»Wohin denn?«Wilke stochert nach Graten in seinen Zahnen.»Da liegt ja der Haken! In ein Hotel? Zu teuer. Dazu die Angst vor Polizei-Razzien. In die stadtischen Anlagen? Wieder die Polizei! Hier in den Hof? Da ist meine Werkstatt doch noch besser.«

»Haben Sie keine Wohnung?«

»Mein Zimmer ist nicht sturmfrei. Meine Vermieterin ist ein Drache. Vor Jahren habe ich mal was mit ihr gehabt. In au?erster Not, verstehen Sie? Nur kurz – aber der Satan ist heute, zehn Jahre spater, noch eifersuchtig. Mir bleibt nur die Werkstatt. Also, wie ist es mit einem Freundschaftsdienst? Stellen Sie mich der Dame im Sweater vor!«

Ich zeige stumm auf das leergefressene Sprottenkistchen. Wilke wirft es in den Hof und geht zum Wasserhahn, um sich die Pfoten zu waschen.»Ich habe oben noch eine Flasche erstklassigen Portwein- Verschnitt.«

»Behalten Sie das Gesoff fur Ihre nachste Bajadere.«

»Bis dahin wird Tinte daraus. Aber es gibt noch mehr Sprotten in der Welt als dieses eine Kistchen.«

Ich zeige auf meine Stirn und gehe ins Buro, um mir einen Zeichenblock und einen Klappsessel zu holen und fur Frau Niebuhr ein Mausoleum zu entwerfen. Ich setze mich neben den Obelisken – so kann ich gleichzeitig das Telefon horen und die Stra?e und den Hof uberblicken. Die Zeichnung des Denkmals werde ich mit der Inschrift schmucken: Hier ruht nach langem, schwerem Leiden der Major a. D. Wolkenstein, gestorben im Mai 1923.

Eines der Knopfmadchen kommt und bestaunt meine Arbeit. Es ist einer der Zwillinge, die kaum zu unterscheiden sind. Die Mutter kann es, am Geruch, Knopf ist es egal, und von uns anderen kann es keiner genau. Ich versinke in Gedanken daruber, wie es sein mu?te, wenn man einen Zwilling heiratete und der zweite wohnte im selben Hause.

Gerda unterbricht mich. Sie steht im Hofeingang und lacht. Ich lege meine Zeichnung beiseite. Der Zwilling verschwindet. Wilke hort auf, sich zu waschen. Er zeigt hinter Gerdas Rucken auf das leere Sprottenkistchen, das die Katze durch den Hof schiebt, dann auf sich und hebt zwei Finger. Dazu ?ustert er lautlos:»Zwei.«

Gerda tragt heute einen grauen Sweater, einen grauen Rock und eine schwarze Baskenmutze. Sie sieht nicht mehr aus wie ein Papagei; sie ist hubsch und sportlich und guter Laune. Ich blicke sie mit neuen Augen an. Eine Frau, die ein anderer begehrt, auch wenn es nur ein liebestoller Sargtischler ist, wird sofort kostbarer als vorher. Der Mensch lebt nun einmal viel mehr vom relativen als vom absoluten Wert.

»Warst du heute in der Roten Muhle?«frage ich.

Gerda nickt.»Eine Stinkbude! Ich habe da geprobt. Wie ich diese Lokale mit dem kalten Tabakqualm hasse!«

Ich sehe sie beifallig an. Wilke hinter ihr knopft sein Hemd zu, streicht sich die Hobelspane aus dem Schnurrbart und fugt seinem Angebot drei Finger hinzu. Funf Kistchen Sprotten! Ein schones Angebot, aber ich beachte es nicht. Vor mir steht das Gluck einer Woche, klar, fest, ein Gluck, das nicht schmerzt – das einfache Gluck der Sinne und der gema?igten Phantasie, das kurze Gluck eines Nachtklub-Engagements von vierzehn Tagen, ein Gluck, das schon halb voruber ist, das mich von Erna erlost hat und das selbst Isabelle zu dem gemacht hat, was sie sein sollte: eine Fata Morgana, die nicht schmerzt und die keine Wunsche weckt, die unerfullbar sind.

»Komm, Gerda«, sage ich voll plotzlich aufschie?ender sachlicher Dankbarkeit.»La? uns heute erstklassig essen gehen! Bist du hungrig?«

»Ja, sehr. Wir konnen irgendwo -«

»Nichts von Kartoffelsalat heute und nichts von Wurstchen! Wir werden hervorragend essen und ein Jubilaum feiern: die Mitte unseres gemeinsamen Lebens. Vor einer Woche warst du zum erstenmal hier; in einer Woche wirst du mir vom Bahnhof aus Lebewohl zuwinken. La? uns das erste feiern und an das zweite nicht denken!«

Gerda lacht.»Ich habe auch gar keinen Kartoffelsalat machen konnen. Zuviel Arbeit. Zirkus ist was anderes als blodes Kabarett.«

»Gut, dann gehen wir heute ins „Walhalla“. I?t du gern Gulasch?«

»Ich esse gern«, erwidert Gerda.

»Das ist es! La? uns dabei bleiben! Und nun auf zum Fest der gro?en Mitte unseres kurzen Lebens!«

Ich werfe den Zeichenblock durch das offene Fenster auf den Schreibtisch. Im Weggehen sehe ich noch Wilkes ma?los enttauschte Visage. Mit trostlosem Ausdruck halt er beide Hande hoch – zehn Kistchen Sprotten – ein Vermogen!

»Warum nicht?«sagt Eduard Knobloch kulant zu meinem Erstaunen. Ich hatte erbitterten Widerstand erwartet. Die E?marken gelten nur fur mittags, aber nach einem Blick auf Gerda ist Eduard nicht nur bereit, sie auch fur heute abend zu akzeptieren, er bleibt sogar am Tisch stehen:»Wurdest du mich bitte vorstellen?«

Ich bin in einer Zwangslage. Er hat die E?marken akzeptiert – also mu? ich ihn akzeptieren.»Eduard Knobloch, Hotelier, Restaurateur, Poet, Billionar und Geizhals«, erklare ich nachlassig.»Fraulein Gerda Schneider.«

Eduard verneigt sich, halb geschmeichelt, halb verargert.

»Glauben Sie ihm nichts von allem, gnadiges Fraulein.«

»Auch nicht deinen Namen?«frage ich.

Gerda lachelt.»Sie sind Billionar? Wie interessant!«

Eduard seufzt.»Nur ein Geschaftsmann mit allen Sorgen eines Geschaftsmannes. Horen Sie nicht auf diesen leichtfertigen Schwatzer da! Und Sie? Ein schones, strahlendes Ebenbild Gottes, sorgenlos wie eine Libelle uber den dunklen Teichen der Schwermut schwebend -«

Ich glaube, nicht recht gehort zu haben, und glotze Eduard an, als hatte er Gold gespuckt. Gerda scheint heute eine magische Anziehungskraft zu haben.»La? die Stuckornamente, Eduard«, sage ich.»Die Dame ist selbst Kunstlerin. Bin ich der dunkle Teich der Schwermut? Wo bleibt das Gulasch?«

»Ich ?nde, Herr Knobloch spricht sehr poetisch!«Gerda schaut Eduard mit unschuldiger Begeisterung an.»Wie ?nden Sie nur Zeit dafur? Mit so einem gro?en Haus und so vielen Kellnern! Sie mussen ein glucklicher Mensch sein! So reich und begabt dazu.«

»Es geht, es geht!«Eduards Gesicht glanzt.»So, Kunstlerin, Sie auch -«

Ich sehe, wie er von einem plotzlichen Mi?trauen erfa?t wird. Der Schatten Renee de la Tours gleitet ohne Zweifel voruber, wie eine Wolke uber den Mond.»Seriose Kunstlerin, nehme ich an«, sagt er.

»Serioser als du«, erwidere ich.»Fraulein Schneider ist auch keine Sangerin, wie du gerade geglaubt hast. Sie kann Lowen durch Reifen jagen und auf Tigern reiten. Und nun vergi? den Polizisten, der in dir, als echtem Sohn unseres geliebten Vaterlandes, steckt, und tisch auf!«

»So, Lowen und Tiger!«Eduards Augen haben sich geweitet.»Ist das wahr?«fragt er Gerda.»Dieser Mensch dort lugt so oft.«

Ich trete ihr unter dem Tisch auf den Fu?.»Ich war im Zirkus«, erwidert Gerda, die nicht versteht, was dabei so interessant ist.»Und ich gehe wieder zum Zirkus zuruck.«

»Was gibt es zu essen, Eduard?«frage ich ungeduldig.»Oder mussen wir erst einen ganzen Lebenslauf in vier Ausfertigungen einreichen?«

»Ich werde einmal personlich nachsehen«, sagt Eduard galant zu Gerda.»Fur solche Gaste! Der Zauber der Manege! Ah! Verzeihen Sie Herrn Bodmer sein erratisches Benehmen. Er ist unter Torfbauern im Kriege aufgewachsen und hat seine Erziehung einem hysterischen Brieftrager zu verdanken.«

Er watschelt davon.»Ein stattlicher Mann«, erklart Gerda.»Ist er verheiratet?«

»Er war es. Seine Frau ist ihm davongelaufen, weil er so geizig ist.«

Gerda befuhlt den Damast des Tischtuches.»Sie mu? eine dumme Person gewesen sein«, sagt sie traumerisch.»Ich habe sparsame Leute gern. Sie halten ihr Geld zusammen.«

»Das ist in der In?ation das Dummste, was es gibt.«

»Man mu? es naturlich gut anlegen.«Gerda betrachtet die schwer versilberten Messer und Gabeln.»Ich glaube, dein Freund hier macht das schon richtig – auch wenn er ein Poet ist.«

Ich sehe sie leicht uberrascht an.»Das mag sein«, sage ich.»Aber andere haben nichts davon. Am wenigsten seine Frau. Die lie? er von morgens bis nachts schuften. Verheiratet sein hei?t bei Eduard: umsonst fur ihn arbeiten.«

Gerda lachelt ungewi? wie die Mona Lisa.»Jeder Geldschrank hat seine Nummer, wei?t du das noch nicht,

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