eines Grammophons. Ich bin heute abend hier zu einem Herrenabend eingeladen. Es ist einer der beruhmten Abende, an denen Frau Beckmann ihre akrobatische Kunst zum besten gibt. Ich zogere einen Augenblick – ich fuhle mich wahrhaftig nicht danach -, aber dann trete ich ein. Gerade deshalb.
Ein Schwall von Tabaksrauch und Biergeruch empfangt mich. Karl Brill steht auf und umarmt mich, leicht schwankend. Er hat einen ebenso kahlen Kopf wie Georg Kroll, aber er tragt dafur alle seine Haare unter der Nase in einem machtigen Walro?schnurrbart.»Sie kommen zur rechten Zeit«, erklart er.»Die Wetten sind gelegt. Wir brauchen nur bessere Musik als dieses dumme Grammophon! Wie ware es mit dem Donauwellenwalzer?«
»Gemacht!«
Das Klavier ist bereits in die Schnellbesohlanstalt geschafft worden. Es steht vor den Maschinen. Im vorderen Teil des Raumes sind die Schuhe und das Leder beiseite geschoben worden, und uberall, wo es geht, sind Stuhle und ein paar Sessel verteilt. Ein Fa? Bier ist aufgelegt, und ein paar Flaschen Schnaps sind schon leer. Eine zweite Batterie steht auf dem Ladentisch. Auf dem Tisch liegt auch ein gro?er, mit Watte umwickelter Nagel neben einem kraftigen Schusterhammer.
Ich schmettere den Donauwellenwalzer herunter. Im Qualm schwanken die Bundesbruder von Karl Brill umher. Sie sind bereits gut geladen. Karl stellt ein Glas Bier und einen doppelten Steinhager Schnaps auf das Klavier.
»Klara bereitet sich vor«, sagt er.»Wir haben uber drei Millionen in Wetten zusammen. Hoffentlich ist sie in Hochstform; sonst bin ich halb bankrott.«
Er blinzelt mir zu.»Spielen Sie etwas sehr Schmissiges, wenn es soweit ist. Das facht sie immer machtig an. Sie ist ja verruckt mit Musik.«
»Ich werde den „Einzug der Gladiatoren“ spielen. Aber wie ware es mit einer kleinen Seitenwette fur mich?«
Karl blickt auf.»Lieber Herr Bodmer«, sagt er verletzt.
»Sie wollen doch nicht gegen Klara wetten! Wie konnen Sie dann uberzeugend spielen?«
»Nicht gegen sie. Mit ihr. Eine Seitenwette.«
»Wieviel?«fragt Karl rasch.
»Lumpige achtzigtausend«, erwidere ich.»Es ist mein ganzes Vermogen.«
Karl uberlegt einen Augenblick. Dann dreht er sich um.
»Ist noch jemand da, der achtzigtausend wetten will? Gegen unseren Klavierspieler?«
»Ich!«Ein dicker Mann tritt vor, holt Geld aus einem kleinen Kofferchen und knallt es auf den Ladentisch.
Ich lege mein Geld daneben.»Der Gott der Diebe beschutze mich«, sage ich.»Sonst bin ich morgen aufs Mittagessen allein angewiesen.«
»Also los!«sagt Karl Brill.
Der Nagel wird herumgezeigt. Dann tritt Karl an die Wand, setzt ihn in der Hohe eines menschlichen Gesa?es an und schlagt ihn zu einem Drittel ein. Er schlagt weniger stark, als seine Gebarden es vermuten lassen.
»Sitzt gut und fest«, sagt er und tut, als ruttele er kraftig an dem Nagel.
»Das werden wir erst einmal prufen.«
Der Dicke, der gegen mich gewettet hat, tritt vor. Er bewegt den Nagel und grinst.»Karl«, sagt er hohnlachend.»Den blase ich ja aus der Wand. Gib mal den Hammer her.«
»Blase ihn erst aus der Wand.«
Der Dicke blast nicht. Er zerrt kraftig, und der Nagel ist drau?en.»Mit meiner Hand«, sagt Karl Brill,»kann ich einen Nagel durch eine Tischplatte schlagen. Mit meinem Hintern nicht. Wenn ihr solche Bedingungen stellt, lassen wir das Ganze lieber sein.«
Der Dicke antwortet nicht. Er nimmt den Hammer und schlagt den Nagel an einer anderen Stelle der Wand ein.
»Hier, wie ist das?«
Karl Brill pruft. Etwa sechs oder sieben Zentimeter des Nagels ragen noch aus der Wand.»Zu fest. Den kann man nicht einmal mit der Hand mehr herausrei?en.«
»Entweder – oder«, erklart der Dicke.
Karl pruft noch einmal. Der Dicke legt den Hammer auf den Ladentisch und merkt nicht, da? Karl jedesmal, wenn er probiert, wie fest der Nagel sei, ihn dadurch lockert.
»Ich kann keine Wette eins zu eins darauf annehmen«, sagt Karl schlie?lich.»Nur zwei zu eins, und auch da mu? ich verlieren.«
Sie einigen sich auf sechs zu vier. Ein Haufen Geld turmt sich auf dem Ladentisch. Karl hat noch zweimal entrustet an dem Nagel gezerrt, um zu zeigen, wie unmoglich die Wette sei. Jetzt spiele ich den»Einzug der Gladiatoren«, und bald darauf rauscht Frau Beckmann in die Werkstatt, in einen losen, lachsroten chinesischen Kimono gekleidet, mit eingestickten Paonien und einem Phonix auf dem Rucken.
Sie ist eine imposante Figur mit dem Kopf eines Bullenbei?ers, aber eines eher hubschen Bullenbei?ers. Sie hat reiches, krauses, schwarzes Haar und glanzende Kirschenaugen – der Rest ist bullenbei?erisch, besonders das Kinn. Der Korper ist machtig und vollig aus Eisen. Ein Paar steinharter Bruste ragt wie ein Bollwerk hervor, dann kommt eine im Verhaltnis zierliche Taille und dann das beruhmte Gesa?, um das es hier geht. Es ist gewaltig und ebenfalls steinhart. Selbst einem Schmied soll es angeblich unmoglich sein, hineinzukneifen, wenn Frau Beckmann es anspannt; er bricht sich eher die Finger. Karl Brill hat auch damit schon Wetten gewonnen, allerdings nur im intimsten Freundeskreise. Heute, wo der Dicke dabei ist, wird nur das andere Experiment gemacht – den Nagel mit dem Gesa? aus der Wand zu rei?en.
Alles geht sehr sportlich und kavaliersma?ig zu; Frau Beckmann gru?t zwar, ist aber sonst reserviert und beinahe abweisend. Sie betrachtet die Angelegenheit nur von der sportlich-geschaftlichen Seite. Ruhig stellt sie sich mit dem Rucken zur Wand, hinter einen niedrigen Paravent, macht ein paar fachmannische Bewegungen und steht dann still, das Kinn gereckt, bereit, und ernst, wie es sich bei einer gro?en sportlichen Leistung geziemt.
Ich breche den Marsch ab und beginne zwei tiefe Triller, die klingen sollen wie die Trommeln beim Todessprung im Zirkus Busch. Frau Beckmann strafft sich und entspannt sich. Sie strafft sich noch zweimal. Karl Brill wird nervos. Frau Beckmann erstarrt wieder, die Augen zur Decke gerichtet, die Zahne zusammengebissen. Dann klappert es, und sie tritt von der Wand weg. Der Nagel liegt auf dem Boden.
Ich spiele»Das Gebet einer Jungfrau«, eine ihrer Lieblingsnummern. Sie dankt mit einem graziosen Neigen ihres starken Hauptes, wunscht eine wohlklingende»Gute Nacht allerseits«, rafft den Kimono enger um sich herum und entschwindet.
Karl Brill kassiert. Er reicht mir mein Geld heruber. Der Dicke inspiziert den Nagel und die Wand.»Fabelhaft«, sagt er.
Ich spiele das»Alpengluhen«und das»Weserlied«, zwei weitere Favoriten Frau Beckmanns. Sie kann sie im oberen Stock horen. Karl blinzelt mir stolz zu; er ist ja schlie?lich der Besitzer dieser imposanten Kneifzange. Steinhager, Bier und Korn ?ie?en. Ich trinke ein paar mit und spiele weiter. Es pa?t mir, jetzt nicht allein zu sein. Ich mochte nachdenken, und trotzdem auf keinen Fall nachdenken. Meine Hande sind voll einer unbekannten Zartlichkeit, etwas weht und scheint sich an mich zu drangen, die Werkstatt verschwindet, der Regen ist wieder da, der Nebel und Isabelle und das Dunkel. Sie ist nicht krank, denke ich, und wei? doch, da? sie es ist – aber wenn sie krank ist, dann sind wir alle noch kranker -
Ein lauter Streit weckt mich. Der Dicke hat Frau Beckmanns Formen nicht vergessen konnen. Angefeuert durch eine Anzahl Schnapse hat er Karl Brill ein dreifaches Angebot gemacht: funf Millionen fur einen Nachmittag mit Frau Beckmann zum Tee – eine Million fur ein kurzes Gesprach jetzt, bei dem er sie wahrscheinlich zu einem ehrenhaften Abendessen ohne Karl Brill einladen mochte – und zwei Millionen fur ein paar gute Griffe an das Prachtstuck der Beckmannschen Anatomie, hier in der Werkstatt, unter Brudern in frohlicher Gesellschaft, also durchaus ehrenhaft.
Jetzt aber zeigt sich der Charakter Karls. Wenn der Dicke nur sportlich interessiert ware, konnte er die Griffe vielleicht haben, schon gegen eine Wette von solch einer Lumperei wie hunderttausend Mark – aber in bockhafter Lust wird sogar der Gedanke an einen solchen Griff von Karl als schwere Beleidigung empfunden.»So eine Schweinerei!«brullt er.»Ich dachte, ich hatte nur Kavaliere hier!«
»Ich bin Kavalier«, lallt der Dicke.»Deshalb ja mein Angebot.«
»Sie sind ein Schwein.«