ein pathetischer Hopser am Rande des Lebens. Er versteht es immer falsch und macht sich daraus seine Sensationen. Was wei?t du vom Nichts, du Leichtgewicht?«
»Genug, um ein Leichtgewicht bleiben zu wollen«, erklarte Lenz.
»Anstandige Menschen haben Respekt vor dem Nichts, Ferdinand. Sie wuhlen nicht darin herum wie ein Maulwurf.«
Grau starrte ihn an. »Prost«, sagte Gottfried.
»Prost«, sagte Ferdinand. »Prost, du Kork!«
Sie tranken ihre Glaser leer. »Ich mochte ganz gern ein Kork sein«, sagte ich und trank mein Glas ebenfalls aus. »So einer, der alles richtig macht und dem alles gelingt. Wenigstens eine Zeitlang mal.«
»Apostata!« Ferdinand warf sich in seinen Sessel zuruck, da? er krachte. »Willst du zum Deserteur werden? Die Bruderschaft verraten?«
»Nein«, sagte ich,»ich will nichts verraten. Aber ich wollte, es ginge uns nicht immer alles in die Bruche.«
Ferdinand beugte sich vor. Sein gro?es, wildes Gesicht zuckte. »Dafur gehorst du einem Orden an, Bruder – dem Orden der Erfolglosen, Untuchtigen, mit ihren Wunschen ohne Ziel, ihrer Sehnsucht, die nichts einbringt, ihrer Liebe ohne Zukunft, ihrer Verzweiflung ohne Vernunft.« Er lachelte. »Der geheimen Bruderschaft, die lieber verkommt, als da? sie Karriere macht, die das Leben lieber verspielt, zerbrockelt, verliert, als da? sie das unerreichbare Bild betriebsam verfalscht oder vergi?t – das Bild, Bruder, das sie im Herzen tragt, unverloschlich eingegraben in den Stunden und Tagen und Nachten, wo es nichts gab als das eine: das nackte Leben und das nackte Sterben.«
Er hob sein Glas und winkte Fred an der Bar. »Gib mir zu trinken.«
Fred brachte die Flasche. »Soll ich noch etwas Grammophon spielen?« fragte er.
»Nein«, sagte Lenz. »Wirf dein Grammophon 'raus und bring gro?ere Glaser. Und dann mach die Halfte von dem Licht aus, stell ein paar Flaschen her und verschwinde in deinem Buro nebenan.«
Fred nickte und knipste die Deckenbeleuchtung aus. Nur noch die kleinen Lampen mit den Pergamentschirmen aus alten Landkarten brannten. Lenz fullte die Glaser. »Prost, Kinder! Weil wir leben! Weil wir atmen! Weil wir das Leben so stark empfinden, da? wir nichts mehr damit anzufangen wissen!«
»So ist es«, sagte Ferdinand. »Nur der Ungluckliche kennt das Gluck. Der Gluckliche ist ein Mannequin des Lebensgefuhls. Er fuhrt es nur vor; er besitzt es nicht. Licht leuchtet nicht im Licht; es leuchtet im Dunkel. Prost auf das Dunkel! Wer einmal im Gewitter gewesen ist, kann mit einer Elektrisiermaschine nichts mehr anfangen. Verflucht sei das Gewitter! Gesegnet sei unser bi?chen Leben! Und weil wir es lieben, wollen wir es nicht auf Zinsen legen! Wir wollen es kaputtmachen! Trinkt, Kinder! Es gibt Sterne, die jede Nacht noch leuchten, obwohl sie schon vor zehntausend Lichtjahren zerplatzt sind! Trinkt, solange es noch Zeit ist! Es lebe das Ungluck! Es lebe das Dunkel!«
Er schenkte sich ein Wasserglas voll Kognak ein und trank es aus.
Der Rum klopfte hinter meiner Stirn. Ich stand leise auf und ging zu Fred ins Buro. Er schlief. Ich weckte ihn und lie? eine Verbindung mit dem Sanatorium anmelden.
»Sie konnen drauf warten«, sagte er. »Um diese Zeit geht das rasch.«
Funf Minuten spater klingelte das Telefon, und das Sanatorium meldete sich. »Ich mochte mit Fraulein Hollmann sprechen«, sagte ich.
»Einen Augenblick, ich verbinde mit der Station.«
Die Oberschwester meldete sich. »Fraulein Hollmann schlaft schon.«
»Hat sie kein Telefon im Zimmer?«
»Nein.«
»Konnen Sie sie nicht wecken?«
Die Stimme zogerte. »Nein. Sie soll heute auch nicht aufstehen.«
»Ist etwas passiert?«
»Nein. Sie mu? nur die nachsten Tage im Bett bleiben.«
»Ist bestimmt nichts passiert?«
»Nein, nein, das ist immer so im Anfang. Sie mu? im Bett bleiben und sich erst gewohnen.«
Ich hangte ab. »Schon zu spat, was?« fragte Fred.
»Wie meinst du das?«
Er zeigte mir seine Uhr. »Es geht schon auf zwolf.«
»Ja«, sagte ich. »Hatte gar nicht anrufen sollen.«
Ich ging zuruck und trank weiter.
Um zwei Uhr brachen wir auf. Lenz brachte Valentin und Ferdinand mit dem Taxi nach Hause. »Komm«, sagte Koster zu mir und lie? Karls Motor an.
»Ich kann die paar Schritte schon zu Fu? gehen, Otto.«
Er sah mich an. »Wir fahren noch etwas 'raus.«
»Gut.« Ich stieg ein.
»Fahr du«, sagte Koster.
»Unsinn, Otto. Ich kann nicht fahren, ich bin betrunken.«
»Fahr schon! Auf meine Verantwortung.«
»Du wirst es sehen«, sagte ich und setzte mich ans Steuer.
Der Motor rohrte. Das Steuerrad zitterte in meiner Hand. Die Stra?en schaukelten an mir voruber, die Hauser schwankten, und die Laternen standen schrag im Regen. »Es geht nicht, Otto«, sagte ich. »Ich haue irgendwo gegen.«
»Hau dagegen«, erwiderte er.
Ich sah ihn an. Sein Gesicht war klar, gespannt und beherrscht. Er blickte auf die Stra?e vor uns. Ich druckte den Rucken gegen die Sitzlehne und fa?te das Steuerrad fester. Ich bi? die Zahne aufeinander und kniff die Augen zusammen. Langsam wurde die Stra?e deutlicher.
»Wohin, Otto?« fragte ich.
»Weiter 'raus.«
Wir erreichten die Ausfallstra?e, die aus der Stadt fuhrte, und kamen auf die Chaussee. »Gro?e Scheinwerfer«, sagte Koster.
Die Betonstra?e leuchtete hellgrau vor uns auf. Es regnete nur noch wenig, aber die Tropfen schlugen mir wie Hagelkorner ins Gesicht. Der Wind kam in schweren Sto?en, die Wolken hingen niedrig, dicht uber dem Walde waren sie zerrissen und Silber tropfte hindurch. Der Nebel hinter meinen Augen verflog. Das Brausen des Motors schlug durch meine Arme in meinen Korper. Ich spurte die Maschine und ihre Kraft. Die Explosionen der Zylinder erschutterten die dumpfe Starrheit meines Schadels. Die Kolben hammerten wie Pumpen durch mein Blut. Ich griff zu. Der Wagen scho? die Landstra?e entlang.
»Schneller«, sagte Koster.
Die Reifen begannen zu pfeifen. Baume und Telegrafenstangen flogen surrend voruber. Ein Dorf polterte vorbei. Ich war jetzt ganz klar.
»Mehr Gas«, sagte Koster.
»Kann ich ihn dann noch halten? Die Stra?e ist na?.«
»Wirst es schon merken. Vor den Kurven umschalten auf den dritten Gang und mit Gas herum.«
Der Motor brullte auf. Die Luft knallte gegen mein Gesicht. Ich duckte mich hinter die Windschutzscheibe. Und plotzlich rutschte ich in das Donnern der Maschine hinein, Wagen und Korper wurden eins, eine einzige Spannung, ein hohes Vibrieren, ich fuhlte die Rader unter meinen Fu?en, ich fuhlte den Boden, die Stra?e, die Geschwindigkeit, mit einem Ruck schob sich etwas zurecht, die Nacht heulte und sauste, sie schlug alles andere aus mir heraus, die Lippen pre?ten sich aufeinander, die Hande wurden Klammern, ich war nur noch Fahren und Rasen, besinnungslos gleichzeitig und mit hochster Aufmerksamkeit.
In einer Kurve schleuderte der Wagen hinten weg. Ich steuerte gegen, einmal, zweimal und gab Gas. Einen Augenblick war alles lose wie ein Luftballon, dann fing sich der Wagen wieder.
»Gut«, sagte Koster.
»Es war nasses Laub«, erwiderte ich und spurte die Warme und Gelostheit, die nach jeder Gefahr uber die Haut stromt.
Koster nickte. »Das ist das Verfluchte bei Waldkurven im Herbst. Willst du eine Zigarette?«
»Ja«, sagte ich.