da? noch etwas jenseits von Zerstorung und Tod existiere. Doch das ist lange her; ich wei? heute, da? noch vieles andere daneben existiert, und ich wei? auch, da? beides sogar zur gleichen Zeit existieren kann. Meine Gedichte brauche ich dazu nicht mehr; in meinen Bucherregalen ist das alles viel besser gesagt. Aber was wurde mit einem passieren, wenn das schon ein Grund ware, etwas aufzugeben? Wo blieben wir alle? So schreibe ich weiter, doch oft genug erscheint es mir grau und papieren gegen den Abendhimmel, der jetzt uber den Dachern weit und apfelfarben wird, wahrend der violette Aschenregen der Dammerung schon die Stra?en fullt.
Ich gehe die Treppen hinunter, am dunklen Buro vorbei, in den Garten. Die Haustur der Familie Knopf steht offen. Wie in einer feurigen Hohle sitzen da die drei Tochter Knopfs im Licht an ihren Nahmaschinen und arbeiten. Die Maschinen surren. Ich werfe einen Blick auf das Fenster neben dem Buro. Es ist dunkel; Georg ist also bereits irgendwohin verschwunden. Auch Heinrich ist in den trostlichen Hafen seines Stammtisches eingekehrt. Ich mache eine Runde durch den Garten. Jemand hat die Beete begossen, die Erde ist feucht und riecht stark. Wilkes Sargtischlerei ist leer, und auch bei Kurt Bach ist es still. Die Fenster stehen offen; ein halbfertiger trauernder Lowe kauert auf dem Boden, als habe er Zahnschmerzen, und daneben stehen friedlich zwei leere Bier?aschen.
Ein Vogel fangt plotzlich an zu singen. Es ist eine Drossel. Sie sitzt auf der Spitze des Kreuzdenkmals, das Heinrich Kroll verschachert hat, und hat eine Stimme, die viel zu gro? ist fur den kleinen schwarzen Ball mit dem gelben Schnabel. Sie jubelt und klagt und bewegt mir das Herz. Ich denke einen Augenblick daran, da? ihr Lied, das fur mich Leben und Zukunft und Traume und alles Ungewisse, Fremde und Neue bedeutet, fur die Wurmer, die sich aus der feuchten Gartenerde um das Kreuzdenkmal jetzt heraufarbeiten, ohne Zweifel nichts weiter ist, als das grauenhafte Signal des Todes durch Zerhacken mit furchterlichen Schnabelhieben – trotzdem kann ich mir nicht helfen, es schwemmt mich weg, es lockert alles auf, ich stehe auf einmal hil?os und verloren da und wundere mich, da? ich nicht zerrei?e oder wie ein Ballon in den Abendhimmel ?iege, bis ich mich schlie?lich fasse und durch den Garten und den Nachtgeruch zuruckstolpere, die Treppen hinauf, zum Klavier, und auf die Tasten haue und sie streichle und versuche, auch so etwas wie eine Drossel zu sein, und herauszuschmettern und zu beben, was ich fuhle -: aber es wird dann doch zum Schlu? nichts anderes daraus als ein Haufen von Arpeggien und Fetzen von ein paar Schmachtschlagern und Volksliedern und etwas aus dem Rosenkavalier und aus Tristan, ein Gemisch und ein Durcheinander, bis jemand von der Stra?e heraufschreit:»Mensch, lerne doch erst einmal richtig spielen!«
Ich breche ab und schleiche zum Fenster. Im Dunkel verschwindet eine dunkle Gestalt; sie ist bereits zu weit weg, um ihr etwas an den Kopf zu werfen, und wozu auch? Sie hat ja recht. Ich kann nicht richtig spielen, weder auf dem Klavier noch auf dem Leben, nie, nie habe ich es gekonnt, immer war ich zu hastig, immer zu ungeduldig, immer kam etwas dazwischen, immer brach es ab – aber wer kann schon richtig spielen, und wenn er es kann, was nutzt es ihm dann? Ist das gro?e Dunkel darum weniger aussichtslos, brennt die Verzwei?ung uber die ewige Unzulanglichkeit darum weniger schmerzhaft, und ist das Leben dadurch jemals zu erklaren und zu fassen und zu reiten wie ein zahmes Pferd, oder ist es immer wie ein machtiges Segel im Sturm, das uns tragt und uns, wenn wir es greifen wollen, ins Wasser fegt? Da ist manchmal ein Loch vor mir, das scheint bis in den Mittelpunkt der Erde zu reichen. Was fullt es aus? Die Sehnsucht? Die Verzwei?ung? Ein Gluck? Und welches? Die Mudigkeit? Die Resignation? Der Tod? Wozu lebe ich? Ja, wozu lebe ich?
III
Es ist Sonntag fruh. Die Glocken lauten von allen Turmen, und die Irrlichter des Abends sind zerstoben. Der Dollar steht immer noch auf sechsunddrei?igtausend, die Zeit halt den Atem an, die Warme hat den Kristall des Himmels noch nicht geschmolzen, und alles scheint klar und unendlich rein, es ist die eine Stunde am Morgen, wo man glaubt, da? selbst dem Morder vergeben wird und da? gut und bose belanglose Worte sind.
Ich ziehe mich langsam an. Die kuhle, sonnige Luft weht durch das offene Fenster. Schwalben blitzen stahlern unter dem Torbogen durch. Mein Zimmer hat, wie das Buro darunter, zwei Fenster, eines zum Hof und eines zur Stra?e. Ich lehne einen Augenblick im Hoffenster und sehe in den Garten. Plotzlich tont ein erstickter Schrei durch die Stille, dem ein Gurgeln und Stohnen folgt. Es ist Heinrich Kroll, der im andern Flugel schlaft. Er hat wieder einmal einen seiner Alptraume. 1918 ist er verschuttet worden, und heute, funf Jahre spater, traumt er immer noch ab und zu davon.
Ich koche auf meinem Spirituskocher Kaffee, in den ich einen Schluck Kirsch gie?e. Ich habe das in Frankreich gelernt, und Schnaps habe ich trotz der In?ation immer noch. Mein Gehalt reicht zwar nie aus fur einen neuen Anzug – ich kann dafur einfach das Geld nicht zusammensparen, es wird zu rasch wertlos -, aber fur kleine Sachen genugt es, und darunter naturlich, als Trost, ab und zu fur eine Flasche Schnaps.
Ich esse mein Brot mit Margarine und P?aumenmarmelade. Die Marmelade ist gut, sie stammt aus den Vorraten von Mutter Kroll. Die Margarine ist ranzig, aber das macht nichts; im Kriege haben wir alle schlechter gegessen. Dann mustere ich meine Garderobe. Ich besitze zwei zu Zivilanzugen umgearbeitete Militaruniformen. Der eine ist blau, der andere schwarz gefarbt – viel mehr war mit dem graugrunen Stoff nicht zu machen. Au?erdem habe ich noch einen Anzug aus der Zeit, bevor ich Soldat wurde. Er ist ausgewachsen, aber es ist ein richtiger Zivilanzug, kein umgearbeiteter oder gewendeter, und deshalb ziehe ich ihn heute an. Er pa?t zu der Krawatte, die ich gestern nachmittag gekauft habe und die ich heute tragen will, damit Isabelle sie sieht.
Friedlich wandere ich durch die Stra?en der Stadt. Werdenbruck ist eine alte Stadt von 60 000 Einwohnern, mit Holzhausern und Barockbauten und scheu?lichen neuen Vierteln dazwischen. Ich durchquere sie und gehe zur anderen Seite hinaus, eine Allee mit Ro?kastanien entlang und dann einen kleinen Hugel hinauf, auf dem sich in einem gro?en Park die Irrenanstalt be?ndet. Sie liegt still und sonntaglich da, Vogel zwitschern in den Baumen, und ich gehe hin, um in der kleinen Kirche der Anstalt fur die Sonntagsmesse die Orgel zu spielen. Ich habe das wahrend meiner Vorbereitungen zum Schulmeister gelernt und diese Stellung vor einem Jahr als Nebenberuf geschnappt. Ich habe mehrere solcher Nebenberufe. Einmal in der Woche erteile ich den Kindern des Schuhmachermeisters Karl Brill Klavierunterricht und bekomme dafur meine Schuhe besohlt und etwas Geld – und zweimal in der Woche gebe ich dem ?egeligen Sohn des Buchhandlers Bauer Nachhilfestunden, ebenfalls fur etwas Geld und das Recht, alle neuen Bucher zu lesen und Vorzugspreise zu bekommen, wenn ich welche kaufen will. Diese Vorzugspreise werden naturlich vom gesamten Dichterklub ausgenutzt, sogar von Eduard Knobloch, der dann auf einmal mein Freund ist.
Die Messe beginnt um neun Uhr. Ich sitze an der Orgel und sehe die letzten Patienten hereinkommen; Sie kommen leise und verteilen sich auf die Banke. Ein paar Warter und Schwestern sitzen zwischen ihnen und an den Seiten. Alles geht sehr behutsam zu, viel lautloser als in den Bauernkirchen, in denen ich zur Zeit meiner Schulmeisterei gespielt habe. Man hort nur das Gleiten der Schuhe auf dem Steinboden; sie gleiten, sie trampeln nicht. Es ist das Gerausch der Schritte von Menschen, deren Gedanken weit weg sind.
Vor dem Altar sind die Kerzen angezundet. Durch das bunte Glas der Fenster fallt das Licht von drau?en gedampft herein und mischt sich mit dem Kerzenschein zu einem sanften, rot und blau uberwehten Gold. Darin steht der Priester in seinem brokatenen Me?gewand, und auf den Stufen des Altars knien die Me?diener in ihren roten Talaren mit den wei?en Uberwurfen.
Ich ziehe die Register der Floten und der Vox humana und beginne. Mit einem Ruck wenden sich die Kopfe der Irren in den vorderen Reihen um, alle auf einmal, als wurden sie an einer Schnur herumgezogen. Ihre bleichen Gesichter mit den dunklen Augenhohlen starren ausdruckslos nach oben zur Orgel. Sie schweben wie ?ache helle Scheiben in dem dammernden goldenen Licht, und manchmal, im Winter, im Dunkeln, sehen sie aus wie gro?e Hostien, die darauf warten, da? der Heilige Geist in sie einkehre. Sie gewohnen sich nicht an die Orgel; sie haben keine Vergangenheit und keine Erinnerung, und jeden Sonntag treffen die Floten und Geigen und die Gamben ihre entfremdeten Gehirne unerwartet und neu. Dann beginnt der Priester am Altar, und sie wenden sich ihm zu.
Nicht alle Irren folgen der Messe. In den hinteren Reihen sitzen viele, die sich nicht bewegen. Sie sitzen da, als waren sie eingehullt in eine furchtbare Trauer und um sie ware nichts als Leere – aber vielleicht scheint einem das auch nur so. Vielleicht sind sie in ganz anderen Welten, in die kein Wort des gekreuzigten Heilands klingt, harmlos und ohne Verstehen einer Musik hingegeben, gegen die die Orgel bla? und grob klingt. Und vielleicht auch denken sie gar nichts – gleichgultig wie das Meer, das Leben und der Tod. Nur wir beseelen die Natur. Wie sie