vorbei, er sieht ihn nicht einmal an.
»Das nachstemal, Franz«, sage ich.
Er hebt sich in den Kissen auf die Ellbogen. »Sie haben mich amputiert.«
Das wei? er also doch jetzt. Ich nicke und antworte:»Sei froh, da? du so weggekommen bist.«
Er schweigt.
Ich rede weiter:»Es konnten auch beide Beine sein, Franz. Wegeler hat den rechten Arm verloren. Das ist viel schlimmer. Du kommst ja auch nach Hause.«
Er sieht mich an. »Meinst du?«
»Naturlich.«
Er wiederholt:»Meinst du?«
»Sicher, Franz. Du mu?t dich nur erst von der Operation erholen.«
Er winkt mir, heranzurucken. Ich beuge mich uber ihn, und er flustert:»Ich glaube es nicht.«
»Rede keinen Quatsch, Franz, in ein paar Tagen wirst du es selbst einsehen. Was ist das schon gro?: ein amputiertes Bein; hier werden ganz andere Sachen wieder zurechtgepflastert.«
Er hebt eine Hand hoch. »Sieh dir das mal an, diese Finger.«
»Das kommt von der Operation. Futtere nur ordentlich, dann wirst du schon aufholen. Habt ihr anstandige Verpflegung?«
Er zeigt auf eine Schussel, die noch halb voll ist. Ich gerate in Erregung. »Franz, du mu?t essen. Essen ist die Hauptsache. Das ist doch ganz gut hier.«
Er wehrt ab. Nach einer Pause sagt er langsam:»Ich wollte mal Oberforster werden.«
»Das kannst du noch immer«, troste ich. »Es gibt jetzt gro?artige Prothesen, du merkst damit gar nicht, da? dir etwas fehlt. Sie werden an die Muskeln angeschlossen. Bei Handprothesen kann man die Finger bewegen und arbeiten, sogar schreiben. Und au?erdem wird da immer noch mehr erfunden werden.«
Er liegt eine Zeitlang still. Dann sagt er:»Du kannst meine Schnurschuhe fur Muller mitnehmen.« Ich nicke und denke nach, was ich ihm Aufmunterndes sagen kann. Seine Lippen sind weggewischt, sein Mund ist gro?er geworden, die Zahne stechen hervor, als waren sie aus Kreide. Das Fleisch zerschmilzt, die Stirn wolbt sich starker, die Backenknochen stehen vor. Das Skelett arbeitet sich durch. Die Augen versinken schon. In ein paar Stunden wird es vorbei sein.
Er ist nicht der erste, den ich so sehe; aber wir sind zusammen aufgewachsen, da ist es doch immer etwas anders. Ich habe die Aufsatze von ihm abgeschrieben. Er trug in der Schule meistens einen braunen Anzug mit Gurtel, der an den Armeln blankgewetzt war. Auch war er der einzige von uns, der die gro?e Riesenwelle am Reck konnte. Das Haar flog ihm wie Seide ins Gesicht, wenn er sie machte. Kantorek war deshalb stolz auf ihn. Aber Zigaretten konnte er nicht vertragen. Seine Haut war sehr wei?, er hatte etwas von einem Madchen.
Ich blicke auf meine Stiefel. Sie sind gro? und klobig, die Hose ist hineingeschoben; wenn man aufsteht, sieht man dick und kraftig in diesen breiten Rohren aus. Aber wenn wir baden gehen und uns ausziehen, haben wir plotzlich wieder schmale Beine und schmale Schultern. Wir sind dann keine Soldaten mehr, sondern beinahe Knaben, man wurde auch nicht glauben, da? wir Tornister schleppen konnen. Es ist ein sonderbarer Augenblick, wenn wir nackt sind; dann sind wir Zivilisten und fuhlen uns auch beinahe so.
Franz Kemmerich sah beim Baden klein und schmal aus wie ein Kind. Da liegt er nun, weshalb nur? Man sollte die ganze Welt an diesem Bette vorbeifuhren und sagen: Das ist Franz Kemmerich, neunzehneinhalb Jahre alt, er will nicht sterben. La?t ihn nicht sterben! Meine Gedanken gehen durcheinander. Diese Luft von Karbol und Brand verschleimt die Lungen, sie ist ein trager Brei, der erstickt.
Es wird dunkel. Kemmerichs Gesicht verbleicht, es hebt sich von den Kissen und ist so bla?, da? es schimmert. Der Mund bewegt sich leise. Ich nahere mich ihm. Er flustert:»Wenn ihr meine Uhr findet, schickt sie nach Hause.« Ich widerspreche nicht. Es hat keinen Zweck mehr. Man kann ihn nicht uberzeugen. Mir ist elend vor Hilflosigkeit. Diese Stirn mit den eingesunkenen Schlafen, dieser Mund, der nur noch Gebi? ist, diese spitze Nase! Und die dicke weinende Frau zu Hause, an die ich schreiben mu?. Wenn ich nur den Brief schon weg hatte. Lazarettgehilfen gehen herum mit Flaschen und Eimern. Einer kommt heran, wirft Kemmerich einen forschenden Blick zu und entfernt sich wieder. Man sieht, da? erwartet, wahrscheinlich braucht er das Bett. Ich rucke nahe an Franz heran und spreche, als konnte ihn das retten:»Vielleicht kommst du in das Erholungsheim am Klosterberg, Franz, zwischen den Villen. Du kannst dann vom Fenster aus uber die Felder sehen bis zu den beiden Baumen am Horizont. Es ist jetzt die schonste Zeit, wenn das Korn reift, abends in der Sonne sehen die Felder dann aus wie Perlmutter. Und die Pappelallee am Klosterbach, in dem wir Stichlinge gefangen haben! Du kannst dir dann wieder ein Aquarium anlegen und Fische zuchten, du kannst ausgehen und brauchst niemand zu fragen, und Klavierspielen kannst du sogar auch, wenn du willst.« Ich beuge mich uber sein Gesicht, das im Schatten liegt. Er atmet noch, leise. Sein Gesicht ist na?, er weint. Da habe ich ja schonen Unsinn angerichtet mit meinem dummen Gerede!
»Aber Franz«- ich umfasse seine Schulter und lege mein Gesicht an seins. »Willst du jetzt schlafen?« Er antwortet nicht. Die Tranen laufen ihm die Backen herunter. Ich mochte sie abwischen, aber mein Taschentuch ist zu schmutzig.
Eine Stunde vergeht. Ich sitze gespannt und beobachte jede seiner Mienen, ob er vielleicht noch etwas sagen mochte. Wenn er doch den Mund auftun und schreien wollte! Aber er weint nur, den Kopf zur Seite gewandt. Er spricht nicht von seiner Mutter und seinen Geschwistern, er sagt nichts, es liegt wohl schon hinter ihm; – er ist jetzt allein mit seinem kleinen neunzehnjahrigen Leben und weint, weil es ihn verla?t.
Dies ist der fassungsloseste und schwerste Abschied, den ich je gesehen habe, obwohl es bei Tiedjen auch schlimm war, der nach seiner Mutter brullte, ein barenstarker Kerl, und der den Arzt mit aufgerissenen Augen angstvoll mit einem Seitengewehr von seinem Bett fernhielt, bis er zusammenklappte.
Plotzlich stohnt Kemmerich und fangt an zu rocheln. Ich springe auf, stolpere hinaus und frage:»Wo ist der Arzt? Wo ist der Arzt?«
Als ich den wei?en Kittel sehe, halte ich ihn fest. »Kommen Sie rasch, Franz Kemmerich stirbt sonst.«
Er macht sich los und fragt einen dabeistehenden Lazarettgehilfen:»Was soll das hei?en?«
Der sagt:»Bett 26, Oberschenkel amputiert.« Er schnauzt:»Wie soll ich davon etwas wissen, ich habe heute funf Beine amputiert«, schiebt mich weg, sagt dem Lazarettgehilfen:»Sehen Sie nach«, und rennt zum Operationssaal.
Ich bebe vor Wut, als ich mit dem Sanitater gehe. Der Mann sieht mich an und sagt:»Eine Operation nach der andern, seit morgens funf Uhr – doll, sage ich dir, heute allein wieder sechzehn Abgange – deiner ist der siebzehnte. Zwanzig werden sicher noch voll -«
Mir wird schwach, ich kann plotzlich nicht mehr. Ich will nicht mehr schimpfen, es ist sinnlos, ich mochte mich fallen lassen und nie wieder aufstehen.
Wir sind am Bette Kemmerichs. Er ist tot. Das Gesicht ist noch na? von den Tranen. Die Augen stehen halb offen, sie sind gelb wie alte Hornknopfe. – Der Sanitater sto?t mich in die Rippen.
»Nimmst du seine Sachen mit?«
Ich nicke.
Er fahrt fort:»Wir mussen ihn gleich wegbringen, wir brauchen das Bett. Drau?en liegen sie schon auf dem Flur.«
Ich nehme die Sachen und knopfe Kemmerich die Erkennungsmarke ab. Der Sanitater fragt nach dem Soldbuch. Es ist nicht da. Ich sage, da? es wohl auf der Schreibstube sein musse, und gehe. Hinter mir zerren sie Franz schon auf eine Zeltbahn.
Vor der Tur fuhle ich wie eine Erlosung das Dunkel und den Wind. Ich atme, so sehr ich es vermag, und spure die Luft warm und weich wie nie in meinem Gesicht. Gedanken an Madchen, an bluhende Wiesen, an wei?e Wolken fliegen mir plotzlich durch den Kopf. Meine Fu?e bewegen sich in den Stiefeln vorwarts, ich gehe schneller, ich laufe. Soldaten kommen an mir voruber, ihre Gesprache erregen mich, ohne da? ich sie verstehe. Die Erde ist von Kraften durchflossen, die durch meine Fu?sohlen in mich uberstromen. Die Nacht knistert elektrisch, die Front gewittert dumpf wie ein Trommelkonzert. Meine Glieder bewegen sich geschmeidig, ich fuhle meine Gelenke stark, ich schnaufe und schnaube. Die Nacht lebt, ich lebe. Ich spure Hunger, einen gro?eren als nur vom Magen. – Muller steht vor der Baracke und erwartet mich. Ich gebe ihm die Schuhe. Wir gehen hinein, und er probiert sie an. Sie passen genau. – Er kramt in seinen Vorraten und bietet mir ein schones Stuck Zervelatwurst an. Dazu gibt es hei?en Tee mit Rum.