bist du nicht wert -«
Eduard klappert mit den Augen wie ein alter Uhu.
»Sie scheinen ein merkwurdiger Mensch zu sein«, sagt Renee de la Tour in ?otenhaftem Sopran.»Dafur, da? Ihre Kellner nicht horen konnen, machen Sie Ihre Gaste verantwortlich.«
Sie lacht – ein entzuckendes, sprudelndes Gequirl von Silber und Wohllaut, wie ein Waldbach im Marchen.
Eduard fa?t sich an die Stirn. Sein letzter Halt schwindet. Das Madchen kann es auch nicht gewesen sein. Wer so lacht, hat keine solche Kommi?stimme.»Sie konnen gehen, Knobloch«, erklart Georg nachlassig.»Oder haben Sie die Absicht, an der Unterhaltung teilzunehmen?«
»Und i? nicht so viel Fleisch«, sage ich.»Vielleicht kommt es davon! Was hast du uns vorhin noch erklart? Nach den neuesten wissenschaftlichen Forschungen -«
Eduard dreht sich rasch um und haut ab. Wir warten, bis er weit genug weg ist. Dann beginnt Willys machtiger Korper in lautlosem Gelachter zu beben. Renee de la Tour lachelt sanft. Ihre Augen funkeln.
»Willy«, sage ich.»Ich bin ein ober?achlicher Mensch, und dieses war deshalb einer der schonsten Momente meines jungen Lebens – aber jetzt erklare uns, was los ist!«
Willy zeigt, bebend vor schweigendem Gebrull, auf Renee.
»Excusez, Mademoiselle«, sage ich.»Je me -«
Willys Gelachter verstarkt sich bei meinem Franzosisch.
»Sag’s ihm, Lotte«, prustet er.
»Was?«fragt Renee mit zuchtigem Lacheln, aber plotzlich in leisem, grollendem Ba?.
Wir starren sie an.»Sie ist Kunstlerin«, wurgt Willy hervor.»Duettistin. Sie singt Duette. Aber allein. Eine Strophe hoch, eine tief. Eine im Sopran, eine im Ba?.«
Das Dunkel lichtet sich.»Aber der Ba? -«frage ich.
»Talent!«erklart Willy.»Und dann naturlich Flei?. Ihr solltet mal horen, wie sie einen Ehestreit nachmacht. Lotte ist fabelhaft!«
Wir geben das zu. Das Gulasch erscheint. Eduard umschleicht, von ferne beobachtend, unsern Tisch. Sein Fehler ist, da? er immer heraus?nden mu?, warum etwas geschieht. Das verdirbt seine Lyrik und macht ihn mi?trauisch im Leben. Augenblicklich grubelt er uber den mysteriosen Ba? nach. Er wei? nicht, was ihm noch bevorsteht. Georg Kroll, ein Kavalier der alten Schule, hat Renee de la Tour und Willy gebeten, seine Gaste zu sein, um den Sieg zu feiern. Er wird fur das vorzugliche Gulasch dem zahneknirschenden Eduard nachher vier Papierstucke einhandigen, fur deren Gesamtwert man heute kaum noch ein paar Knochen mit etwas Fleisch daran kaufen kann.
Es ist fruher Abend. Ich sitze in meinem Zimmer uber dem Buro am Fenster. Das Haus ist niedrig, verwinkelt und alt. Es hat, wie dieser Teil der Stra?e, fruher einmal der Kirche gehort, die am Ende der Stra?e auf einem Platz steht. Priester und Kirchenangestellte haben in ihm gewohnt; aber seit sechzig Jahren ist es Eigentum der Firma Kroll. Es besteht eigentlich aus zwei niedrigen Hausern, die durch einen Torbogen und den Eingang getrennt sind; in dem zweiten lebt der pensionierte Feldwebel Knopf mit seiner Frau und drei Tochtern. Dann kommt der schone alte Garten mit unserer Grabsteinausstellung, und links hinten noch eine Art von zweistockigem holzernem Schuppen. Unten im Schuppen arbeitet unser Bildhauer Kurt Bach. Er modelliert trauernde Lowen und au?iegende Adler fur die Kriegerdenkmaler, die wir verkaufen, und zeichnet die Inschriften auf die Grabsteine, die dann von den Steinmetzen ausgehauen werden. In seiner Freizeit spielt er Gitarre und wandert und traumt von goldenen Medaillen fur den beruhmten Kurt Bach einer spateren Periode, die nie existieren wird. Er ist zweiunddrei?ig Jahre alt.
Den oberen Stock des Schuppens haben wir an den Sargtischler Wilke vermietet. Wilke ist ein hagerer Mann, von dem keiner wei?, ob er eine Familie hat oder nicht. Unsere Beziehungen zu ihm sind freundschaftlich, wie alle, die auf gegenseitigem Vorteil beruhen. Wenn wir einen ganz frischen Toten haben, der noch keinen Sarg hat, empfehlen wir Wilke oder geben ihm einen Wink, sich zu kummern; er tut dasselbe mit uns, wenn er eine Leiche wei?, die noch nicht von den Hyanen der Konkurrenz weggeschnappt worden ist; denn der Kampf um die Toten ist bitter und geht bis aufs Messer. Der Reisende Oskar Fuchs von Hollmann und Klotz, unserer Konkurrenz, benutzt sogar Zwiebeln dazu. Bevor er in ein Haus geht, wo eine Leiche liegt, holt er ein paar zerschnittene Zwiebeln aus der Tasche und riecht so lange daran, bis seine Augen voller Tranen stehen – dann marschiert er hinein, markiert Mitgefuhl fur den teuren Entschlafenen und versucht, das Geschaft zu machen. Er hei?t deshalb der Tranen-Oskar. Es ist sonderbar, aber wenn die Hinterbliebenen sich um manchen Toten im Leben nur halb so viel gekummert hatten wie dann, wenn sie nichts mehr davon haben, hatten die Leichen bestimmt gerne auf das teuerste Mausoleum verzichtet – doch so ist der Mensch: nur was er nicht hat, schatzt er wirklich.
Die Stra?e fullt sich leise mit dem durchsichtigen Rauch der Dammerung. Lisa hat bereits Licht; doch diesmal sind die Vorhange zugezogen, ein Zeichen, da? der Pferdeschlachter da ist. Neben ihrem Hause beginnt der Garten der Weinhandlung Holzmann. Flieder hangt uber die Mauern, und von den Gewolben kommt der frische Essiggeruch der Fasser. Aus dem Tor unseres Hauses tritt der pensionierte Feldwebel Knopf. Er ist ein dunner Mann mit einer Schirmmutze und einem Spazierstock, der, trotz seines Berufes und obschon er au?er dem Exerzierreglement nie ein Buch gelesen hat, aussieht wie Nietzsche. Knopf geht die Hakenstra?e hinunter und schwenkt an der Ecke der Marienstra?e links ab. Gegen Mitternacht wird er wieder zuruckkommen, dann von rechts – er hat damit seinen Rundgang durch die Kneipen der Stadt beendet, der, wie es sich fur einen alten Militar gehort, methodisch erfolgt. Knopf trinkt nur Schnaps, und zwar Korn, nichts anderes. Darin aber ist er der gro?te Kenner, den es gibt. In der Stadt existieren etwa drei oder vier Firmen, die Korn brennen. Fur uns schmecken ihre Schnapse alle ungefahr gleich. Nicht so fur Knopf; er unterscheidet sie schon am Geruch. Vierzig Jahre unermudlicher Arbeit haben seine Zunge so verfeinert, da? er sogar bei derselben Kornsorte herausschmecken kann, aus welcher Kneipe sie kommt. Er behauptet, die Keller waren verschieden, und er konne das unterscheiden. Naturlich nicht bei Korn in Flaschen; nur bei Korn in Fassern. Er hat schon manche Wette damit gewonnen.
Ich stehe auf und sehe mich im Zimmer um. Die Decke ist niedrig und schrag, und die Bude ist nicht gro?, aber ich habe darin, was ich brauche – ein Bett, ein Regal mit Buchern, einen Tisch, ein paar Stuhle und ein altes Klavier. Vor funf Jahren, als Soldat im Felde, hatte ich nie geglaubt, da? ich es wieder einmal so gut haben wurde. Wir lagen damals in Flandern, es war der gro?e Angriff am Kemmelberg, und wir verloren drei Viertel unserer Kompanie. Georg Kroll kam mit einem Bauchschu? am zweiten Tag ins Lazarett, aber bei mir dauerte es fast drei Wochen, bis ich mit einem Knieschu? erwischt wurde. Dann kam der Zusammenbruch, ich wurde schlie?lich Schulmeister, meine kranke Mutter hatte das gewollt, und ich hatte es ihr versprochen, bevor sie starb. Sie war so viel krank gewesen, da? sie dachte, wenn ich einen Beruf mit lebenslanglicher Anstellung als Beamter hatte, konnte wenigstens mir nichts mehr passieren. Sie starb in den letzten Monaten des Krieges, aber ich machte trotzdem meine Prufung und wurde auf ein paar Dorfer in der Heide geschickt, bis ich genug davon hatte, Kindern Sachen einzutrichtern, an die ich selbst langst nicht mehr glaubte, und lebendig begraben zu sein zwischen Erinnerungen, die ich vergessen wollte.
Ich versuche zu lesen; aber es ist kein Wetter zum Lesen. Der Fruhling macht unruhig, und in der Dammerung verliert man sich leicht. Alles ist dann gleich ohne Grenzen und macht atemlos und verwirrt. Ich zunde das Licht an und fuhle mich sofort geborgener. Auf dem Tisch liegt ein gelber Aktendeckel mit Gedichten, die ich auf der Erika-Schreibmaschine in drei Durchschlagen getippt habe. Ab und zu schicke ich ein paar dieser Durchschlage an Zeitungen. Sie kommen entweder zuruck, oder die Zeitungen antworten nicht; dann tippe ich neue Durchschlage und probiere es wieder. Nur dreimal habe ich etwas veroffentlichen konnen, im Tageblatt der Stadt, allerdings mit Georgs Hilfe, der den Lokalredakteur kennt. Immerhin, das hat dafur genugt, da? ich Mitglied des Werdenbrucker Dichterklubs geworden bin, der bei Eduard Knobloch einmal in der Woche in der Altdeutschen Stube tagt. Eduard hat kurzlich versucht, mich wegen der E?marken als moralisch defekt ausschlie?en zu lassen; aber der Klub hat gegen Eduards Stimme erklart, ich handle hochst ehrenwert, namlich so, wie seit Jahren die gesamte Industrie und Geschaftswelt unseres geliebten Vaterlandes – und au?erdem habe Kunst mit Moral nichts zu schaffen.
Ich lege die Gedichte beiseite. Sie wirken plotzlich ?ach und kindisch, wie die typischen Versuche, die fast jeder junge Mensch einmal macht. Im Felde habe ich damit angefangen, aber da hatte es einen Sinn – es nahm mich fur Augenblicke weg von dem, was ich sah, und es war eine kleine Hutte von Widerstand und Glauben daran,