»Und wenn Liebe vollkommen ware, so da? wir verschmolzen, dann ware es wie Tod?«

»Vielleicht«, sage ich zogernd.»Aber nicht so wie Vernichtung. Was Tod ist, wei? niemand, Isabelle. Man kann ihn deshalb mit nichts vergleichen. Aber wir wurden uns sicher nicht mehr als Selbst fuhlen. Wir wurden nur wieder ein anderes einsames Ich werden.«

»Dann mu? Liebe immer unvollkommen sein?«

»Sie ist vollkommen genug«, sage ich und ver?uche mich, weil ich mit meiner pedantischen Schulmeisterei wieder so weit in ein Gesprach hineingeraten bin.

Isabelle schuttelt den Kopf.»Weiche nicht aus, Rudolf! Sie mu? unvollkommen sein, ich sehe das jetzt. Wenn sie vollkommen ware, gabe es einen Blitz, und nichts ware mehr da.«

»Es ware noch etwas da – aber jenseits von unserer Erkenntnis.«

»So wie der Tod?«

Ich sehe sie an.»Wer wei? das?«sage ich vorsichtig, um sie nicht weiter zu erregen.»Vielleicht hat der Tod einen ganz falschen Namen. Wir sehen ihn immer nur von einer Seite. Vielleicht ist er die vollkommene Liebe zwischen Gott und uns.«

Der Wind wirft einen Schwall Regen durch die Blatter der Baume, die ihn mit Geisterhanden weiterwerfen. Isabelle schweigt eine Weile.»Ist Liebe deshalb so traurig?«fragt sie dann.

»Sie ist nicht traurig. Sie macht nur traurig, weil sie unerfullbar und nicht zu halten ist.«

Isabelle bleibt stehen.»Warum, Rudolf?«sagt sie plotzlich sehr heftig und stampft mit den Fu?en.»Warum mu? das so sein?«

Ich sehe in das blasse, gespannte Gesicht.»Es ist das Gluck«, sage ich.

Sie starrt mich an.»Das ist das Gluck?«

Ich nicke.

»Das kann nicht sein! Es ist doch nichts als Ungluck!«

Sie wirft sich gegen mich, und ich halte sie fest. Ich fuhle, wie das Schluchzen gegen ihre Schultern sto?t.»Weine nicht«, sage ich.»Was wurde sein, wenn man um so etwas schon weinen wollte?«

»Um was denn sonst?«

Ja, um was sonst, denke ich. Um alles andere, um das Elend auf diesem ver?uchten Planeten, aber nicht um das.»Es ist kein Ungluck, Isabelle«, sage ich.»Es ist das Gluck. Wir haben nur so torichte Namen wie „vollkommen“ und „unvollkommen“ dafur.«

»Nein, nein!«Sie schuttelt heftig den Kopf und la?t sich nicht trosten. Sie weint und klammert sich an mich, und ich halte sie in den Armen und fuhle, da? nicht ich recht habe, sondern sie, da? sie es ist, die keine Kompromisse kennt, da? in ihr noch das erste, einzige Warum brennt, das vor aller Verschuttung durch den Mortel des Daseins da war, die erste Frage des erwachten Selbst.

»Es ist kein Ungluck«, sage ich trotzdem.»Ungluck ist etwas ganz anderes, Isabelle.«

»Was?«

»Ungluck ist nicht, da? man nie ganz eins werden kann. Ungluck ist, da? man sich immerfort verlassen mu?, jeden Tag und jede Stunde. Man wei? es und kann es nicht aufhalten, es rinnt einem durch die Hande und ist das Kostbarste, was es gibt, und man kann es doch nicht halten. Immer stirbt einer zuerst. Immer bleibt einer zuruck.«

Sie sieht auf.»Wie kann man verlassen, was man nicht hat?«

»Man kann es«, erwidere ich bitter.»Und wie man es kann! Es gibt viele Stufen des Verlassens und des Verlassenwerdens, und jede ist schmerzlich, und viele sind wie der Tod.«

Isabelles Tranen haben aufgehort.»Woher wei?t du das?«sagt sie.»Du bist doch noch nicht alt.«

Ich bin alt genug, denke ich. Ein Stuck von mir ist alt geworden, als ich aus dem Kriege zuruckkam.»Ich wei? es«, sage ich.»Ich habe es erfahren.«

Ich habe es erfahren, denke ich. Wie oft habe ich den Tag verlassen mussen, und die Stunde, und das Dasein, und den Baum im Morgenlicht, und meine Hande, und meine Gedanken, und es war jedesmal fur immer, und wenn ich zuruckkam, war ich ein anderer. Man kann viel verlassen und mu? stets alles hinter sich lassen, wenn man dem Tode entgegentreten mu?, man ist immer nackt vor ihm, und wenn man zuruck?ndet, mu? man alles neu erwerben, was man zuruckgelassen hat.

Isabelles Gesicht schimmert vor mir in der Regennacht, und eine plotzliche Zartlichkeit uberstromt mich. Ich spure wieder, in welcher Einsamkeit sie lebt, unerschrocken, allein mit ihren Gesichten, bedroht von ihnen und ihnen hingegeben, ohne Dach, unter das sie ?uchten konnte, ohne Entspannung und ohne Ablenkung, ausgesetzt allen Winden des Herzens, ohne Hilfe von irgend jemand, ohne Klage und ohne Mitleid mit sich selbst. Du su?es, furchtloses Herz, denke ich, unberuhrt und pfeilgerade zum Wesentlichen allein hinzielend, auch wenn du es nicht erreichst und dich verirrst – aber wer verirrte sich nicht? Und haben nicht fast alle langst aufgegeben? Wo beginnt der Irrtum, das Narrentum, die Feigheit, und wo die Weisheit und wo der letzte Mut?«

Eine Glocke lautet. Isabelle erschrickt.»Es ist Zeit«, sage ich.»Du mu?t hineingehen. Sie warten auf dich.«

»Kommst du mit?«

»Ja.«

Wir gehen dem Hause zu. Als wir aus der Allee treten, empfangt uns ein Spruhregen, den der Wind in kurzen Sto?en wie einen nassen Schleier umherfegt. Isabelle druckt sich an mich. Ich blikke den Hugel hinunter zur Stadt. Nichts ist zu sehen. Nebel und Regen haben uns isoliert. Nirgendwo sieht man mehr ein Licht, wir sind ganz allein. Isabelle geht neben mir, als gehorte sie fur immer zu mir und als hatte sie kein Gewicht, und es scheint mir wieder, als habe sie wirklich keines und sei wie die Figuren in Legenden und Traumen, bei denen auch andere Gesetze gelten als im taglichen Dasein.

Wir stehen unter der Tur.»Komm!«sagt sie.

Ich schuttle den Kopf.»Ich kann nicht. Heute nicht.«

Sie schweigt und sieht mich an, gerade und klar, ohne Vorwurf und ohne Enttauschung; aber etwas in ihr scheint auf einmal erloschen zu sein. Ich senke die Augen. Mir ist, als hatte ich ein Kind geschlagen oder eine Schwalbe getotet.»Heute nicht«, sage ich.»Spater. Morgen.»

Sie dreht sich wortlos um und geht in die Halle. Ich sehe die Schwester mit ihr die Treppe hinaufsteigen und habe plotzlich das Gefuhl, etwas, das man nur einmal im Leben ?ndet, unwiederbringlich verloren zu haben.

Verwirrt stehe ich herum. Was hatte ich schon tun konnen? Und wie bin ich in all dieses wieder hineingeraten? Ich wollte es doch nicht! Dieser ver?uchte Regen!

Langsam gehe ich dem Haupthause zu. Wernicke kommt im wei?en Mantel mit einem Regenschirm heraus.»Haben Sie Fraulein Terhoven abgeliefert?«

»Ja.«

»Gut. Kummern Sie sich doch weiter etwas um sie. Besuchen Sie sie auch einmal tagsuber, wenn Sie Zeit haben.«

»Warum?«

»Darauf kriegen Sie keine Antwort«, erwidert Wernicke.»Aber sie ist ruhig, wenn sie mit Ihnen zusammen war. Es ist gut fur sie. Genugt das?«

»Sie halt mich fur jemand anders.«

»Das macht nichts. Mir kommt es nicht auf Sie an – nur auf meine Kranken.«Wernicke blinzelt durch die Spruhnasse.»Bodendiek hat Sie heute abend gelobt.«

»Was? – Dazu hatte er wahrhaftig keinen Grund!«

»Er behauptet, Sie seien auf dem Weg zuruck. Zum Beichtstuhl und zur Kommunion.«

»So etwas!«erklare ich, ehrlich entrustet.

»Verkennen Sie die Weisheit der Kirche nicht! Sie ist die einzige Diktatur, die seit zweitausend Jahren nicht gesturzt worden ist.«

Ich gehe zur Stadt hinunter. Nebel weht seine grauen Fahnen durch den Regen. Isabelle geistert durch meine Gedanken. Ich habe sie im Stich gelassen; das ist es, was sie jetzt glaubt, ich wei? es. Ich sollte uberhaupt nicht mehr hinaufgehen, denke ich. Es verwirrt mich nur, und ich bin ohnehin verwirrt genug. Aber was ware, wenn sie nicht mehr da ware? Wurde es nicht so sein, als fehle mir das Wichtigste, das, was nie alt und verbraucht und alltaglich werden kann, weil man es nie besitzt?

Ich komme zum Hause des Schuhmachermeisters Karl Brill. Aus der Schuhbesohlanstalt dringen die Klange

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