wo Worte und Gefuhle eins und Luge und Vision dasselbe sind.
»Warum sagst du nichts?«fragt sie.
Ich hebe die Schultern.»Manchmal kann man nichts sagen, Isabelle. Und es ist oft schwer, loszulassen.«
»Was loszulassen?«
»Sich selbst. Da sind viele Widerstande.«
»Ein Messer kann sich nicht selbst schneiden, Rudolf. Wozu hast du Angst?«
»Ich wei? es nicht, Isabelle.«
»Warte nicht zu lange, Liebster. Sonst ist es zu spat. Man braucht Worte«, murmelt sie.
Ich antworte nicht.»Gegen die Angst, Rudolf«, sagt sie.»Sie sind wie Lampen. Sie helfen. Siehst du, wie grau alles wird? Kein Blut ist jetzt mehr rot. Warum hilfst du mir nicht?«
Ich gebe meinen Widerstand endlich auf.»Du su?es, fremdes und geliebtes Herz«, sage ich.»Wenn ich dir nur helfen konnte!«
Sie beugt sich vor und legt die Arme um meine Schultern.
»Komm mit mir! Hilf mir! Sie rufen!«
»Wer ruft?«
»Horst du sie nicht? Die Stimmen. Sie rufen immerfort!«
»Niemand ruft, Isabelle. Nur dein Herz. Aber was ruft es?«
Ich fuhle ihren Atem uber mein Gesicht wehen.»Liebe mich, dann ruft es nicht mehr«, sagt sie.
»Ich liebe dich.«
Sie la?t sich neben mich sinken. Ihre Augen sind jetzt geschlossen. Es wird dunkler, und ich sehe den Mann aus Glas langsam wieder voruberstelzen. Eine Schwester sammelt ein paar alte Leute ein, die gebeugt und unbeweglich wie dunkle Bundel Trauer auf Banken gesessen haben.»Es ist Zeit«, sagt sie in unsere Richtung.
Ich nicke und bleibe sitzen.»Sie rufen«, ?ustert Isabelle.»Man kann sie nie ?nden. Wer hat so viele Tranen?«
»Niemand«, sage ich.»Niemand in der Welt, geliebtes Herz.«
Sie antwortet nicht. Sie atmet wie ein mudes Kind neben mir. Dann hebe ich sie auf und trage sie durch die Allee zum Pavillon zuruck, in dem sie wohnt.
Als ich sie herunterlasse, stolpert sie und halt sich an mir fest. Sie murmelt etwas, das ich nicht verstehe, und la?t sich hineinfuhren. Der Eingang ist hell erleuchtet von einem schattenlosen, milchigen Licht. Ich setze sie in einen Korbstuhl in der Halle. Sie liegt mit geschlossenen Augen darin, als ware sie von einem unsichtbaren Kreuz abgenommen. Zwei Schwestern in schwarzer Tracht kommen vorbei. Sie sind auf dem Wege zur Kapelle. Einen Augenblick sieht es aus, als wollten sie Isabelle abholen und begraben. Dann kommt die wei?e Warterin und nimmt sie mit.
Die Oberin hat uns eine zweite Flasche Mosel gegeben. Bodendiek ist zu meinem Erstaunen trotzdem gleich nach dem Essen verschwunden. Wernicke bleibt sitzen. Das Wetter ist bestandig, und die Kranken sind so ruhig, wie sie sein konnen.
»Warum totet man die nicht, die vollig hoffnungslos sind?«frage ich.
»Wurden Sie sie toten?«fragt Wernicke zuruck.
»Das wei? ich nicht. Es ist dieselbe Frage wie bei einem langsam hoffnungslos Sterbenden, von dem man wei?, da? er nur noch Schmerzen haben wird. Wurden Sie ihm eine Spritze geben, damit er ein paar Tage weniger leide?«
Wernicke schweigt.
»Zum Gluck ist Bodendiek nicht hier«, sage ich.»Wir konnen uns also die moralische und religiose Erorterung schenken. Ich hatte einen Kameraden, dem der Bauch aufgerissen war wie ein Fleischerladen. Er ?ehte uns an, ihn zu erschie?en. Wir brachten ihn zum Lazarett. Er schrie dort noch drei Tage; dann starb er. Drei Tage sind eine lange Zeit, wenn man vor Schmerzen brullt. Ich habe viele Menschen krepieren sehen. Nicht sterben – krepieren. Allen hatte geholfen werden konnen mit einer Spritze. Meiner Mutter auch.«
Wernicke schweigt.
»Gut«, sage ich.»Ich wei?: Das Leben in einem Geschopf zu beenden ist immer wie ein Mord. Seit ich im Kriege war, tote ich sogar ungern eine Fliege. Trotzdem hat mir das Stuck Kalb heute abend gut geschmeckt, das man getotet hat, damit wir es essen. Das sind die alten Paradoxe und verhinderten Schlu?folgerungen. Das Leben ist ein Wunder, auch in einem Kalb und in einer Fliege. Besonders in einer Fliege – dieser Akrobatin mit ihren Tausenden von Augenfacetten. Es ist immer ein Wunder. Aber es wird immer beendet. Warum toten wir im Frieden einen kranken Hund und nicht einen wimmernden Menschen? Aber wir morden Millionen in nutzlosen Kriegen.«
Wernicke gibt immer noch keine Antwort. Ein gro?er Kafer summt um die Lampe. Er sto?t gegen die Birne, fallt, krabbelt, ?iegt wieder hoch und umkreist das Licht aufs neue. Seine Erfahrung benutzt er nicht.
»Bodendiek, der Beamte der Kirche, hat naturlich auf alles eine Antwort«, sage ich.»Tiere haben keine Seele, Menschen haben eine. Aber wo bleibt das Stuck Seele, wenn eine Windung des Gehirns beschadigt wird? Wo ist das Stuck, wenn jemand ein Idiot wird? Ist es schon im Himmel? Oder wartet es irgendwo auf den verkummerten Rest, der einen Menschenkorper noch sabbern, essen und ausscheiden la?t? Ich habe einige Ihrer Falle im geschlossenen Hause gesehen – Tiere sind dagegen Gotter. Wo ist die Seele bei den Idioten geblieben? La?t sie sich teilen? Oder hangt sie wie ein unsichtbarer Ballon uber den armen murmelnden Schadeln?«
Wernicke macht eine Bewegung, als scheuche er ein Insekt fort.
»Gut«, sage ich.»Das ist eine Frage fur Bodendiek, der sie mit Leichtigkeit losen wird. Bodendiek kann alles losen mit dem gro?en Unbekannten Gott, mit Himmel und Holle, dem Lohn fur die Leidenden und der Strafe fur die Bosen. Niemand hat je einen Beweis dafur gehabt – nur der Glaube macht selig, nach Bodendiek. Wozu haben wir dann aber Verstand, Kritik und die Sucht nach Beweisen bekommen? Um sie nicht zu brauchen? Ein sonderbares Spiel fur den gro?en Unbekannten! Und was ist die Ehrfurcht vor dem Leben? Angst vor dem Tode? Angst, immer Angst! Warum? Und warum konnen wir fragen, wenn es keine Antwort gibt?«
»Fertig?«fragt Wernicke.
»Nein – aber ich werde Sie nicht weiter fragen.«
»Gut. Ich kann Ihnen auch nicht antworten. Soviel wissen Sie ja wenigstens, oder nicht?«
»Naturlich. Warum sollten gerade Sie es konnen, wenn alle Bibliotheken der Welt nur Spekulationen als Antwort haben?«
Der Kafer ist auf seinem zweiten Rund?ug abgesturzt. Er krabbelt wieder auf die Beine und beginnt den dritten. Seine Flugel sind wie polierter blauer Stahl. Er ist eine schone Zweckma?igkeitsmaschine; aber Licht gegenuber ist er wie ein Alkoholiker gegenuber einer Flasche Schnaps.
Wernicke gie?t den Rest des Mosels in die Glaser.»Wie lange waren Sie im Kriege?«
»Drei Jahre.«
»Merkwurdig!«
Ich antworte nicht. Ich wei? ungefahr, was er meint, und habe keine Lust, das noch einmal durchzukauen.»Glauben Sie, da? der Verstand zur Seele gehort?«fragt Wernicke statt dessen.
»Das wei? ich nicht. Aber glauben Sie, da? die sich beschmutzenden Untertiere, die in der geschlossenen Abteilung herumkriechen, noch eine Seele haben?«
Wernicke greift nach seinem Glas.»Fur mich ist das alles einfach«, sagt er.»Ich bin ein Mann der Wissenschaft. Ich glaube gar nichts. Ich beobachte nur. Bodendiek dagegen glaubt
Der Kafer ist bei seinem funften Ansturm. Er wird bis zu seinem Tode so weitermachen. Wernicke dreht die Lampe ab.»So, dem ware geholfen.«
Die Nacht kommt gro? und blau durch die offenen Fenster. Sie weht herein mit dem Geruch der Erde, der Blumen und dem Funkeln der Sterne. Alles, was ich gesagt habe, erscheint mir sofort entsetzlich lacherlich. Der Kafer zieht noch eine brummende Runde und steuert dann sicher zum Fenster hinaus.»Chaos«, sagt Wernicke.»Ist es wirklich Chaos? Oder ist es nur eins fur uns. Haben Sie schon einmal daruber nachgedacht, wie die Welt ware, wenn wir einen Sinn mehr hatten?«
»Nein.«
»Aber mit einem Sinn weniger?«