XI
Ich war unterwegs zu Pat. Es war das erstemal, da? ich sie besuchte. Bisher war sie immer nur bei mir gewesen, oder ich hatte sie vor ihrem Haus abgeholt, und wir waren irgendwohin gegangen. Aber das war stets so gewesen, als ob sie nur zu Besuch da war. Ich wollte mehr von ihr wissen. Ich wollte wissen, wie sie lebte.
Mir fiel ein, da? ich ihr Blumen mitbringen konnte. Das war leicht; die stadtischen Anlagen hinter dem Rummelplatz standen in voller Blute. Ich sprang uber das Gitter und begann einen wei?en Fliederbusch zu plundern.
»Was machen Sie da?« erscholl plotzlich eine markige Stimme. Ich sah auf. Ein Mann mit einem Burgundergesicht und aufgezwirbeltem wei?en Schnurrbart starrte mich entrustet an. Kein Polizist und kein Parkwachter. Hoheres pensioniertes Militar, das erkannte man sofort.
»Das ist doch nicht schwer festzustellen«, erwiderte ich hoflich. »Ich breche hier Fliederzweige ab.«
Dem Mann verschlug es einen Moment die Sprache. »Wissen Sie nicht, da? das stadtische Anlagen sind?« knurrte er dann emport.
Ich lachte. »Naturlich wei? ich das! Oder glauben Sie, ich hielte das hier fur die Kanarischen Inseln?«
Der Mann wurde blau. Ich furchtete, der Schlag wurde ihn treffen. »Sofort 'raus da, Kerl!« schrie er mit erstklassiger Kasernenhofstimme. »Sie vergreifen sich an stadtischem Gut! Ich lasse Sie abfuhren!«
Ich hatte inzwischen genug Flieder. »Dann fang mich mal, Gro?vater!« forderte ich den Alten auf, sprang nach der andern Seite ubers Gitter und entschwand.
Vor dem Hause Pats musterte ich noch einmal meinen Anzug. Dann stieg ich die Treppe hinauf und sah mich um. Das Haus war neu und modern gebaut – ein starker Gegensatz zu meiner verwohnten, pomposen Baracke. Die Treppen waren mit einem roten Laufer belegt; das gab es bei Mutter Zalewski auch nicht. Vom Fahrstuhl gar nicht zu reden.
Pat wohnte im zweiten Stock. An der Tur war ein selbstbewu?tes Messingschild angebracht: Egbert von Hake, Oberstleutnant. Ich starrte es lange an. Unwillkurlich ruckte ich dann meinen Schlips zurecht, bevor ich klingelte.
Ein Madchen mit wei?em Haubchen und blutenwei?er Tandelschurze offnete – nicht in einem Atem zu nennen mit unserm schielenden Trampel Frida. Mir wurde plotzlich unbehaglich zumute. »Herr Lohkamp?« fragte sie.
Ich nickte.
Sie fuhrte mich uber einen kleinen Vorplatz und offnete dann eine Zimmertur. Ich ware nicht besonders erstaunt gewesen, wenn dort zunachst einmal Oberstleutnant Egbert von Hake in voller Uniform gestanden und mich einem Verhor unterzogen hatte – so serios wirkten die Bilder von einer Anzahl Generalen, die, ordenbedeckt, grimmig von den Wanden des Vorzimmers mir Zivilisten nachsahen. Aber da kam Pat mir schon entgegen mit ihren schonen, langen Schritten, und das Zimmer war plotzlich nichts als eine Insel von Warme und Heiterkeit. Ich schlo? die Tur und nahm sie zuerst einmal vorsichtig in die Arme. Dann ubergab ich ihr den gestohlenen Flieder. »Hier«, sagte ich. »Mit einem Gru? von der Stadtverwaltung!«
Sie stellte die Zweige in eine gro?e, helle Tonvase, die auf dem Boden vor dem Fenster stand. Ich sah mich unterdessen in ihrem Zimmer um. Weiche gedampfte Farben, wenige alte schone Mobel, ein mattblauer Teppich, pastellfarbene Vorhange, bequeme kleine Sessel, mit verblichenem Samt gepolstert. -»Mein Gott, wie hast du nur so ein Zimmer gefunden, Pat?« fragte ich. »Die Leute stellen doch sonst nur ihre ausrangierten Brocken und die unbrauchbaren Geburtstagsgeschenke in Zimmer, die sie vermieten.«
Sie schob die Vase mit den Blumen behutsam zur Seite an die Wand.
Ich sah ihren schmalen, gebogenen Nacken, die geraden Schultern und die etwas zu dunnen Arme. Sie sah aus wie ein Kind, wahrend sie kniete, ein Kind, das man beschutzen mu?te. Aber sie hatte die Bewegungen eines geschmeidigen Tieres, und als sie sich dann aufrichtete und sich an mich lehnte, da war sie kein Kind mehr, da hatten ihre Augen und ihr Mund wieder etwas von der fragenden Erwartung und dem Geheimnis, das mich verwirrte und von dem ich geglaubt hatte, da? es das nicht mehr gabe in dieser dreckigen Welt.
Ich legte die Hand um ihre Schulter. Es war schon, sie so zu fuhlen. »Es sind alles meine eigenen Sachen, Robby. Die Wohnung hat fruher meiner Mutter gehort. Als sie starb, habe ich sie abgegeben und zwei Zimmer fur mich behalten.«
»Dann gehort sie also dir?« fragte ich erleichtert. »Und der Oberstleutnant Egbert von Hake wohnt nur bei dir zur Miete?«
Sie schuttelte den Kopf. »Nicht mehr. Ich konnte sie nicht behalten. Ich habe die ubrigen Mobel verkauft und die Wohnung ganz abgegeben. Ich wohne jetzt hier zur Miete.
Aber was hast du mit dem alten Egbert?«
»Nichts. Ich habe nur eine naturliche Scheu vor Polizisten und Stabsoffizieren. Das stammt noch aus meiner Militarzeit.«
Sie lachte. »Mein Vater war auch Major.«
»Major ist gerade die Grenze«, erwiderte ich.
»Kennst du denn den alten Hake?« fragte sie.
Ich wurde plotzlich von einer bosen Ahnung erfa?t. »Ist es so ein Kleiner, Strammer, mit einem roten Gesicht, einem wei?en Schnauzbart und einer machtigen Stimme? Einer, der viel in den stadtischen Anlagen spazierengeht?«
»Aha!« Sie blickte auf den Flieder und sah mich dann lachend an.
»Nein, es ist ein Gro?er, Blasser mit einer Hornbrille!«
»Dann kenne ich ihn nicht.«
»Willst du ihn kennenlernen? Er ist sehr nett.«
»Da sei Gott vor! Ich gehore einstweilen mehr auf die Monteur- und die Zalewskiseite.«
Es klopfte. Das Madchen von vorhin schob einen niedrigen, fahrbaren Tisch herein. Dunnes, wei?es Porzellan, eine Silberplatte mit Kuchen, eine andere mit belegten, unwahrscheinlich kleinen Brotchen, Servietten, Zigaretten und was wei? ich sonst noch – wie geblendet starrte ich darauf nieder. »Erbarme dich, Pat!« sagte ich dann. »Das ist ja wie im Film! Ich habe schon auf der Treppe gemerkt, da? wir auf verschiedenen sozialen Stufen stehen. Bedenke, da? ich gewohnt bin, aus fettigem Papier auf der Zalewskischen Fensterbank zu essen, den braven Spirituskocher treu neben mir. Erbarme dich uber den Bewohner liebloser Pensionen, wenn er in seiner Verwirrung vielleicht eine Tasse umschmei?t!«
Sie lachte. »Das darfst du nicht. Deine Ehre als Motorenfachmann erlaubt das nicht. Du mu?t geschickt sein.« Sie ergriff den Henkel einer Kanne. »Willst du Tee oder Kaffee?«
»Tee oder Kaffee? Gibt es denn beides?«
»Ja. Sieh hier!«
»Herrlich! Wie in den besten Lokalen! Jetzt fehlt nur noch Musik.« Sie beugte sich zur Seite und knipste ein kleines Kofferradio an, das ich gar nicht gesehen hatte. »Also, was willst du nun, Tee oder Kaffee?«
»Kaffee, einfach Kaffee, Pat. Ich bin vom Lande. Und du?«
»Ich trinke mit dir Kaffee.«
»Aber sonst trinkst du Tee?«
»Ja.«
»Da haben wir es.«
»Ich fange schon an, mich an Kaffee zu gewohnen. Willst du Kuchen dazu? Oder Brotchen?«
»Beides, Pat. Man mu? solche Gelegenheiten ausnutzen. Ich werde nachher auch noch Tee trinken. Ich mu? alles versuchen, was es hier bei dir gibt.«
Sie lachte und packte meinen Teller voll. Ich wehrte ab. »Genug, genug! Bedenke, da? wir in der Nahe eines Oberstleutnants sind! Das Militar liebt Ma?igkeit bei den niederen Chargen.«
»Nur im Trinken, Robby. Der alte Egbert i?t selbst leidenschaftlich gern Kuchen mit Schlagsahne.«
»Im Komfort auch«, erwiderte ich. »Den haben sie uns seinerzeit grundlich abgewohnt.« Ich schob den Tisch auf seinen Gummiradern hin und her. Er reizte dazu. Lautlos rollte er uber den Teppich. Ich sah mich um. Alles pa?te zueinander. »Ja, Pat«, sagte ich,»so haben unsere Vorfahren nun gelebt!«
Sie lachte. »Was erzahlst du da fur Geschichten!«