Lenz schenkte sich sein Glas voll. »Der Junge ist schon seit einiger Zeit etwas verruckt.«
»Ist noch nicht das Schlechteste«, erklarte ich.
Der Mond kam gro? und rot hinter dem Dach der Fabrik gegenuber hervor. Wir sa?en eine Weile und schwiegen.
»Sag mal, Gottfried«, begann ich dann,»du bist doch ein Fachmann in der Liebe, nicht?«
»Fachmann? Ich bin der Altmeister der Liebe«, erwiderte Lenz bescheiden.
»Schon. Ich mochte namlich mal wissen, ob man sich eigentlich dabei immer blodsinnig benimmt.«
»Wieso blodsinnig?«
»Na so, als ob man halb trunken ist. Herumredet und Unsinn quatscht und schwindelt.«
Lenz brach in ein Gelachter aus. »Aber Baby! Das Ganze ist doch Schwindel. Ein wunderbarer Schwindel von Mama Natur. Schau dir den Pflaumenbaum an! Er schwindelt auch gerade. Macht sich schoner, als er nachher ist. Es ware ja scheu?lich, wenn Liebe was mit Wahrheit zu tun hatte. Gott sei Dank, alles konnen die verdammten Ethiker doch nicht unterjochen.«
Ich richtete mich auf. »Du meinst, ohne etwas Schwindel geht's uberhaupt nicht?«
»Uberhaupt nicht, Kindchen.«
»Kann man sich aber doch verflucht lacherlich durch machen.«
Lenz grinste. »Merke dir eins, Knabe: Nie, nie, nie kann man sich lacherlich bei einer Frau machen, wenn man etwas ihretwegen tut. Selbst beim albernsten Theater nicht. Mach, was du willst – steh kopf, rede den dummsten Quatsch, prahle wie ein Pfau, singe vor ihrem Fenster, nur eins tu nicht; sei nicht sachlich! Nicht vernunftig!«
Ich wurde lebendig. »Was meinst du dazu, Otto?«
Koster lachte. »Wird wohl stimmen.«
Er stand auf und klappte Karls Motorhaube auf. Ich holte meine Rumflasche und ein Glas und stellte sie auf den Tisch. Otto lie? den Wagen an. Der Motor schlurfte ganz tief und verhalten. Lenz hatte die Fu?e auf der Fensterbank und starrte hinaus. Ich setzte mich neben ihn. »Warst du schon mal betrunken, wenn du mit einer Frau zusammen warst?«
»Oft«, erwiderte er, ohne sich zu ruhren.
»Und?«
Er sah mich aus schragen Augen an. »Du meinst, wenn man dann was verboxt hat? Nie entschuldigen, Baby. Nie reden. Blumen schicken. Ohne Brief. Nur Blumen. Die decken alles zu. Sogar Graber.«
Ich sah ihn an. Er ruhrte sich nicht. Seine Augen glitzerten im Widerschein des wei?en Lichtes drau?en. Der Motor lief immer noch, leise grollend, als bebe unter uns die Erde.
»Konnte nun eigentlich ruhig etwas trinken«, sagte ich und machte die Flasche auf.
Koster stellte den Motor ab. Dann wandte er sich an Lenz.
»Der Mond ist jetzt hell genug, um ein Glas zu finden, Gottfried. Mach die Illumination aus. Besonders den Ford. Das Biest erinnert mich mit dem schragen Scheinwerfer an den Krieg. War kein Spa? nachts, wenn die Dinger nach dem Flugzeug langten.«
Lenz nickte. »Und mich erinnert das da – na, ist ja egal…« Er stand auf und machte die Scheinwerfer aus.
Der Mond war uber das Fabrikdach emporgestiegen. Er war immer heller geworden und hing nun wie ein gelber Lampion in den Asten des Pflaumenbaumes. Die Zweige schwankten leise hin und her im schwachen Wind. »Merkwurdig«, sagte Lenz nach einer Weile,»warum setzt man allen moglichen Leuten Denkmaler – warum nicht mal dem Mond oder einem bluhenden Baum?«
Ich ging fruh nach Hause. Als ich die Korridortur aufschlo?, horte ich Musik. Es war das Grammophon Erna Bonigs, der Sekretarin. Eine leise, klare Frauenstimme sang. Dann kam ein Geglitzer von gedampften Geigen und Banjopizzikatis. Und wieder die Stimme, eindringlich, weich, als ware sie ganz erfullt von Gluck. Ich horchte, um die Worte zu verstehen. Es klang sonderbar ruhrend, hier auf dem dunklen Korridor, zwischen der Nahmaschine von Frau Bender und den Koffern der Familie Hasse, wie die Frau da so leise sang. Ich sah den ausgestopften Wildschweinschadel uber der Kuche an. Ich horte das Dienstmadchen mit Geschirr rumoren. »Wie hab' ich nur leben konnen ohne dich«, sang die Stimme, ein paar Schritte weiter hinter der Tur.
Ich zuckte die Achseln und ging in mein Zimmer.
Nebenan horte ich erregtes Gezank. Ein paar Minuten spater klopfte es bei mir und Hasse kam herein.
»Store ich Sie?« fragte er mude.
»Gar nicht«, sagte ich. »Wollen Sie was trinken?«
»Lieber nicht. Nur etwas sitzen.«
Er sah stumpf vor sich hin. »Sie haben's gut«, sagte er,»Sie sind allein…«
»Ach Unsinn«, erwiderte ich. »Immer so allein 'rumsitzen, das ist auch nichts – konnen Sie mir schon glauben…«
Er sa? zusammengesunken in seinem Sessel. Seine Augen waren glasern im Halbdunkel, das der Widerschein der Laternen von drau?en hereinwarf. Die schmalen, abfallenden Schultern…»Hab' mir das Leben ganz anders vorgestellt«, sagte er nach einer Weile.
»Haben wir alle«, sagte ich.
Nach einer halben Stunde ging er wieder hinuber, um sich mit seiner Frau zu vertragen. Ich gab ihm ein paar Zeitungen und eine halbe Flasche Curacao mit, die noch von irgendwann auf meinem Schrank herumstand – ein unangenehmes, su?es Zeug, aber fur ihn ganz gut. Er verstand doch nichts davon.
Leise, fast lautlos ging er hinaus, ein Schatten im Schatten, als ware er schon erloschen. Ich machte die Tur hinter ihm zu. Vom Korridor her wehte dabei wie ein buntes Seidentuch ein Fetzen Musik noch mit herein – Geigen, gedampfte Banjos -»wie hab' ich nur leben konnen ohne dich…«
Ich setzte mich ans Fenster. Drau?en lag der Friedhof im blauen Mondlicht. Die bunten Wurfel der Lichtreklamen kletterten uber die Wipfel der Baume, und die Grabsteine schimmerten aus der Dunkelheit hervor. Sie waren still und ohne Schrecken. Autos hupten dicht an ihnen entlang, und das Licht der Scheinwerfer huschte uber ihre verwitterten Inschriften.
Ich sa? ziemlich lange und dachte an allerlei Dinge. Auch daran, wie wir damals zuruckgekommen waren aus dem Kriege, jung, ohne Glauben, wie Bergleute aus einem eingesturzten Schacht. Wir hatten marschieren wollen gegen die Luge, die Ichsucht, die Gier, die Tragheit des Herzens, die all das verschuldet hatten, was hinter uns lag – wir waren hart gewesen, ohne anderes Vertrauen als das zu dem Kameraden neben uns und das eine andere, das nie getrogen hatte: zu den Dingen – zu Himmel, Tabak, Baum und Brot und Erde -; aber was war daraus geworden? Alles war zusammengebrochen, verfalscht und vergessen. Und wer nicht vergessen konnte, dem blieben nur die Ohnmacht, die Verzweiflung, die Gleichgultigkeit und der Schnaps. Die Zeit der gro?en Menschen- und Mannertraume war vorbei. Die Betriebsamen triumphierten. Die Korruption. Das Elend.
»Sie haben's gut, Sie sind allein«, sagte Hasse. Alles ganz schon – wer allein war, konnte nicht verlassen werden. Aber manchmal, abends, dann zerbrach das kunstliche Gebaude, das Leben verwandelte sich in eine schluchzende, jagende Melodie, einen Strudel von wilder Sehnsucht, von Begehren, Schwermut und Hoffnung, herauszukommen aus diesem sinnlosen Betauben, heraus aus dem sinnlosen Geleier dieser ewigen Drehorgel, ganz gleich, wohin es ging. Ach, dieses armselige Bedurfnis nach einem bi?chen Warme – konnten es denn nicht zwei Hande sein und ein geneigtes Gesicht? Oder war das auch nur Tauschung und Verzicht und Flucht? Gab es denn etwas anderes als Alleinsein?
Ich schlo? das Fenster. Nein, es gab nichts anderes. Fur alles andere hatte man viel zuwenig Boden unter den Fu?en.
Aber am nachsten Morgen brach ich fruhzeitig auf und klopfte den Besitzer eines kleinen Blumenladens aus seiner Wohnung, bevor ich zur Werkstatt ging. Ich suchte einen Busch Rosen bei ihm aus und sagte ihm, er moge sie gleich fortschicken. Es war ein wenig sonderbar fur mich, als ich die Adresse langsam auf die Karte schrieb: Patrice Hollmann.
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