Bodendiek schuttelt den Regen von seinem schwarzen Hut.»Wir haben den Sterbenden im Felde den letzten Trost gespendet – das scheinen Sie vollig vergessen zu haben.«

»Sie hatten es nicht dazu kommen lassen sollen! Warum haben Sie nicht gestreikt? Warum haben Sie Ihren Glaubigen den Krieg nicht verboten? Das ware Ihre Aufgabe gewesen. Aber die Zeiten der Martyrer sind vorbei. Dafur habe ich oft genug, wenn ich zum Feldgottesdienst mu?te, die Gebete um die Siege unserer Waffen gehort. Glauben Sie, da? Christus fur den Sieg der Galilaer gegen die Philister gebetet hatte?«

»Der Regen«, erwidert Bodendiek gemessen,»scheint Sie ungewohnlich emotionell und demagogisch zu machen. Sie wissen anscheinend schon recht gut, da? man auf geschickte Weise, mit Auslassungen, Umdrehungen und einseitiger Darstellung, alles in der Welt angreifen und angreifbar machen kann.«

»Das wei? ich. Deshalb studiere ich ja Geschichte. Man hat uns in der Schule und im Religionsunterricht immer von den dunklen, primitiven, grausamen vorchristlichen Zeiten erzahlt. Ich lese das nach und ?nde, da? wir nicht viel besser sind – abgesehen von den Erfolgen in Technik und Wissenschaft. Die aber benutzen wir zum gro?ten Teil nur, um mehr Menschen toten zu konnen.«

»Wenn man etwas beweisen will, kann man alles beweisen, lieber Freund. Das Gegenteil auch. Fur jede vorgefa?te Meinung lassen sich Beweise erbringen.«

»Das wei? ich auch«, sage ich.»Die Kirche hat das auf das brillanteste vorgemacht, als sie die Gnostiker erledigte.«

»Die Gnostiker! Was wissen denn Sie von denen?«fragt Bodendiek mit beleidigendem Erstaunen.

»Genug, um den Verdacht zu haben, da? sie der tolerantere Teil des Christentums waren. Und alles, was ich bis jetzt in meinem Leben gelernt habe, ist, Toleranz zu schatzen.«

»Toleranz -«sagt Bodendiek.

»Toleranz!«wiederhole ich.»Rucksicht auf den anderen. Verstandnis fur den anderen. Jeden auf seine Weise leben lassen. Toleranz, die in unserm geliebten Vaterlande ein Fremdwort ist.«

»Mit einem Wort, Anarchie«, erwidert Bodendiek leise und plotzlich sehr scharf.

Wir stehen vor der Kapelle. Die Lichter sind angezundet, und die bunten Fenster schimmern trostlich in den wehenden Regen. Aus der offenen Tur kommt der schwache Geruch von Weihrauch.»Toleranz, Herr Vikar«, sage ich.»Nicht Anarchie, und Sie wissen den Unterschied. Aber Sie durfen ihn nicht zugeben, weil Ihre Kirche ihn nicht hat. Sie sind alleinseligmachend! Niemand besitzt den Himmel, nur Sie! Keiner kann lossprechen, nur Sie! Sie haben das Monopol. Es gibt keine Religion au?er der Ihren! Sie sind eine Diktatur! Wie konnen Sie da tolerant sein?«

»Wir brauchen es nicht zu sein. Wir haben die Wahrheit.«

»Naturlich«, sage ich und zeige auf die erleuchteten Fenster.»Das dort! Trost fur Lebensangst. Denke nicht mehr; ich wei? alles fur dich! Die Versprechung des Himmels und die Drohung mit der Holle – spielen auf den einfachsten Emotionen – was hat das mit der Wahrheit zu tun, dieser Fata Morgana unseres Gehirns?«

»Schone Worte«, erklart Bodendiek, langst wieder friedlich, uberlegen und leicht spottisch.

»Ja, das ist alles, was wir haben – schone Worte«, sage ich, argerlich uber mich selbst.»Und Sie haben auch nichts anderes – schone Worte.«

Bodendiek tritt in die Kapelle.»Wir haben die heiligen Sakramente -«

»Ja -«

»Und den Glauben, der nur Schwachkopfen, denen ihr bi?chen Schadel Verdauungsbeschwerden macht, als Dummheit und Welt?ucht erscheint, Sie harmloser Regenwurm im Acker der Trivialitat.«

»Bravo!«sage ich.»Endlich werden auch Sie poetisch. Allerdings stark spatbarock.«

Bodendiek lacht plotzlich.»Mein lieber Bodmer«, erklart er.»In den fast zweitausend Jahren des Bestehens der Kirche ist schon aus manchem Saulus ein Paulus geworden. Und wir haben in dieser Zeit gro?ere Zwerge gesehen und uberstanden als Sie. Krabbeln Sie nur munter weiter. Am Ende jedes Weges steht Gott und wartet auf Sie.«

Er verschwindet mit seinem Regenschirm in der Sakristei, ein wohlgenahrter Mann im schwarzen Gehrock. In einer halben Stunde wird er, phantastischer gekleidet als ein Husarengeneral, wieder heraustreten und ein Vertreter Gottes sein. Es sind die Uniformen, sagte Valentin Busch nach der zweiten Flasche Johannisberger, wahrend Eduard Knobloch in Melancholie und Mordgedanken versank, nur die Uniformen. Nimm ihnen die Kostume weg, und es gibt keinen Menschen mehr, der Soldat sein will.

Ich gehe nach der Andacht mit Isabelle in der Allee spazieren. Es regnet hier unregelma?iger – als hockten Schatten in den Baumen, die sich mit Wasser besprengen. Isabelle tragt einen hochgeschlossenen dunklen Regenmantel und eine kleine Kappe, die das Haar verdeckt. Nichts ist von ihr zu sehen als das Gesicht, das durch das Dunkel schimmert wie ein schmaler Mond. Das Wetter ist kalt und windig, und niemand au?er uns ist mehr im Garten. Ich habe Bodendiek und den schwarzen Arger, der manchmal grundlos wie eine schmutzige Fontane aus mir hervorschie?t, langst vergessen. Isabelle geht dicht neben mir, ich hore ihre Schritte durch den Regen und spure ihre Bewegungen und ihre Warme, und es scheint die einzige Warme zu sein, die in der Welt ubriggeblieben ist.

Sie bleibt plotzlich stehen. Ihr Gesicht ist bla? und entschlossen, und ihre Augen scheinen fast schwarz zu sein.

»Du liebst mich nicht genug«, sto?t sie hervor.

Ich sehe sie uberrascht an.»Es ist, soviel ich kann«, sage ich.

Sie steht eine Weile schweigend.»Nicht genug«, murmelt sie dann.»Nie genug! Es ist nie genug!«

»Ja«, sage ich.»Wahrscheinlich ist es nie genug. Nie im Leben, nie, mit niemandem. Wahrscheinlich ist es immer zu wenig, und das ist das Elend der Welt.«

»Es ist nicht genug«, wiederholt Isabelle, als hatte sie mich nicht gehort.»Sonst waren wir nicht noch zwei.«

»Du meinst, sonst waren wir eins?«

Sie nickt.

Ich denke an das Gesprach mit Georg, wahrend wir den Gluhwein tranken.»Wir werden immer zwei bleiben mussen, Isabelle«, sage ich vorsichtig.»Aber wir konnen uns lieben und glauben, wir waren nicht mehr zwei.«

»Glaubst du, wir sind schon einmal eins gewesen?«

»Das wei? ich nicht. Niemand konnte so etwas wissen. Man wurde keine Erinnerung haben.«

Sie sieht mich starr aus dem Dunkel an.»Das ist es, Rudolf«, ?ustert sie.»Man hat keine. An nichts. Warum nicht? Man sucht und sucht. Warum ist alles fort? Es ist doch so viel dagewesen! Nur das wei? man noch! Aber nichts anderes mehr. Warum wei? man es nicht mehr? Du und ich, war das nicht einmal schon? Sag es! Sag es doch! Wo ist es jetzt, Rudolf?«

Der Wind wirft einen Schwall Wasser klatschend uber uns weg. Vieles ist so, als ware es schon einmal gewesen, denke ich. Es kommt oft ganz nahe wieder heran und steht vor einem, und man wei?, es war schon einmal da, genauso, man wei? sogar einen Augenblick fast noch, wie es weitergehen mu?, aber dann entschwindet es, wenn man es fassen will, wie Rauch oder eine tote Erinnerung.

»Wir konnten uns nie erinnern, Isabelle«, sage ich.»Es ware so wie mit dem Regen. Er ist auch etwas, das eins geworden ist, aus zwei Gasen, Sauerstoff und Wasserstoff, die nun nicht mehr wissen, da? sie einmal Gase waren. Sie sind jetzt nur noch Regen und haben keine Erinnerung an das Vorher.«

»Oder wie Tranen«, sagt Isabelle.»Aber Tranen sind voll von Erinnerungen.«

Wir gehen eine Zeitlang schweigend weiter. Ich denke an die sonderbaren Momente, wenn einen unvermutet das Doppelgangergesicht einer scheinbaren Erinnerung uber viele Leben hinweg jah anzusehen scheint. Der Kies knirscht unter unseren Schuhen. Hinter der Mauer des Gartens hupt langgezogen ein Auto, als warte es auf jemand, der ent?iehen will.

»Dann ist sie wie Tod«, sagt Isabelle schlie?lich.

»Was?«

»Liebe. Vollkommene Liebe.«

»Wer wei? das, Isabelle? Ich glaube, niemand kann das jemals wissen. Wir erkennen immer nur etwas, solange wir jeder noch ein Ich sind. Wenn unsere Ichs miteinander verschmolzen, so ware es wie beim Regen.Wir waren ein neues Ich und konnten uns an die einzelnen fruheren Ichs nicht mehr erinnern. Wir waren etwas anderes – so verschieden wie Regen von Luft – nicht mehr ein gesteigertes Ich – durch ein Du.«

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