Braumuller kam heran, fluchend uber sein Pech, die Hand voll verolter Zundkerzen. »Beruhige dich, Theo«, rief Lenz. »Der erste Preis im nachsten Kinderwagenrennen ist dir sicher.«
»Gebt ihr mir Revanche mit Kognak?« fragte Braumuller.
»In Bierglasern sogar«, sagte Grau.
»Keine Chance fur Sie, Herr Braumuller«, erklarte Alfons als Sachverstandiger. »Habe Koster noch nie blau gesehen.«
»Habe Karl auch noch nie vor mir gesehen«, gab Braumuller zuruck. »Au?er heute.«
»Trag's mit Wurde«, sagte Grau. »Hier hast du ein Glas. Wir wollen auf den Niedergang der Kultur durch die Maschine trinken.«
Als wir aufbrachen, wollten wir den ubriggebliebenen Proviant von Alfons mitnehmen. Es mu?te noch fur ein paar Mann reichlich da sein. Aber wir fanden nur noch das Papier. »Zum Donnerwetter…«, sagte Lenz. »Aha!« Er zeigte auf Jupp, der verlegen grinste, die Fauste noch voll, mit einem Bauch, der wie eine Trommel wegstand. »Auch ein Rekord!«
Patrice Hollmann hatte nach dem Essen bei Alfons fur mein Gefuhl zuviel Erfolg. Ich erwischte Grau dabei, wie er ihr erneut vorschlug, sie zu malen. Sie lachte und erklarte, es dauere ihr zu lange; fotografieren sei bequemer.
»Das ist auch mehr sein Fach«, sagte ich anzuglich. »Vielleicht malt er Sie nach einer Fotografie.«
»Ruhe, Robby«, erwiderte Ferdinand unbeirrt und starrte Pat aus seinen riesigen blauen Kinderaugen an. »Der Schnaps macht dich bosartig – mich menschlich. Das ist der Unterschied zwischen unseren Generationen.«
»Er ist so an zehn Jahre alter als ich«, warf ich ein.
»Das ist heute eine Generation Unterschied«, fuhr Ferdinand fort. »Ein Leben Unterschied. Ein Jahrtausend Unterschied. Was wi?t ihr Burschen denn vom Dasein! Ihr furchtet euch ja vor euren eigenen Gefuhlen. Ihr schreibt keine Briefe – ihr telefoniert; ihr traumt nicht mehr – ihr macht eine Wochenendtour; ihr seid vernunftig in der Liebe und unvernunftig in der Politik – ein erbarmliches Geschlecht!«
Ich horte nur mit einem Ohr hin; mit dem andern horchte ich zu Braumuller hinuber. Er erklarte Patrice Hollmann gerade etwas schwankend, da? sie unbedingt bei ihm Autofahren lernen musse. Er werde ihr alle seine Tricks zeigen.
Bei der nachsten Gelegenheit nahm ich ihn beiseite. »Es ist sehr ungesund, Theo, fur einen Sportsmann, sich zuviel um Frauen zu kummern.«
»Fur mich nicht«, meinte Braumuller,»ich habe eine fabelhafte Natur.«
»Schon. Dann will ich dir sagen, was bestimmt auch fur dich gesund ist: Wenn du eins mit dieser Flasche auf den Kopf geschlagen kriegst.«
Er grinste. »Steck den Degen ein, Kleiner. Wei?t du, woran man einen Kavalier erkennt? Da? er sich anstandig benimmt, wenn er besoffen ist. Und wei?t du, was ich bin?«
»Ein Renommist!«
Ich hatte keine Sorge, da? einer von ihnen wirklich etwas unternehmen wollte; das gab es nicht unter uns. Aber ich wu?te nicht so genau, wie es mit dem Madchen war – es konnte ja leicht sein, da? einer der andern ihr gro?artig gefiel. Wir kannten uns noch zu wenig, als da? ich sicher gewesen ware. Wann war man uberhaupt schon sicher?
»Wollen wir leise verschwinden?« fragte ich. – Sie nickte.
Wir gingen durch die Stra?en. Es war diesig geworden. Nebel fiel langsam uber die Stadt, grune und silberne Nebel. Ich nahm Pats Hand und steckte sie in meine Manteltasche.
So gingen wir lange Zeit.
»Mude?« fragte ich.
Sie schuttelte den Kopf und lachelte.
Ich zeigte auf die Cafes, an denen wir voruberkamen.
»Wollen wir irgendwo hinein?«
»Nein. Nicht schon wieder.«
Wir gingen weiter und kamen an den Friedhof. Er war wie eine stille Insel in der steinernen Hauserflut. Die Baume rauschten. Ihre Wipfel waren schon nicht mehr zu sehen. Wir suchten eine leere Bank und setzten uns.
Die Laternen vor uns am Stra?enrand hatten zitternde orangefarbene Hofe bekommen. Im starker fallenden Nebel begann das gro?e Marchen Licht. Maikafer kamen trunken aus den Linden herangetaumelt, sie umkreisten die Laternen und bumsten schwer gegen die feuchten Scheiben. Der Nebel verwandelte alles, er hob es hoch und loste es los, das Hotel gegenuber schwamm schon wie ein Ozeandampfer mit erleuchteten Kabinen uber dem schwarzen Spiegel des Asphalts, der graue Schatten der Kirche dahinter wurde zu einem gespenstischen Segelschiff mit hohen Masten, die sich im grauroten Licht verloren, und nun begannen auch die Schleppzuge der Hauser zu schwimmen, zu treiben…
Wir sa?en schweigend nebeneinander. Der Nebel machte alles unwirklich – auch uns. Ich sah das Madchen an – in ihren weitgeoffneten Augen glanzte der Laternenschein. »Komm«, sagte ich,»komm dicht zu mir – sonst treibt dich der Nebel weg…«
Sie wandte mir ihr Gesicht zu. Sie lachelte, ihr Mund war leicht geoffnet, die Zahne schimmerten, ihre Augen waren gro? auf mich gerichtet – aber mir schien, als sahen sie mich gar nicht -, als lachele sie uber mich hinweg in das graue und silberne Flie?en hinein, als sei sie geisterhaft angeruhrt worden von dem Wehen in den Wipfeln, von dem feuchten Rinnen die Stamme hinab, als lausche sie auf einen dunklen, unhorbaren Ruf hinter den Baumen, hinter der Welt, als musse sie gleich aufstehen und fortgehen, durch den Nebel, ziellos und sicher, und ihm folgen, dem geheimnisvollen Anruf der Erde und des Lebens.
Nie werde ich dieses Gesicht vergessen – nie werde ich vergessen, wie es sich dann zu mir neigte, wie es Ausdruck gewann, wie es sich schweigend erfullte mit Zartlichkeit und Zartheit, mit einer leuchtenden Stille, als erbluhe es – nie werde ich vergessen, wie ihre Lippen mir entgegenkamen, wie ihre Augen sich den meinen naherten, wie sie dicht vor mir standen und mich ansahen, fragend, ernst, gro? und schimmernd – und wie sie sich dann langsam schlossen, als ergaben sie sich…
Der Nebel zog und zog. Die Kreuze der Grabsteine ragten bla? aus den Schwaden. Ich deckte meinen Mantel uber uns. Die Stadt war versunken. Die Zeit war gestorben…
Wir sa?en lange so. Allmahlich begann es starker zu wehen, und Schatten schwankten durch die graue Luft vor uns. Ich horte Schritte knirschen und leises Murmeln dazwischen. Dann das gedampfte Klimpern von Gitarren. Ich hob den Kopf. Die Schatten kamen naher, wurden zu dunklen Gestalten und schoben sich zu einem Kreise zusammen. Stille. Und plotzlich lauter Gesang:»Jesus, Jesus sucht auch dich…«
Ich fuhr mit einem Ruck hoch und horchte. Was war da los? Waren wir auf dem Mond? Das war ja ein richtiger Chor – ein zweistimmiger Frauenchor…
»Sunder, Sunder, stehe auf«, hallte es uber den Friedhof im Takt eines Regimentsmarsches… Ich starrte Pat an. »Es ist doch nicht zu fassen«, sagte ich. »Komm zur Bu?bank reuiglich…«, ging es schon in flottem Tempo weiter. Auf einmal begriff ich. »Lieber Gott! Die Heilsarmee!«»La? der Sunde keinen Lauf…«, mahnten die Schatten aufs neue in aufsteigender Kantilene. In den braunen Augen Pats erschienen funkelnde Lichter. Ihre Lippen zuckten und ihre Schultern bebten. Unaufhaltsam ging es jetzt fortissimo weiter:»Hollenbrand und Feuerpein Sind der Sunde boser Lohn; Jesus ladt dich vorher ein – Komm und bu?, verlorener Sohn…«
»Ruhe, Himmeldonnerschlag!« brullte plotzlich eine argerliche Stimme aus dem Nebel dazwischen.
Ein Moment verdutzter Stille. Aber die Heilsarmee war Kummer gewohnt. Verstarkt setzte der Chor sofort wieder ein. »Was willst du in der Welt allein…«, klagte er unisono…
»Knutschen, verflucht noch mal«, brullte die argerliche Stimme,»hat man denn nicht mal hier Ruhe?«
»Wo Satans Blendwerk dich verlockt…«, schmetterte es mit jahem Aufschwung dagegen.
»Ihr alten Schrauben konnt mich schon lange nicht verlocken!« kam die Antwort prompt aus dem Nebel.
Ich prustete los. Pat konnte auch nicht mehr an sich halten. Wir schuttelten uns vor Lachen uber dieses Duell auf dem Friedhof. Der Heilsarmee war bekannt, da? die Banke hier die Zuflucht von Liebespaaren waren, die nicht wu?ten, wo sie sonst im Larm der Stadt allein sein konnten. Deshalb hatte sie zu einem gewaltigen Schlage ausgeholt. Sie machte eine Sonntags-Razzia, um Seelen zu retten. Fromm, glaubig und laut plarrten die ungeschulten Stimmen ihren Text. Die Gitarren machten heftig Wumba Wumba dazu.
Der Friedhof wurde lebendig. Kichern und Zurufe kamen aus dem Nebel. Alle Banke schienen besetzt zu sein.