Anfang an wissen sollen. Wenn es ein Haarwasser gabe, das wirklich Haar wachsen lie?e, gabe es nur das eine, und die anderen waren langst pleite.
Bauer kommt zuruck.»Na, was gefunden?«
»Nein.«
Er betrachtet die beiseite geschobenen Bande.»Also Fakir hat keinen Zweck, was?«
Ich weise den schlichten Witzbold nicht direkt zurecht.
»Bucher haben uberhaupt keinen Zweck«, sage ich statt dessen.»Wenn man sieht, was hier alles geschrieben ist und wie es trotzdem in der Welt aussieht, sollte man nur noch die Speisekarte, im Walhalla und die Familiennachrichten im Tageblatt lesen.«
»Wieso?«fragt der Buchhandler, Gatte und Vater leicht erschreckt.»Lesen bildet, das wei? jeder.«
»Wirklich?«
»Naturlich! Wo blieben sonst wir Buchhandler?«
Arthur saust wieder davon. Ein Mann mit kurzgestutztem Schnurrbart verlangt das Werk»Im Felde unbesiegt«.
Es ist der gro?e Schlager der Nachkriegszeit. Ein arbeitsloser General beweist darin, da? das deutsche Heer im Kriege bis zum Ende siegreich war.
Arthur verkauft die Geschenkausgabe in Leder mit Goldschnitt. Besanftigt durch das gute Geschaft kommt er zuruck.»Wie war’s mit etwas Klassischem? Antiquarisch naturlich!«
Ich schuttle den Kopf und zeige wortlos ein Buch vor, das ich inzwischen auf dem Auslagetisch gefunden habe. Es ist»Der Mann von Welt«, ein Brevier fur gute Manieren in allen Lebenslagen. Geduldig erwarte ich die unumganglichen schalen Witze uber Fakir-Kavaliere und so ahnliches. Aber Arthur witzelt nicht.»Nutzliches Buch«, erklart er sachlich.»Sollte in Massenau?age erscheinen. Also gut, dann sind wir quitt, was?«
»Noch nicht. Ich habe noch etwas zugut.«Ich hebe einen dunnen Band hoch.»Das Gastmahl«von Plato.»Das kommt noch dazu.«
Arthur rechnet im Kopf.»Stimmt nicht ganz, aber meinetwegen. Rechnen wir „Das Gastmahl“ antiquarisch.«
Ich lasse mir das Brevier fur gute Manieren in Papier einschlagen und mit Bindfaden verknoten. Ich mochte um nichts in der Welt damit von jemand erwischt werden. Trotzdem beschlie?e ich, es heute abend zu studieren. Etwas Schliff kann niemand schaden, und Ernas Beschimpfungen sitzen mir noch in den Knochen. Der Krieg hat uns ziemlich verwildert, und ?egelige Manieren kann man sich heute nur noch leisten, wenn eine dicke Brieftasche sie zudeckt. Die aber habe ich nicht.
Zufrieden trete ich auf die Stra?e. Larmend dringt drau?en das Dasein sofort auf mich ein. In einem brandroten Kabriolett saust Willy an mir voruber, ohne mich zu sehen. Ich presse das Brevier fur Weltleute fest unter den Arm. Rein ins Leben! denke ich. Hoch die irdische Liebe! Fort mit den Traumen! Fort mit den Gespenstern! Das gilt fur Erna sowohl als auch fur Isabelle. Fur meine Seele habe ich ja immer noch den Plato.
Der Altstadter Hof ist eine Kneipe, in der wandernde Artisten, Zigeuner und Fuhrleute verkehren. Im ersten Stock gibt es ein Dutzend Zimmer zu vermieten, und im Hinterhaus be?ndet sich ein gro?er Saal mit einem Klavier und einer Anzahl Turngeraten, in dem die Artisten ihre Nummern uben konnen. Das Hauptgeschaft aber ist die Kneipe. Sie gilt nicht nur als Treffpunkt der Wanderer vom Variete; auch die Unterwelt der Stadt verkehrt hier.
Ich offne die Tur zum hinteren Saal. Am Klavier steht Renee de la Tour und ubt ein Duett. Im Hintergrund dressiert ein Mann zwei wei?e Spitze und einen Pudel. Zwei kraftige Frauen liegen auf einer Matte und rauchen, und am Trapez, die Fu?e zwischen die Hande unter die Stange gesteckt, den Rucken durchgedruckt, schwingt Gerda auf mich los wie eine ?iegende Galions?gur.
Die beiden kraftigen Frauen sind im Badeanzug. Sie rakeln sich, und ihre Muskeln spielen. Es sind ohne Zweifel die Ringkampferinnen vom Programm des Altstadter Hofes. Renee brullt mir mit erstklassiger Kommandostimme guten Abend zu und kommt zu mir heruber. Der Dresseur pfeift. Die Hunde schlagen Saltos. Gerda saust gleichma?ig auf dem Trapez hin und zuruck und erinnert mich an den Augenblick, als sie mich in der Roten Muhle zwischen ihren Beinen hindurch ansah. Sie tragt ein schwarzes Trikot und um das Haar ein festgeknotetes rotes Tuch.
»Sie ubt«, erklart Renee.»Sie will zum Zirkus zuruck.«
»Zum Zirkus?«Ich sehe Gerda mit neuem Interesse an.
»War sie schon einmal beim Zirkus?«
»Naturlich. Da ist sie ja gro? geworden. Aber der Zirkus ist pleite gegangen. Konnte das Fleisch fur die Lowen nicht mehr bezahlen.«
»War sie mit den Lowen?«
Renee lacht wie ein Feldwebel und sieht mich spottisch an.»Das ware aufregend, was? Nein, sie war Akrobatin.«
Gerda saust wieder uber uns hin. Mit starren Augen sieht sie mich an, als wolle sie mich hypnotisieren. Sie meint mich aber gar nicht; sie starrt nur vor Anstrengung.
»Ist Willy eigentlich reich?«fragt Renee de la Tour.
»Ich glaube schon. Was man heute so reich nennt. Er hat Geschafte und einen Haufen Aktien, die jeden Tag steigen. Warum?«
»Ich habe es gern, wenn Manner reich sind.«Renee lacht mit ihrem Sopran.»Jede Dame hat das gern«, brullt sie dann wie auf dem Kasernenhof.
»Das habe ich gemerkt«, erklare ich bitter.»Ein reicher Schieber ist besser als ein ehrenhafter armerer Angestellter.«
Renee schuttelt sich vor Lachen.»Reich und ehrlich geht nicht zusammen, Baby! Heute nicht! Wahrscheinlich fruher auch nie.«
»Hochstens, wenn man erbt oder das gro?e Los gewinnt.«
»Auch dann nicht. Geld verdirbt den Charakter, wissen Sie das noch nicht?«
»Das wei? ich. Aber weshalb legen Sie soviel Wert darauf?«
»Weil ich mir aus Charakter nichts mache«, zirpte Renee mit einer zimperlichen Altjungfernstimme.»Ich liebe Komfort und Sicherheit.«
Gerda saust mit einem perfekten Salto auf uns zu. Sie kommt einen halben Meter vor mir zum Stehen, wippt ein paarmal auf den Zehen hin und her und lacht.»Renee lugt«, sagt sie.
»Hast du gehort, was sie erzahlt hat?«
»Jede Frau lugt«, sagt Renee mit Engelsstimme.»Und wenn sie nicht lugt, ist sie nichts wert.«
»Amen«, erwidert der Hundedresseur.
Gerda streicht die Haare zuruck.»Ich bin hier fertig. Warte, bis ich mich umgezogen habe.«
Sie geht zu einer Tur, an der ein Schild mit der Aufschrift»Garderobe«hangt. Renee sieht ihr nach.»Sie ist hubsch«, erklart sie sachlich.»Schauen Sie, wie sie sich halt. Sie geht richtig, das ist die Hauptsache bei einer Frau. Hintern rein, nicht raus. Akrobaten lernen das.«
»Das habe ich schon einmal gehort«, sage ich.»Von einem Frauen- und Granitkenner. Wie geht man richtig?«
»Wenn man das Gefuhl hat, mit dem Hintern ein Funfmarkstuck festzuhalten – und es dann vergi?t.«
Ich versuche, mir das vorzustellen. Ich kann es nicht; ich habe seit zu langer Zeit kein Funfmarkstuck mehr gesehen. Aber ich kenne eine Frau, die auf diese Weise einen mittleren Nagel aus der Wand rei?en kann. Es ist Frau Beckmann, die Freundin des Schusters Karl Brill. Sie ist ein machtiges Weib, vollig aus Eisen. Karl Brill hat schon manche Wette mit ihr gewonnen, und ich habe ihre Kunst selbst bewundert. Ein Nagel wird in die Wand der Werkstatt eingeschlagen, nicht allzutief naturlich, aber so, da? es eines tuchtigen Ruckes mit der Hand bedurfte, ihn herauszurei?en. Dann wird Frau Beckmann geweckt. Sie erscheint unter den Trinkern in der Werkstatt im leichten Morgenrock, ernst, nuchtern und sachlich. Ein bi?chen Watte wird um den Nagelkopf gewunden, damit sie sich nicht verletzen kann, dann stellt sich Frau Beckmann hinter einen niedrigen Paravant, mit dem Rucken zur Wand, leicht gebuckt, den Morgenrock zuchtig umgeschlagen, die Hande auf den Paravant gelegt. Sie manovriert etwas, um den Nagel mit ihren Schinken zu fassen, strafft sich plotzlich, richtet sich auf, entspannt – und der Nagel fallt auf den Boden. Etwas Kalkstaub rieselt gewohnlich hinterher. Frau Beckmann, wortlos, ohne ein Zeichen von