Ich denke nach.»Man ware blind oder taub; oder konnte nichts schmecken. Es ware ein gro?er Unterschied.«
»Und mit einem mehr? Warum sollen wir immer gerade auf funf Sinne beschrankt bleiben? Warum konnen wir nicht vielleicht eines Tages sechs entwickeln? Oder acht? Oder zwolf? Wurde die Welt dann nicht vollig anders sein? Vielleicht verschwande beim sechsten schon der Begriff Zeit. Oder der des Raumes. Oder der des Todes. Oder der des Schmerzes. Oder der der Moral. Sicher der des heutigen Lebensbegriffes. Wir wandern mit ziemlich beschrankten Organen durch unser Dasein. Ein Hund hort besser als jeder Mensch. Eine Fledermaus fuhlt ihren Weg blind durch alle Hindernisse. Ein Schmetterling hat einen Radioempfanger in sich und ?iegt damit uber viele Kilometer direkt auf sein Weibchen zu. Zugvogel sind uns in der Orientierung weit uberlegen. Schlangen horen mit der Haut. Die Naturwissenschaft wei? Hunderte solcher Beispiele. Wie konnen wir da irgend etwas bestimmt wissen? Eine Ausweitung eines Organs oder die Entwicklung eines neuen – und die Welt verandert sich, und der Gottbegriff verandert sich. Prost!«
Ich hebe mein Glas und trinke. Der Mosel ist herbe und erdig.»Es ist also besser, zu warten, bis wir einen sechsten Sinn haben, was?«sage ich.
»Nicht notig. Sie konnen tun, was Sie wollen. Aber es ist gut zu wissen, da? ein Sinn mehr alle Schlusse uber den Haufen werfen wurde. Tierischer Ernst schwindet davor dahin. Wie ist der Wein?«
»Gut. Wie ist es mit Fraulein Terhoven? Besser?«
»Schlechter. Ihre Mutter war hier – sie hat sie nicht erkannt.«
»Vielleicht hat sie es nicht gewollt.«
»Das ist fast dasselbe; sie hat sie nicht erkannt. Sie hat sie angeschrien, wegzugehen. Typischer Fall.«
»Warum?«
»Wollen Sie einen langen Vortrag uber Schizophrenie, Elternkomplex, Flucht vor sich selbst und Schockwirkung horen?«
»Ja«, sage ich.»Heute ja.«
»Sie werden ihn nicht horen. Nur das Notigste. Spaltpersonlichkeit ist gewohnlich Flucht vor sich selbst.«
»Was ist man selbst?«
Wernicke sieht mich an.»Lassen wir das heute. Flucht in eine andere Personlichkeit. Oder in mehrere. Meistens springt der Patient zwischendurch immer wieder fur kurze oder langere Zeit in seine eigene zuruck. Genevieve nicht. Seit langem nicht mehr.
»Sie wirkt ganz vernunftig, so wie sie jetzt ist.«
Wernicke lacht.»Was ist Vernunft? Logisches Denken?«
Ich denke an die kommenden zwei neuen Sinne und antworte nicht.»Ist sie sehr krank?«frage ich.
»Nach unseren Begriffen, ja. Aber es gibt schnelle und oft uberraschende Heilungen.«
»Heilungen – wovon?«
»Von ihrer Krankheit.«Wernicke zundet sich eine Zigarette an.
»Sie ist oft ganz glucklich. Warum lassen Sie sie nicht so, wie sie ist?«
»Weil ihre Mutter fur die Behandlung zahlt«, erklart Wernicke trocken.»Au?erdem ist sie nicht glucklich.«
»Glauben Sie, da? sie glucklicher ware, wenn sie gesund wurde?«
»Wahrscheinlich nicht. Sie ist emp?ndlich, intelligent, anscheinend voll Phantasie und wohl erblich belastet. Eigenschaften, die nicht unbedingt glucklich machen. Wenn sie glucklich gewesen ware, ware sie kaum ge?uchtet.«
»Warum la?t man sie denn nicht in Frieden?«
»Ja, warum nicht?«sagt Wernicke.»Das frage ich mich auch oft. Warum operiert man Kranke, von denen man wei?, da? die Operation doch nicht helfen wird? Wollen wir eine Liste der Warums aufstellen? Sie wurde lang werden. Eines der Warums wurde sein: Warum trinken Sie nicht Ihren Wein und halten endlich mal die Klappe? Und warum spuren Sie nicht die Nacht statt Ihr unausgewaschenes Gehirn? Warum reden Sie uber das Leben, anstatt es zu fuhlen?«
Er steht auf und dehnt sich.»Ich mu? zur Nachtvisite zu den Geschlossenen. Wollen Sie mitkommen?«
»Ja.«
»Ziehen Sie einen wei?en Kittel uber. Ich nehme Sie mit in eine besondere Abteilung. Entweder kotzen Sie nachher, oder Sie sind fahig, Ihren Wein mit tiefer Dankbarkeit zu genie?en.«
»Die Flasche ist leer.«
»Ich habe noch eine auf meiner Bude. Moglich, da? wir sie brauchen. Wissen Sie, was merkwurdig ist? Da? Sie fur Ihre funfundzwanzig Jahre schon eine erhebliche Menge Tod, Elend und menschliche Idiotie gesehen haben – und trotzdem nichts anderes daraus gelernt zu haben scheinen, als die damlichsten Fragen zu stellen, die man sich denken kann. Aber das ist wohl der Lauf der Welt – wenn wir endlich wirklich was gelernt haben, sind wir zu alt, es anzuwenden – und so geht das weiter, Welle auf Welle, Generation auf Generation. Keine lernt das geringste von der anderen. Kommen Sie!«
Wir sitzen im Cafe Central – Georg, Willy und ich. Ich wollte heute nicht allein zu Hause bleiben. Wernicke hat mir eine Abteilung der Irrenanstalt gezeigt, die ich noch nicht kannte – die der Kriegsverletzten. Es sind die Kopfschusse, die Verschutteten und die Zusammengebrochenen. Inmitten des milden Sommerabends stand diese Abteilung da wie ein ?nsterer Unterstand im Gesang der Nachtigallen ringsum. Der Krieg, der uberall bereits fast vergessen ist, geht in diesen Raumen immer noch weiter. Die Explosionen der Granaten sind immer noch in diesen armen Ohren, die Augen spiegeln noch wie vor funf Jahren das fassungslose Entsetzen, Bajonette bohren sich ohne Unterla? weiter in weiche Bauche, Tanks zermalmen jede Stunde schreiende Verwundete und pressen sie ?ach wie Flundern, das Donnern der Schlacht, das Krachen der Handgranaten, das Splittern der Schadel, das Rohren der Minen, das Ersticken in zusammensturzenden Unterstanden ist durch eine schreckliche schwarze Magie hier praserviert worden und tobt nun schweigend in diesem Pavillon zwischen Rosen und Sommer weiter. Befehle werden gegeben, und unhorbaren Befehlen wird gehorcht, die Betten sind Schutzengraben und Unterstande, immer aufs neue werden sie verschuttet und ausgegraben, es wird gestorben und getotet, erwurgt und erstickt, Gas treibt durch die Raume, und Agonien von Angst losen sich in Brullen und Kriechen und entsetztem Rocheln und Weinen und oft nur in Kauern und Schweigen in einer Ecke, so klein geduckt wie nur moglich, das Gesicht zur Wand, fest angepre?t…
»Aufstehen!«brullen plotzlich ein paar jugendliche Stimmen hinter uns. Eine Anzahl Gaste schnellt schneidig von den Tischen hoch. Die Cafekapelle spielt»Deutschland, Deutschland uber alles«. Es ist das viertemal heute abend. Es ist nicht die Kapelle, die so nationalistisch ist; auch nicht der Wirt. Es ist eine Anzahl junger Radaubruder, die sich wichtig machen wollen. Alle halbe Stunde geht einer zur Kapelle und bestellt die Nationalhymne. Er geht hin, als zoge er in die Schlacht. Die Kapelle wagt nicht, sich zu widersetzen, und so erklingt das Deutschlandlied anstatt der Ouverture zu»Dichter und Bauer«.»Aufstehen!«schallt es dann jedesmal von allen Seiten, denn beim Klang der Nationalhymne erhebt man sich von den Sitzen, besonders, wenn sie zwei Millionen Tote, einen verlorenen Krieg und die In?ation eingebracht hat.
»Aufstehen!«schreit mir ein etwa siebzehnjahriger Lummel zu, der bei Ende des Krieges nicht mehr als zwolf Jahre alt gewesen sein kann.
»Leck mich am Arsch«, erwidere ich,»und geh zuruck in die Schule.«
»Bolschewist!«schreit der Junge, der sicher noch nicht einmal wei?, was das ist.»Hier sind Bolschewisten, Kameraden!«
Es ist der Zweck dieser Flegel, Radau zu machen. Sie bestellen die Nationalhymne immer wieder, und immer wieder steht eine Anzahl Leute nicht auf, weil es ihnen zu dumm ist. Mit leuchtenden Augen sturzen die Schreihalse dann heran und suchen Streit. Irgendwo sitzen ein paar abgedankte O?ziere, dirigieren sie und fuhlen sich patriotisch.
Ein Dutzend steht jetzt um unsern Tisch herum.»Aufstehen, oder es passiert was!«
»Was?«fragt Willy.
»Das werdet ihr bald sehen! Feiglinge! Vaterlandsverrater! Auf!«
»Geht vom Tisch weg«, sagt Georg ruhig.»Glaubt ihr, wir brauchen Befehle von Minderjahrigen?«
Ein etwa drei?igjahriger Mann schiebt sich durch die Gesellschaft.»Haben Sie keinen Respekt vor Ihrer