Der einsame Rebell der Liebe erhielt machtig unsichtbaren Zuzug von Gleichgesinnten. Ein Protestchor formierte sich. Es mu?te altes Militar dabeisein, das durch die Marschmusik angeregt wurde – denn machtvoll erhob sich nach kurzer Zeit das unvergangliche Lied:»In Hamburg da bin ich gewesen – hab' gesehen die bluhende Welt…«
»O sei nicht langer noch verstockt«, drang schrill der Chor der Asketen noch einmal durch, denn die Heilsarmee geriet mit nickenden Schutenhuten in hochsten Alarm.
Aber das Bose siegte. »Meinen Namen, den darf ich nicht nennen«, schallte es aus rauhen Kehlen gewaltig dagegen,»denn ich bin ja ein Madchen fur Geld.«
»Jetzt wird es Zeit aufzubrechen«, sagte ich zu Pat. »Das Lied da kenne ich. Es hat mehrere Strophen, die sich machtig steigern. Fort von hier!«
Die Stadt war wieder da mit Hupenlarm und Radergesumm. Aber sie blieb verzaubert. Der Nebel machte aus den Omnibussen gro?e Fabeltiere, die Autos wurden zu schleichenden Lichtkatzen und die Schaufenster zu bunten Hohlen der Verwirrung.
Wir gingen die Stra?e am Friedhof entlang und uberquerten den Rummelplatz. Die Karussells ragten wie brausende Turme von Musik und Glanz in die diesige Luft, das Teufelsrad spruhte Purpur, Gold und Gelachter, und das Labyrinth schimmerte in blauen Feuern.
»Gesegnetes Labyrinth!« sagte ich.
»Warum?« fragte Pat.
»Wir waren doch einmal zusammen drin.«
Sie nickte.
»Ich habe das Gefuhl, es ist endlos lange her.«
»Wollen wir noch einmal hinein?«
»Nein«, sagte ich. »Jetzt nicht mehr. Willst du etwas trinken?«
Sie schuttelte den Kopf. Sie sah wunderschon aus. Der Nebel war wie ein leichter Duft, der sie noch strahlender machte.
»Bist du auch nicht mude?« fragte ich.
»Nein, noch nicht.«
Wir kamen an die Buden mit den Ringen und den Haken. Lampen mit wei?em, spritzendem Karbidlicht hingen davor. Pat sah mich an. »Nein«, sagte ich,»heute werfe ich nicht. Keinen einzigen Ring. Und wenn der Schnapskeller Alexanders des Gro?en zu gewinnen ware.« Wir gingen weiter, uber den Platz und durch die stadtischen Anlagen.
»Hier mu? irgendwo die Daphne indica stehen«, sagte Pat.
»Ja, man riecht sie schon von weitem uber den Rasen her. Ganz deutlich. Oder nicht?«
Sie sah mich an. »Doch«, sagte sie.
»Sie mu? aufgebluht sein. Man riecht sie jetzt durch die ganze Stadt.« Ich blickte vorsichtig nach rechts und links, ob irgendwo eine leere Bank ware. Aber es mu?te wohl an der Daphne indica liegen oder am Sonntag oder an uns – ich fand keine. Alle waren besetzt. Ich sah auf die Uhr. Es war schon nach zwolf. »Komm«, sagte ich,»wir gehen zu mir – da sind wir fur uns.«
Sie antwortete nicht, aber wir gingen zuruck. Am Friedhof sahen wir etwas Unerwartetes. Die Heilsarmee hatte Verstarkung herangezogen. Vier Reihen tief stand jetzt der Chor. Nicht nur Schwestern, auch zwei Reihen Bruder in Uniform waren da. Nicht mehr zweistimmig schrill, sondern vierstimmig wie eine Orgel klang der Gesang. Im Walzertakt brauste es uber die Grabsteine:»Himmlisches Jerusalem…«
Von der Opposition war nichts mehr zu horen. Sie war weggefegt. »Beharrlichkeit«, sagte mein Rektor Hillermann immer schon,»Beharrlichkeit und Flei? sind besser als Zuchtlosigkeit und Genie…«
Ich schlo? die Tur auf. Einen Augenblick uberlegte ich. Dann knipste ich das Licht an. Der Schlauch des Korridors gahnte gelb und scheu?lich. »Mach die Augen zu«, sagte ich leise zu Pat,»der Anblick ist nur fur abgebruhte Nerven.« Ich nahm sie mit einem Ruck hoch und ging langsam mit einem gewohnlichen Schritt, als ware ich allein, vorbei an Koffern und Gaskochern, bis zu meinem Zimmer.
»Schauerlich, was?« sagte ich verlegen und starrte auf die Pluschgarnitur, die sich uns entgegenbreitete. Ja, jetzt fehlten mir die Brokatstucke Frau Zalewskis – der Teppich, die Hassesche Lampe -»Es ist gar nicht so schauerlich«, sagte Pat.
»Doch, doch«, erwiderte ich und ging zum Fenster. »Aber die Aussicht ist wenigstens schon. Vielleicht rucken wir die Sessel ans Fenster.«
Pat ging im Zimmer umher. »Es ist gar nicht schlimm. Vor allem ist es wunderbar warm.«
»Frierst du?«
»Ich habe es gern warm«, sagte sie und hob ein wenig die Schultern.
»Ich mag Kalte und Regen nicht. Ich kann sie auch nicht vertragen.«
»Himmel – und wir haben die ganze Zeit drau?en im Nebel gesessen…«
»Um so besser ist es jetzt hier…«
Sie dehnte sich und ging wieder mit ihren schonen Schritten durchs Zimmer. Ich war sehr befangen und sah mich rasch um. – Gottlob, es lag nicht viel umher. Meine zerrissenen Hausschuhe schubste ich mit einer Fu?drehung nach hinten unters Bett.
Pat stand vor dem Kleiderschrank und schaute hinauf. Oben lag ein alter Koffer, den Lenz mir geschenkt hatte. Er war bunt beklebt mit Zetteln von seinen Abenteurerfahrten. »Rio de Janeiro…«, las sie,»Manaos – Santiago – Buenos Aires – Las Palmas…«
Sie schob den Koffer zuruck und kam auf mich zu. »Da bist du uberall schon gewesen?«
Ich murmelte irgend etwas. Sie nahm meinen Arm. »Komm, erzahl mir davon, erzahl mir von all diesen Stadten, es mu? doch herrlich gewesen sein, so weit zu reisen…«
Und ich? Ich sah sie vor mir, schon, jung, voll Erwartung, ein Schmetterling, verflogen durch einen glucklichen Zufall in mein abgebrauchtes, schabiges Zimmer, in mein belangloses, sinnloses Leben, bei mir und doch nicht bei mir – ein Atemzug nur, und er konnte sich heben und wieder davonfliegen – scheltet mich, verdammt mich, ich konnte es nicht, ich konnte nicht nein sagen, nicht sagen, da? ich nie dagewesen war, jetzt nicht…
Wir standen am Fenster, der Nebel drangte und quoll gegen die Scheiben – und ich spurte: Hinter ihm lauert es wieder, das Verschwiegene, Verborgene, Vergangene, die feuchten Tage des Grauens, die Ode, der Schmutz, die Fetzen verwesten Daseins, die Ratlosigkeit, die verirrte Kraftmeierei eines ziellos abschnurrenden Lebens – aber hier, vor mir im Schatten, besturzend nahe, der leise Atem, die unfa?bare Gegenwart, Warme, klares Leben -, ich mu?te es halten, ich mu?te es gewinnen -»Rio…« sagte ich -»Rio de Janeiro – ein Hafen wie ein Marchen. In sieben Bogen schwingt das Meer um die Bucht, und die Stadt steigt wei? und flimmernd daruber auf…« Ich begann zu erzahlen von hei?en Stadten und endlosen Ebenen, von den gelben Schlammfluten der Flusse, von schimmernden Inseln und Krokodilen, von den Waldern, die die Stra?en fressen, vom Schrei der Jaguare nachts, wenn der Flu?dampfer durch den Brodem von Vanille, Schwule, Orchideenduft, Verwesung und Dunkel gleitet, ich hatte das alles von Lenz gehort, aber jetzt schien es mir fast, als ware ich es selbst gewesen, so wunderlich mischten sich Erinnerung und Sehnsucht danach mit dem Wunsch, zu dem geringen und dunklen Wirrwarr meines Lebens etwas Glanz hinzuzutun, um nicht dieses unbegreiflich schone Gesicht vor mir zu verlieren, diese jahe Hoffnung, dieses begluckende Bluhen, fur das ich allein viel zuwenig war. Spater konnte ich das alles einmal erklaren, spater, wenn ich mehr war, wenn alles sicherer war, spater, aber nicht jetzt -»Manaos«, sagte ich. »Buenos Aires«, und jedes Wort war Bitte und Beschworung.
Nacht. Drau?en begann es zu regnen. Die Tropfen fielen weich und zartlich. Sie klatschten nicht mehr wie vor einem Monat, als sie nur die Aste der Linden trafen – jetzt rauschten sie leise herab in die jungen nachgebenden Blatter, sie drangten sich an sie und rannen an ihnen herunter, ein mystisches Fest und ein geheimnisvolles Flie?en zu den Wurzeln, von denen sie wieder aufsteigen wurden, um selbst Blatter zu werden, die den Regen wieder erwarteten in den Nachten des Fruhjahrs.
Es war still geworden. Der Larm der Stra?e war verstummt – eine einsame Laterne flackerte auf dem Burgersteig. Die zarten Blatter der Baume, von unten beschienen, sahen fast wei? aus, durchsichtig beinahe. Die Wipfel waren schimmernde, helle Segel.
»Horch, der Regen, Pat…«
»Ja…«
Sie lag neben mir. Ihr Haar hob sich dunkel von den