Erich Maria Remarque
Im Westen nichts Neues
Die Geschichte des ersten Weltkrieges, erzahlt aus der Sicht eines einfachen Soldaten: Der neunzehnjahrige Paul Baumer kommt als ahnungsloser Kriegsfreiwilliger von der Schulbank an die Front – und erlebt statt der erwarteten Kriegsbegeisterung und Abenteuer die ganze Brutalitat des Gemetzels und das sinnlose Sterben seiner Kameraden. In diesem langjahrigen literarischen Bestseller beschwort Remarque die Schrecken des Ersten Weltkrieges mit zupackender Lebendigkeit und einer Sprache, die fur jede Generation wieder neu spricht.
Dieses Buch soll weder eine Anklage
noch ein Bekenntnis sein.
Es soll nur den Versuch machen,
uber eine Generation zu berichten,
die vom Kriege zerstort wurde -
auch wenn sie seinen Granaten entkam.
1.
Wir liegen neun Kilometer hinter der Front. Gestern wurden wir abgelost; jetzt haben wir den Magen voll wei?er Bohnen mit Rindfleisch und sind satt und zufrieden. Sogar fur abends hat jeder noch ein Kochgeschirr voll fassen konnen; dazu gibt es au?erdem doppelte Wurst- und Brotportionen – das schafft. So ein Fall ist schon lange nicht mehr dagewesen: der Kuchenbulle mit seinem roten Tomatenkopf bietet das Essen direkt an; jedem, der vorbeikommt, winkt er mit seinem Loffel zu und fullt ihm einen kraftigen Schlag ein. Er ist ganz verzweifelt, weil er nicht wei?, wie er seine Gulaschkanone leerkriegen soll. Tjaden und Muller haben ein paar Waschschusseln auf getrieben und sie sich bis zum Rand gestrichen voll geben lassen, als Reserve. Tjaden macht das aus Fre?sucht, Muller aus Vorsicht. Wo Tjaden es la?t, ist allen ein Ratsel. Er ist und bleibt ein magerer Hering.
Das Wichtigste aber ist, da? es auch doppelte Rauchportionen gegeben hat. Fur jeden zehn Zigarren, zwanzig Zigaretten und zwei Stuck Kautabak, das ist sehr anstandig. Ich habe meinen Kautabak mit Katczinsky gegen seine Zigaretten getauscht, das macht fur mich vierzig Zigaretten. Damit langt man schon einen Tag.
Dabei steht uns diese ganze Bescherung eigentlich nicht zu. So splendid sind die Preu?en nicht. Wir haben sie nur einem Irrtum zu verdanken.
Vor vierzehn Tagen mu?ten wir nach vorn, um abzulosen. Es war ziemlich ruhig in unserm Abschnitt, und der Furier hatte deshalb fur den Tag unserer Ruckkehr das normale Quantum Lebensmittel erhalten und fur die hundertfunfzig Mann starke Kompanie vorgesorgt. Nun aber gab es gerade am letzten Tage bei uns uberraschend viel Langrohr und dicke Brocken, englische Artillerie, die standig auf unsere Stellung trommelte, so da? wir starke Verluste hatten und nur mit achtzig Mann zuruckkamen. Wir waren nachts eingeruckt und hatten uns gleich hingehauen, um erst einmal anstandig zu schlafen; denn Katczinsky hat recht: es ware alles nicht so schlimm mit dem Krieg, wenn man nur mehr Schlaf haben wurde. Vorne ist es doch nie etwas damit, und vierzehn Tage jedesmal sind eine lange Zeit.
Es war schon Mittag, als die ersten von uns aus den Baracken krochen. Eine halbe Stunde spater hatte jeder sein Kochgeschirr gegriffen, und wir versammelten uns vor der Gulaschmarie, die fettig und nahrhaft roch. An der Spitze naturlich die Hungrigsten: der kleine Albert Kropp, der von uns am klarsten denkt und deshalb erst Gefreiter ist; – Muller V, der noch Schulbucher mit sich herumschleppt und vom Notexamen traumt; im Trommelfeuer buffelt er physikalische Lehrsatze; – Leer, der einen Vollbart tragt und gro?e Vorliebe fur Madchen aus den Offizierspuffs hat; er schwort darauf, da? sie durch Armeebefehl verpflichtet waren, seidene Hemden zu tragen und bei Gasten vom Hauptmann aufwarts vorher zu baden; – und als vierter ich, Paul Baumer. Alle vier neunzehn Jahre alt, alle vier aus derselben Klasse in den Krieg gegangen. Dicht hinter uns unsere Freunde. Tjaden, ein magerer Schlosser, so alt wie wir, der gro?te Fresser der Kompanie. Er setzt sich schlank zum Essen hin und steht dick wie eine schwangere Wanze wieder auf; – Haie Westhus, gleich alt, Torfstecher, der bequem ein Kommi?brot in eine Hand nehmen und fragen kann: Ratet mal, was ich in der Faust habe; – Detering, ein Bauer, der nur an seinen Hof und an seine Frau denkt; – und endlich Stanislaus Katczinsky, das Haupt unserer Gruppe, zah, schlau, gerissen, vierzig Jahre alt, mit einem Gesicht aus Erde, mit blauen Augen, hangenden Schultern und einer wunderbaren Witterung fur dicke Luft, gutes Essen und schone Druckposten. Unsere Gruppe bildete die Spitze der Schlange vor der Gulaschkanone. Wir wurden ungeduldig, denn der ahnungslose Kuchenkarl stand noch immer und wartete. Endlich rief Katczinsky ihm zu:»Nun mach deinen Bouillonkeller schon auf, Heinrich! Man sieht doch, da? die Bohnen gar sind.«
Der schuttelte schlafrig den Kopf:»Erst mu?t ihr alle dasein.«
Tjaden grinste:»Wir sind alle da.«
Der Unteroffizier merkte noch nichts. »Das konnte euch so passen! Wo sind denn die andern?«
»Die werden heute nicht von dir verpflegt! Feldlazarett und Massengrab.«
Der Kuchenbulle war erschlagen, als er die Tatsachen erfuhr. Er wankte.
»Und ich habe fur hundertfunfzig Mann gekocht.«
Kropp stie? ihm in die Rippen. »Dann werden wir endlich mal satt. Los, fang an!«
Plotzlich aber durchfuhr Tjaden eine Erleuchtung. Sein spitzes Mausegesicht fing ordentlich an zu schimmern, die Augen wurden klein vor Schlauheit, die Backen zuckten, und er trat dichter heran:»Menschenskind, dann hast du ja auch fur hundertfunfzig Mann Brot empfangen, was?« Der Unteroffizier nickte verdattert und geistesabwesend, Tjaden packte ihn am Rock. »Und Wurst auch?«
Der Tomatenkopf nickte wieder.
Tjadens Kiefer bebten. »Tabak auch?«
»Ja, alles.«
Tjaden sah sich strahlend um. »Donnerwetter, das nennt man Schwein haben! Das ist dann ja alles fur uns! Da kriegt jeder ja – wartet mal – tatsachlich, genau doppelte Portionen!«
Jetzt aber erwachte die Tomate wieder zum Leben und erklarte:»Das geht nicht.«
Doch nun wurden auch wir munter und schoben uns heran.
»Warum geht das denn nicht, du Mohrrube?« fragte Katczinsky.
»Was fur hundertfunfzig Mann ist, kann doch nicht fur achtzig sein.«
»Das werden wir dir schon zeigen«, knurrte Muller.
»Das Essen meinetwegen, aber Portionen kann ich nur fur achtzig Mann ausgeben«, beharrte die Tomate.
Katczinsky wurde argerlich. »Du mu?t wohl mal abgelost werden, was? Du hast nicht fur achtzig Mann, sondern fur die 2. Kompanie Furage empfangen, fertig. Die gibst du aus! Die 2. Kompanie sind wir.«
Wir ruckten dem Kerl auf den Leib. Keiner konnte ihn gut leiden, er war schon ein paarmal schuld daran gewesen, da? wir im Graben das Essen viel zu spat und kalt bekommen lutten, weil er sich bei etwas Granatfeuer mit seinem Kessel nicht nahe genug herantraute, so da? unsere Essenholer einen viel weiteren Weg machen mu?ten als die der andern Kompanien. Da war Bulke von der ersten ein besserer Bursche. Er war zwar fett wie ein Winterhamster, aber er schleppte, wenn es darauf ankam, die Topfe selbst bis zur vordersten Linie.
Wir waren gerade in der richtigen Stimmung, und es hatte bestimmt Kleinholz gegeben, wenn nicht unser Kompaniefuhrer aufgetaucht ware. Er erkundigte sich nach dem Streitfall und sagte vorlaufig nur:»Ja, wir haben gestern starke Verluste gehabt -«
Dann guckte er in den Kessel. »Die Bohnen scheinen gut zu sein.«
Die Tomate nickte. »Mit Fett und Fleisch gekocht.«
Der Leutnant sah uns an. Er wu?te, was wir dachten. Auch
sonst wu?te er noch manches, denn er war zwischen uns gro? geworden und als Unteroffizier zur Kompanie gekommen. Er hob den Deckel noch einmal vom Kessel und schnupperte. Im Weggehen sagte er:»Bringt mir auch