recht. Gerade fur uns Zwanzigjahrige ist alles besonders unklar, fur Kropp, Muller, Leer, mich, fur uns, die Kantorek als eiserne Jugend bezeichnet. Die alteren Leute sind alle fest mit dem Fruheren verbunden, sie haben Grund, sie haben Frauen, Kinder, Berufe und Interessen, die schon so stark sind, da? der Krieg sie nicht zerrei?en kann. Wir Zwanzigjahrigen aber haben nur unsere Eltern und manche ein Madchen. Das ist nicht viel – denn in unserm Alter ist die Kraft der Eltern am schwachsten, und die Madchen sind noch nicht beherrschend. Au?er diesem gab es ja bei uns nicht viel anderes mehr; etwas Schwarmertum, einige Liebhabereien und die Schule; weiter reichte unser Leben noch nicht. Und davon ist nichts geblieben.
Kantorek wurde sagen, wir hatten gerade an der Schwelle des Daseins gestanden. So ahnlich ist es auch. Wir waren noch nicht eingewurzelt. Der Krieg hat uns weggeschwemmt. Fur die andern, die alteren, ist er eine Unterbrechung, sie konnen uber ihn hinausdenken. Wir aber sind von ihm ergriffen worden und wissen nicht, wie das enden soll. Was wir wissen, ist vorlaufig nur, da? wir auf eine sonderbare und schwermutige Weise verroht sind, obschon wir nicht einmal oft mehr traurig werden.