Wenn Muller gern Kemmerichs Stiefel haben will, so ist er deshalb nicht weniger teilnahmsvoll als jemand, der vor Schmerz nicht daran zu denken wagte. Er wei? nur zu unterscheiden. Wurden die Stiefel Kemmerich etwas nutzen, dann liefe Muller lieber barfu? uber Stacheldraht, als gro? zu uberlegen, wie er sie bekommt. So aber sind die Stiefel etwas, das gar nichts mit Kemmerichs Zustand zu tun hat, wahrend Muller sie gut verwenden kann. Kemmerich wird sterben, einerlei, wer sie erhalt. Warum soll deshalb Muller nicht dahinter her sein, er hat doch mehr Anrecht darauf als ein Sanitater! Wenn Kemmerich erst tot ist, ist es zu spat. Deshalb pa?t Muller eben jetzt schon auf. Wir haben den Sinn fur andere Zusammenhange verloren, weil sie kunstlich sind. Nur die Tatsachen sind richtig und wichtig fur uns. Und gute Stiefel sind selten.
Fruher war auch das anders. Als wir zum Bezirkskommando gingen, waren wir noch eine Klasse von zwanzig jungen Menschen, die sich, manche zum ersten Male, ubermutig gemeinsam rasieren lie?, bevor sie den Kasernenhof betrat. Wir hatten keine festen Plane fur die Zukunft, Gedanken an Karriere und Beruf waren bei den wenigsten praktisch bereits so bestimmt, da? sie eine Daseinsform bedeuten konnten; – dafur jedoch steckten wir voll Ungewisser Ideen, die dem Leben und auch dem Kriege in unseren Augen einen idealisierten und fast romantischen Charakter verliehen.
Wir wurden zehn Wochen militarisch ausgebildet und in dieser Zeit entscheidender umgestaltet als in zehn Jahren Schulzeit. Wir lernten, da? ein geputzter Knopf wichtiger ist als vier Bande Schopenhauer. Zuerst erstaunt, dann erbittert und schlie?lich gleichgultig erkannten wir, da? nicht der Geist ausschlaggebend zu sein schien, sondern die Wichsburste, nicht der Gedanke, sondern das System, nicht die Freiheit, sondern der Drill. Mit Begeisterung und gutem Willen waren wir Soldaten geworden; aber man tat alles, um uns das auszutreiben. Nach drei Wochen war es uns nicht mehr unfa?lich, da? ein betre?ter Brieftrager mehr Macht uber uns besa? als fruher unsere Eltern, unsere Erzieher und samtliche Kulturkreise von Plato bis Goethe zusammen. Mit unseren jungen, wachen Augen sahen wir, da? der klassische Vaterlandsbegriff unserer Lehrer sich hier vorlaufig realisierte zu einem Aufgeben der Personlichkeit, wie man es dem geringsten Dienstboten nie Zugemutet haben wurde. Gru?en, Strammstehen, Parademarsch, Gewehrprasentieren, Rechtsum, Linksum, Hackenzusammenschlagen, Schimpfereien und tausend Schikanen: wir hatten uns unsere Aufgabe anders gedacht und fanden, da? wir auf das Heldentum wie Zirkuspferde vorbereitet wurden. Aber wir gewohnten uns bald daran. Wir begriffen sogar, da? ein Teil dieser Dinge notwendig, ein anderer aber ebenso uberflussig war. Der Soldat hat dafur eine feine Nase.
Zu dreien und vieren wurde unsere Klasse uber die Korporalschaften verstreut, zusammen mit friesischen Fischern, Bauern, Arbeitern und Handwerkern, mit denen wir uns schnell anfreundeten. Kropp, Muller, Kemmerich und ich kamen zur neunten Korporalschaft, die der Unteroffizier Himmelsto? fuhrte.
Er galt als der scharfste Schinder des Kasernenhofes, und das war sein Stolz. Ein kleiner, untersetzter Kerl, der zwolf Jahre gedient hatte, mit fuchsigem, aufgewirbeltem Schnurrbart, im Zivilberuf Brieftrager. Auf Kropp, Tjaden, Westhus und mich hatte er es besonders abgesehen, weil er unsern stillen Trotz spurte.
Ich habe an einem Morgen vierzehnmal sein Bett gebaut. Immer wieder fand er etwas daran auszusetzen und ri? es herunter. Ich habe in zwanzigstundiger Arbeit – mit Pausen naturlich – ein Paar uralte, steinharte Stiefel so butterweich geschmiert, da? selbst Himmelsto? nichts mehr daran auszusetzen fand; – ich habe auf seinen Befehl mit einer Zahnburste die Korporalschaftsstube sauber geschrubbt; – Kropp und ich haben uns mit einer Handburste und einem Fegeblech an den Auftrag gemacht, den Kasernenhof vom Schnee reinzufegen, und wir hatten durchgehalten bis zum Erfrieren, wenn nicht zufallig ein Leutnant aufgetaucht ware, der uns fortschickte und Himmelsto? machtig anschnauzte. Die Folge war leider nur, da? Himmelsto? um so wutender auf uns wurde. Ich habe vier Wochen hintereinander jeden Sonntag Wache geschoben und ebensolange Stubendienst gemacht; – ich habe in vollem Gepack mit Gewehr auf losem, nassem Sturzacker »Sprung auf, marsch, marsch« und »Hinlegen« geubt, bis ich ein Dreckklumpen war und zusammenbrach; – ich habe vier Stunden spater Himmelsto? mein tadellos gereinigtes Zeug vorgezeigt, allerdings mit blutig geriebenen Handen; – ich habe mit Kropp, Westhus und Tjaden ohne Handschuhe bei scharfem Frost eine Viertelstunde »Stillgestanden« geubt, die blo?en Finger am eisigen Gewehrlauf, lauernd umschlichen von Himmelsto?, der auf die geringste Bewegung wartete, um ein Vergehen festzustellen; – ich bin nachts um zwei Uhr achtmal im Hemd vom obersten Stock der Kaserne heruntergerannt bis auf den Hof, weil meine Unterhose einige Zentimeter uber den Rand des Schemels hinausragte, auf dem jeder seine Sachen aufschichten mu?te. Neben mir lief der Unteroffizier vom Dienst, Himmelsto?, und trat mir auf die Zehen; – ich habe beim Bajonettieren standig mit Himmelsto? fechten mussen, wobei ich ein schweres Eisengestell und er ein handliches Holzgewehr hatte, so da? er mir bequem die Arme braun und blau schlagen konnte; allerdings geriet ich dabei einmal so in Wut, da? ich ihn blindlings uberrannte und ihm einen derartigen Sto? vor den Magen gab, da? er umfiel. Als er sich beschweren wollte, lachte ihn der Kompaniefuhrer aus und sagte, er solle doch aufpassen; er kannte seinen Himmelsto? und schien ihm den Reinfall zu gonnen. – Ich habe mich zu einem perfekten Kletterer auf die Spinde entwickelt; – ich suchte allmahlich auch im Kniebeugen meinen Meister; – wir haben gezittert, wenn wir nur seine Stimme horten, aber kleingekriegt hat uns dieses wildgewordene Postpferd nicht.
Als Kropp und ich im Barackenlager sonntags an einer Stange die Latrineneimer uber den Hof schleppten und Himmelsto?, blitzblank geschniegelt, zum Ausgehen bereit, gerade vorbeikam, sich vor uns hinstellte und fragte, wie uns die Arbeit gefiele, markierten wir trotz allem ein Stolpern und gossen ihm den Eimer uber die Beine. Er tobte, aber das Ma? war voll.
»Das setzt Festung«, schrie er.
Kropp hatte genug. »Vorher aber eine Untersuchung, und da werden wir auspacken«, sagte er.
»Wie reden Sie mit einem Unteroffizier!« brullte Himmelsto?,»sind Sie verruckt geworden? Warten Sie, bis Sie gefragt werden! Was wollen Sie tun?«
»Uber Herrn Unteroffizier auspacken!« sagte Kropp und nahm die Finger an die Hosennaht.
Himmelsto? merkte nun doch, was los war, und schob ohne ein Wort ab. Bevor er verschwand, krakehlte er zwar noch:»Das werde ich euch eintranken«, – aber es war vorbei mit seiner Macht. Er versuchte es noch einmal in den Sturzackern mit »Hinlegen« und »Sprung auf, marsch, marsch«. Wir befolgten zwar jeden Befehl; denn Befehl ist Befehl, er mu? ausgefuhrt werden. Aber wir fuhrten ihn so langsam aus, da? Himmelsto? in Verzweiflung geriet.
Gemutlich gingen wir auf die Knie, dann auf die Arme und so fort; inzwischen hatte er schon wutend ein anderes Kommando gegeben. Bevor wir schwitzten, war er heiser. Er lie? uns dann in Ruhe. Zwar bezeichnete er uns immer noch als Schweinehunde. Aber es lag Achtung darin. Es gab auch viele anstandige Korporale, die vernunftiger waren; die anstandigen waren sogar in der Uberzahl. Aber vor allem wollte jeder seinen guten Posten hier in der Heimat so lange behalten wie moglich, und das konnte er nur, wenn er stramm mit den Rekruten war. Uns ist dabei wohl jeder Kasernenhofschliff zuteil geworden, der moglich war, und oft haben wir vor Wut geheult. Manche von uns sind auch krank dadurch geworden. Wolf ist sogar an Lungenentzundung gestorben. Aber wir waren uns lacherlich vorgekommen, wenn wir klein beigegeben hatten. Wir wurden hart, mi?trauisch, mitleidlos, rachsuchtig, roh – und das war gut; denn diese Eigenschaften fehlten uns gerade. Hatte man uns ohne diese Ausbildungszeit in den Schutzengraben geschickt, dann waren wohl die meisten von uns verruckt geworden. So aber waren wir vorbereitet fur das, was uns erwartete. Wir zerbrachen nicht, wir pa?ten uns an; unsere zwanzig Jahre, die uns manches andere so schwer machten, halfen uns dabei. Das Wichtigste aber war, da? in uns ein festes, praktisches Zusammengehorigkeitsgefuhl erwachte, das sich im Felde dann zum Besten steigerte, was der Krieg hervorbrachte: zur Kameradschaft!
Ich sitze am Bette Kemmerichs. Er verfallt mehr und mehr. Um uns ist viel Radau. Ein Lazarettzug ist angekommen, und die transportfahigen Verwundeten werden ausgesucht. An Kemmerichs Bett geht der Arzt