»In einer halben Stunde bin ich mit dem Hund wieder bei dir«, sagte ich zu Pat.

»Aber das geht doch nicht; der Schaffner bleibt ja im Wagen.«

»Es geht schon. Schlie? nur deine Tur nicht ab.«

Ich ging zuruck, an dem Schaffner vorbei, der mich ansah. Auf der nachsten Station stieg ich mit dem Hund aus und ging uber den Bahnsteig am Schlafwagen vorbei bis zum nachsten Wagen. Hier wartete ich, bis der Schaffner ausstieg, um mit dem Zugfuhrer zu schwatzen. Dann stieg ich wieder ein, ging durch den Wagen bis zu den Schlafwagenabteilen und kam zu Pat, ohne da? mich jemand gesehen hatte. Sie trug einen weichen wei?en Mantel und sah wunderschon aus. Ihre Augen glanzten. »Ich bin jetzt ganz daruber weg, Robby«, sagte sie.

»Das ist gut. Aber willst du dich nicht zu Bett legen? Es ist machtig knapp hier. Ich setze mich dann zu dir.«

»Ja, aber…«, sie zogerte und zeigte auf das obere Bett. »Wenn nun die Vorsteherin des Vereins fur gefallene Madchen plotzlich in der Tur steht…«

»Bis Frankfurt ist's noch lange«, sagte ich. »Ich passe schon auf. Ich schlafe nicht ein.«

Kurz vor Frankfurt ging ich in mein Abteil zuruck. Ich setzte mich in die Fensterecke und versuchte zu schlafen. Aber in Frankfurt stieg ein Mann mit einem Seehundsbart ein, der sofort einen Koffer auspackte und zu essen begann. Er a? so intensiv, da? ich nicht zum Schlafen kam. Die Mahlzeit dauerte fast eine Stunde. Dann wischte der Seehund sich den Bart, legte sich lang und begann ein Konzert, wie ich es nie vorher gehort hatte. Es war kein einfaches Schnarchen; es war ein heulendes Seufzen, unterbrochen von sto?weisem Stohnen und langgezogenem Blubbern. Ich konnte kein System darin entdecken, so vielfaltig war es. Zum Gluck stieg der Mann um halb sechs Uhr aus.

Als ich aufwachte, war drau?en alles wei?. Es schneite in gro?en Flocken, und das Abteil war in ein seltsam unwirkliches Zwielicht getaucht. Wir fuhren schon durchs Gebirge. Es war fast neun Uhr. Ich dehnte mich und ging mich waschen und rasieren. Als ich zuruckkam, stand Pat im Abteil. Sie sah frisch aus. »Hast du gut geschlafen?« fragte ich.

Sie nickte.

»Und wie war die alte Spiritistin in deinem Abteil?«

»Jung und hubsch. Sie hei?t Helga Guttmann und fahrt ins selbe Sanatorium wie ich.«

»Tatsachlich?«

»Ja, Robby. Aber du hast schlecht geschlafen, das sieht man. Du mu?t ein ordentliches Fruhstuck haben.«

»Kaffee«, sagte ich. »Kaffee mit etwas Kirsch.«

Wir gingen zum Speisewagen. Ich war plotzlich guter Stimmung. Es schien alles nicht mehr so schlimm wie am Abend vorher.

Helga Guttmann sa? schon da. Sie war ein schlankes, lebhaftes Madchen von sudlichem Typ. »Merkwurdig«, sagte ich,»da? sich das so getroffen hat mit demselben Sanatorium.«

»Gar nicht so merkwurdig«, erwiderte sie.

Ich sah sie an. Sie lachte. »Um diese Zeit sammeln sich doch die Zugvogel alle wieder. Druben…«, sie zeigte in die Ecke des Speisewagens,»der ganze Tisch dort fahrt auch hin.«

»Woher wissen Sie das?« fragte ich.

»Ich kenne sie alle vom vorigen Jahr. Da oben kennt doch jeder den andern.«

Der Kellner kam und brachte den Kaffee. »Bringen Sie mir noch einen gro?en Kirsch dazu«, sagte ich. Ich mu?te etwas trinken. Es war auf einmal alles so einfach. Da sa?en Leute und fuhren zum Sanatorium, zum zweitenmal sogar, und es schien ihnen nicht viel mehr als eine Spazierfahrt zu sein. Es war dumm, so viel Angst zu haben. Pat wurde zuruckkommen, wie alle diese Leute zuruckgekommen waren. Ich dachte nicht daran, da? alle diese Leute jetzt auch wieder hinfuhren – es war genug zu wissen, da? man zuruckkam und wieder ein ganzes Jahr vor sich hatte. In einem Jahr konnte viel passieren. Unsere Vergangenheit hatte uns gelehrt, kurzfristig zu denken.

Wir kamen spatnachmittags an. Es war ganz klar geworden, die Sonne schien golden auf die Schneefelder, und der Himmel war so blau, wie wir ihn seit Wochen nicht mehr gesehen hatten. Am Bahnhof wartete eine Menge Leute. Sie gru?ten und winkten, und aus dem Zuge winkten die Ankommenden zuruck. Helga Guttmann wurde von einer lachenden blonden Frau und zwei Mannern in hellen Knickerbockern in Empfang genommen. Sie war ganz aufgeregt und wirbelig, so als ware sie nach langer Abwesenheit nach Hause gekommen. »Auf Wiedersehen, nachher, oben!« rief sie uns zu und bestieg mit ihren Freunden einen Schlitten.

Die Leute zerstreuten sich rasch, und wir standen ein paar Minuten spater allein auf dem Bahnsteig. Ein Gepacktrager trat zu uns heran.

»Welches Hotel?« fragte er.

»Sanatorium Waldfrieden«, erwiderte ich.

Er nickte und winkte einem Kutscher. Die beiden verstauten die Koffer in einem hellblauen Schlitten, der mit zwei Schimmeln bespannt war. Die Pferde hatten bunte Federbuschel auf den Kopfen, und der Dampf ihres Atems umwehte ihre Mauler wie perlmutterfarbenes Gewolk.

Wir stiegen ein. »Wollen Sie zur Drahtseilbahn oder mit dem Schlitten 'rauf?« fragte der Kutscher.

»Wie weit ist es mit dem Schlitten?«

»Eine halbe Stunde.«

»Dann mit dem Schlitten.«

Der Kutscher schnalzte mit der Zunge, und wir fuhren los. Es ging aus dem Dorf hinaus und dann in Kehren aufwarts. Das Sanatorium lag auf einer Anhohe uber dem Dorf. Es war ein langgestrecktes Gebaude mit langen Fensterreihen. Vor jedem Fenster befand sich ein Balkon. Auf dem Dache wehte eine Fahne im schwachen Wind. Ich hatte erwartet, es ware wie ein Krankenhaus eingerichtet; aber es glich, wenigstens im unteren Stock, viel mehr einem Hotel. In der Halle brannte ein Kamin, und eine Anzahl kleiner Tische war mit Teegeschirr gedeckt.

Wir meldeten uns im Buro. Ein Hausdiener holte unser Gepack herein, und eine altere Dame erklarte uns, da? Pat Zimmer neunundsiebzig habe. Ich fragte, ob ich fur ein paar Tage ebenfalls ein Zimmer haben konne. Sie schuttelte den Kopf. »Nicht im Sanatorium. Wohl aber in der Dependance.«

»Wo ist die Dependance?«

»Gleich nebenan.«

»Gut«, sagte ich,»dann geben Sie mir dort ein Zimmer und lassen Sie mein Gepack hinuberbringen.«

Wir fuhren in einem vollig gerauschlosen Lift zum zweiten Stock hinauf. Oben sah es allerdings mehr nach Krankenhaus aus. Nach einem sehr komfortablen Krankenhaus zwar, aber immerhin nach Krankenhaus. Wei?e Gange, wei?e Turen, alles blitzend von Glas, Nickel und Sauberkeit. Eine Oberschwester nahm uns in Empfang.

»Fraulein Hollmann?«

»Ja«, sagte Pat,»Zimmer neunundsiebzig, nicht wahr?«

Die Oberschwester nickte, ging voran und offnete eine Tur.

»Hier ist Ihr Zimmer.«

Es war ein heller, mittelgro?er Raum, in den durch ein breites Fenster die Abendsonne schien. Auf dem Tisch stand ein Strau? gelber und roter Astern, und drau?en lagen die beglanzten Schneefelder, in die sich das Dorf wie eine gro?e, weiche Decke schmiegte.

»Gefallt es dir?« fragte ich Pat.

Sie sah mich einen Augenblick an. »Ja«, sagte sie dann.

Der Hausknecht brachte die Koffer. »Wann mu? ich zur Untersuchung?« fragte Pat die Schwester.

»Morgen vormittag. Heute abend gehen Sie am besten fruh schlafen, damit Sie ausgeruht sind.«

Pat zog ihren Mantel aus und legte ihn auf das wei?e Bett, uber dem eine neue Fiebertafel angebracht war. »Ist kein Telefon im Zimmer?« fragte ich.

»Es ist ein Anschlu? da«, sagte die Schwester. »Man kann ein Telefon hereinstellen.«

»Mu? ich noch irgend etwas tun?« fragte Pat.

Die Schwester schuttelte den Kopf. »Heute nicht. Erst morgen nach der Untersuchung wird alles festgelegt. Die Untersuchung ist um zehn. Ich hole Sie ab.«

»Danke, Schwester«, sagte Pat.

Die Schwester ging. Der Hausknecht wartete noch an der Tur. Ich gab ihm ein Trinkgeld, und er ging auch. Es

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