»Der von Ich und Welt. Von Sein und Leben. Objekt und Subjekt sind nicht mehr eins. Geburt und Tod sind die Folgen. Die Kette klirrt. Wer sie zerrei?t, zerrei?t auch Geburt und Tod. La?t es uns versuchen, Rabbi Kroll!«
Der Wein dampft. Er riecht nach Gewurznelken und Zitronen. Ich gebe Zucker hinein, und wir trinken. Beifall kommt aus der Kabine des Sklavenschiffes Mohammed ben Hassan ben Jussuf ben Watzek auf der anderen Seite des Golfes. Wir verneigen uns und setzen die Glaser nieder.»Wir sind also unsterblich?«fragt Georg kurz und ungeduldig.
»Nur hypothetisch«, erwidere ich.»In der Theorie – denn unsterblich ist der Gegensatz zu sterblich – also bereits eine Dualitatshalfte. Erst wenn der Schleier der Maja vollig rei?t, geht die Dualitat zum Teufel. Dann ist man heimgekehrt, nicht mehr Objekt und Subjekt, sondern beides in einem, und alle Fragen sterben.«
»Das ist nicht genug!«
»Was gibt es weiter?«
»Man ist. Punkt.«
»Auch das ist der Teil eines Paares: Man ist, man ist nicht. Immer noch Dualitat, Kapitan! Wir mussen daruber hinaus!«
»Wie? Wenn wir die Schnauze aufmachen, haben wir sofort wieder den Teil eines anderen Paares am Wickel. Das geht nicht so weiter! Sollen wir stumm durchs Leben gehen?«
»Das ware der Gegensatz zu nicht-stumm.«
»Ver?ucht! Wieder eine Falle! Was tun, Steuermann?«
Ich schweige und hebe das Glas hoch. Rot leuchtet der Re?ex des Weines. Ich zeige auf den Regen und hebe ein Stuck Granit von den Gesteinsproben hoch. Dann zeige ich auf Lisa, auf den Re?ex im Glase, das Fluchtigste der Welt, auf den Granit, das Bestandigste der Welt, stelle das Glas und den Granit fort und schlie?e die Augen. Etwas wie ein Schauer lauft mir bei all dem Hokuspokus plotzlich den Rucken entlang. Sind wir vielleicht unwissentlich auf eine Spur geraten? Haben wir im Suff einen magischen Schlussel erwischt? Wo ist auf einmal das Zimmer? Treibt es im Universum? Wo ist die Welt? Passiert sie gerade die Plejaden? Und wo ist der rote Re?ex des Herzens? Ist er Polarstern, Achse und Zentrum in einem?
Frenetisches Beifallsklatschen von gegenuber. Ich offne die Augen. Einen Moment ist keine Perspektive da. Alles ist ?ach und weit und nah und rund zur selben Zeit und hat keinen Namen. Dann wirbelt es zuruck und steht still und ist wieder das, was es hei?t. Wann war das schon einmal so? Es war schon einmal so! Ich wei? es irgendwoher, aber es fallt mir nicht ein.
Lisa schwenkt eine Flasche Kakaolikor aus dem Fenster. In diesem Augenblick geht die Turglocke. Wir winken Lisa hastig zu und schlie?en das Fenster. Bevor Georg verschwinden kann, offnet sich die Burotur, und Liebermann, der Friedhofswarter des Stadtfriedhofes, tritt ein. Er umfa?t mit einem Blick den Spirituskocher, den Gluhwein und Georgs Pyjama und krachzt:»Geburtstag?«
»Grippe«, erwidert Georg.
»Gratuliere!«
»Was ist da zu gratulieren?«
»Grippe bringt Geschaft. Ich merke as drau?en. Bedeutend mehr Tote.«
»Herr Liebermann«, sage ich zu dem rustigen Achtzigjahrigen.»Wir sprechen nicht vom Geschaft. Herr Kroll hat einen schweren kosmischen Grippeanfall, den wir soeben heroisch bekampfen. Wollen Sie auch ein Glas Medizin?«
»Ich bin Schnapstrinker. Wein macht mich nur nuchtern.«
»Wir haben auch Schnaps.«
Ich schenke ihm ein Wasserglas voll ein. Er trinkt einen guten Schluck, nimmt dann seinen Rucksack ab und holt vier Forellen hervor, die in gro?e grune Blatter eingeschlagen sind. Sie riechen nach Flu? und Regen und Fisch.
»Ein Geschenk«, sagt Liebermann.
Die Forellen liegen mit gebrochenen Augen auf dem Tisch. Ihre grune und graue Haut ist voll roter Flecken. Wir starren sie an. Sanft ist der Tod plotzlich wieder in den Raum eingebrochen, in dem soeben noch die Unsterblichkeit schwang – sanft und schweigend, mit dem Vorwurf der Kreatur gegen den Morder und Allesesser Mensch, der von Frieden und Liebe redet und Lammern die Kehle zerschneidet und Fische ersticken la?t, um Kraft genug zu haben, weiter uber Frieden und Liebe zu reden – Bodendiek, den Mann Gottes und saftigen Fleischesser, nicht ausgenommen.
»Ein schones Abendessen«, sagt Liebermann.»Besonders fur Sie, Herr Kroll. Leichte Krankenkost.«
Ich trage die toten Fische in die Kuche und ubergebe sie Frau Kroll, die sie fachkundig betrachtet.»Mit frischer Butter, gekochten Kartoffeln und Salat«, erklart sie.
Ich sehe mich um. Die Kuche glanzt, Licht strahlt aus den Kochtopfen zuruck, eine Pfanne zischt, und es riecht gut. Kuchen sind immer ein Trost. Der Vorwurf schwindet aus den Augen der Forellen. Aus toten Kreaturen wird plotzlich Nahrung, die man verschiedenartig zubereiten kann. Fast scheint es, als waren sie nur deswegen geboren worden. Was fur Verrater wir doch sind, denke ich, an unseren edleren Gefuhlen!
Liebermann hat einige Adressen gebracht. Die Grippe wirkt sich tatsachlich bereits aus. Leute sterben, weil sie nicht viel Widerstandskraft haben. Der Hunger wahrend des Krieges hat sie ohnehin schon geschwacht. Ich beschlie?e plotzlich, mir einen anderen Beruf zu suchen. Ich bin des Todes mude. Geoerg hat sich seinen Bademantel geholt. Er sitzt wie ein schwitzender Buddha da. Der Bademantel ist giftgrun. Georg liebt zu Hause scharfe Farben. Ich wei? jetzt auf einmal, woran mich unser Gesprach vorhin erinnert hat. An etwas, was Isabelle vor einiger Zeit gesagt hat. Ich erinnere mich nicht mehr genau daran – aber es hatte mit dem Betrug der Dinge zu tun. Doch war es bei uns wirklich ein Betrug? Oder waren wir Gott einen Augenblick um einen Zentimeter naher?
Die Dichterklause im Hotel»Walhalla«ist ein kleiner getafelter Raum. Eine Buste Goethes steht auf einem Regal mit Buchern, und Photographien und Stiche von deutschen Klassikern, Romantikern und ein paar modernen Schriftstellern hangen herum. Die Klause ist der Versammlungsort fur den Dichterklub und die geistige Elite der Stadt. Jede Woche ist eine Sitzung. Selbst der Redakteur des Tageblattes erscheint ab und zu und wird offen umschmeichelt und geheim geha?t, je nachdem, ob er Beitrage angenommen oder abgelehnt hat. Er macht sich nichts daraus. Wie ein milder Onkel schwebt er durch den Tabakrauch, verlastert, angegriffen und verehrt – nur in einem sind sich alle uber ihn einig: da? er nichts von moderner Literatur versteht. Hinter Theodor Storm, Eduard Morike und Gottfried Keller beginnt fur ihn die gro?e Wuste.
Au?er ihm kommen noch ein paar Landgerichtsrate und pensionierte Beamte, die an Literatur interessiert sind; Arthur Bauer und einige seiner Kollegen; die Poeten der Stadt, ein paar Maler und Musiker, und ab und zu als Gast ein Au?enseiter. Arthur Bauer wird gerade von dem Speichellecker Matthias Grund umkrochen, der hofft, Arthur werde sein»Buch vom Tode in sieben Abteilungen«verlegen. Eduard Knobloch, der Grunder des Klubs, erscheint. Er wirft einen raschen Blick durch den Raum und heitert sich auf. Einige seiner Kritiker und Feinde sind nicht da. Er setzt sich zu meinem Erstaunen neben mich. Ich habe das nach dem Abend mit dem Huhn nicht erwartet.»Wie geht’s?«fragt er zudem ganz menschlich, nicht in seinem Speisesaalton.
»Brillant«, sage ich, weil ich wei?, da? ihn das argert.
»Ich habe eine neue Sonett-Serie vor«, erklart er, ohne darauf einzugehen.»Ich hoffe doch, du hast nichts dagegen.«
»Was soll ich dagegen haben? Ich hoffe, sie reimen sich.«
Ich bin Eduard uberlegen, weil ich bereits zwei Sonette im Tageblatt veroffentlicht habe; er jedoch nur zwei Lehrgedichte.»Es ist ein Zyklus«, sagt er, zu meiner Uberraschung leicht verlegen.»Die Sache ist: Ich mochte ihn „Gerda“ nennen.«
»Nenne ihn, wie du -«Ich unterbreche mich.»Gerda, sagst du? Warum Gerda? Gerda Schneider?«
»Unsinn! Einfach Gerda.«
Ich mustere den fetten Riesen argwohnisch.»Was soll denn das hei?en?«
Eduard lacht falsch.»Nichts. Nur eine poetische Lizenz. Die Sonette haben etwas mit Zirkus zu tun. Entfernt, naturlich. Wie du wei?t, belebt es die Phantasie, wenn sie – auch nur theoretisch – konkret ?xiert wird.«
»La? die Faxen«, sage ich.»Komm raus mit der Sprache! Was soll das hei?en, du Falschspieler?«
»Falschspieler?«erwidert Eduard mit gespielter Emporung.»Das kann man wohl eher von dir sagen! Hast du nicht getan, als ware die Dame eine Sangerin wie die ekelhafte Freundin von Willy?«