sein mag, wenn sie sie selbst ist – vielleicht wissen es die Kopfe da unten; aber sie konnen das Geheimnis nicht verraten. Was sie sehen, hat sie stumm gemacht. Manchmal ist es, als waren sie die letzten Abkommen der Turmbauer von Babel, ihre Sprache sei verwirrt und sie konnten nicht mehr mitteilen, was sie von der obersten Terrasse aus gesehen haben.
Ich spahe nach der ersten Reihe. An der rechten Seite, in einem Flirren von Rosa und Blau sehe ich den dunklen Kopf Isabelles. Sie kniet sehr gerade und schlank in der Bank. Ihr schmaler Kopf ist zur Seite geneigt wie bei einer gotischen Statue. Ich sto?e die Gamben und die Register der Vox humana zuruck und ziehe die Vox Celeste. Es ist das sanfteste und entruckteste Register der Orgel. Wir nahern uns der heiligen Wandlung. Brot und Wein werden in den Leib und das Blut Christi verwandelt. Es ist ein Wunder – ebenso wie jenes andere, da? aus Staub und Lehm der Mensch geworden sei. Riesenfeld behauptet, das dritte ware, da? der Mensch mit diesem Wunder nicht viel mehr anzufangen gewu?t habe, als seinesgleichen auf immer gro?zugigere Weise auszunutzen und umzubringen und die kurze Frist zwischen Geburt und Tod mit soviel Egoismus wie nur moglich vollzustopfen, obschon fur jeden doch nur eines absolut sicher sei von Beginn: da? er sterben musse. Das sagt Riesenfeld von den Odenwalder Granitwerken, einer der scharfsten Kalkulatoren und Draufganger im Geschaft des Todes.
Ich erhalte nach der Messe von den Schwestern der Anstalt ein Fruhstuck aus Eiern, Aufschnitt, Bouillon, Brot und Honig. Das gehort zu meinem Vertrag. Ich komme damit gut uber das Mittagessen hinweg; denn sonntags gelten Eduards E?karten nicht. Au?erdem erhalte ich tausend Mark, eine Summe, fur die ich gerade mit der Stra?enbahn hin- und zuruckfahren kann, wenn ich will. Ich habe nie eine Erhohung verlangt. Warum, wei? ich nicht; bei dem Schuster Karl Brill und den Nachhilfestunden fur den Sohn des Buchhandlers Bauer kampfe ich darum wie ein wilder Ziegenbock.
Nach dem Fruhstuck gehe ich in den Park der Anstalt. Es ist ein schones, weitlau?ges Gelande mit Baumen, Blumen und Banken, umgeben von einer hohen Mauer, und man konnte glauben, in einem Sanatorium zu sein, wenn man nicht die vergitterten Fenster sahe.
Ich liebe den Park, weil er still ist und weil ich hier mit niemand uber Krieg, Politik und In?ation zu reden brauche. Ich kann ruhig sitzen und so altmodische Dinge tun wie auf den Wind lauschen, den Vogeln zuhoren und das Licht beobachten, wie es durch das helle Grun der Baumkronen ?ltert.
Die Kranken, die ausgehen durfen, wandern voruber. Die meisten sind still, andere reden mit sich selbst, ein paar diskutieren lebhaft mit Besuchern und Wartern, und viele hocken schweigend und allein, ohne sich zu ruhren, mit gebeugten Kopfen, wie versteinert in der Sonne – bis sie wieder in ihre Zellen zuruckgeschafft werden.
Es hat einige Zeit gedauert, ehe ich mich an den Anblick gewohnt habe, und selbst heute kommt es ab und zu noch vor, da? ich die Irren anstarre wie zu Anfang: mit einem Gemisch aus Neugier, Grauen und etwas namenlosem dritten, das mich an den Augenblick erinnert, als ich meinen ersten Toten sah. Ich war damals zwolf Jahre alt, der Tote hie? Georg Hellmann, eine Woche vorher hatte ich mit ihm noch gespielt, und nun lag er da, zwischen Blumen und Kranzen, etwas unsagbar Fremdes aus gelbem Wachs, das in einer entsetzlichen Weise nichts mehr mit uns zu tun hatte, das fort war fur ein unausdenkbares Immer und doch noch da, in einer stummen, seltsam kuhlen Drohung. Spater, im Kriege, habe ich dann unzahlige Tote gesehen und kaum mehr dabei empfunden, als ware ich in einem Schlachthause – aber diesen ersten habe ich nie vergessen, so wie man alles Erste nicht vergi?t. Er war der Tod. Und es ist derselbe Tod, der mich manchmal aus den erloschenen Augen der Irren anblickt, ein lebendiger Tod, unbegrei?icher fast noch und ratselhafter als der andere, stille. Nur bei Isabelle ist das anders.
Ich sehe sie den Weg vom Pavillon fur Frauen herankommen. Ein gelbes Kleid schwingt wie eine Glocke aus Shantungseide um ihre Beine, und in der Hand halt sie einen ?achen, breiten Strohhut.
Ich stehe auf und gehe ihr entgegen. Ihr Gesicht ist schmal, und man sieht darin eigentlich nur die Augen und den Mund. Die Augen sind grau und grun und sehr durchsichtig, und der Mund ist rot wie der einer Lungenkranken oder als hatte sie ihn stark geschminkt. Die Augen konnen aber auch plotzlich ?ach, schieferfarben und klein werden und der Mund schmal und verbittert wie der einer alten Jungfer, die nie geheiratet worden ist. Wenn sie so ist, ist sie Jennie, eine mi?trauische, unangenehme Person, der man nichts recht machen kann – wenn sie anders ist, ist sie Isabelle. Beides sind Illusionen, denn in Wirklichkeit hei?t sie Genevieve Terhoven und leidet an einer Krankheit, die den ha?lichen und etwas gespenstischen Namen Schizophrenie fuhrt – Teilung des Bewu?tseins, Spaltung der Personlichkeit, und das ist auch der Grund, warum sie sich fur Isabelle oder Jennie halt – jemand andern, als sie wirklich ist. Sie ist eine der jungsten Kranken der Anstalt. Ihre Mutter soll im Elsa? leben und ziemlich reich sein, sich aber wenig um sie kummern – ich habe sie jedenfalls hier noch nicht gesehen, seit ich Genevieve kenne, und das ist schon sechs Wochen her.
Sie ist heute Isabelle, das sehe ich sofort. Sie lebt dann in einer Traumwelt, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, und ist leicht und schwerelos, und ich wurde mich nicht wundern, wenn die Zitronenfalter, die uberall herumspielen, sich ihr auf die Schultern setzten.
»Da bist du!«sagt sie strahlend.»Wo warst du all die Zeit?«
Wenn sie Isabelle ist, sagt sie du zu mir. Das ist keine besondere Auszeichnung; sie sagt dann du zu aller Welt.
»Wo warst du?«fragt sie noch einmal.
Ich mache eine Bewegung in die Richtung des Tores.
»Irgendwo – da drau?en -«
Sie sieht mich einen Augenblick forschend an.»Drau?en? Warum? Suchst du da etwas?«
»Ich glaube schon – wenn ich nur wu?te, was!«
Sie lacht.»Gib es auf, Rolf. Man ?ndet nie etwas.«
Ich zucke zusammen unter dem Namen Rolf. Leider nennt sie mich ofter so, denn ebenso wie sich selbst halt sie auch mich fur jemand andern, und auch nicht immer fur denselben. Sie wechselt zwischen Rolf und Rudolf, und einmal kam auch ein gewisser Raoul auf. Rolf ist ein langweiliger Patron, den ich nicht ausstehen kann; Raoul scheint eine Art Verfuhrer zu sein – am liebsten aber ist es mir, wenn sie mich Rudolf nennt, dann ist sie schwarmerisch und verliebt. Meinen wirklichen Namen, Ludwig Bodmer, ignoriert sie. Ich habe ihn ihr oft gesagt; aber sie nimmt ihn einfach nicht zur Kenntnis.
In den ersten Wochen war das alles ziemlich verwirrend fur mich; aber jetzt bin ich daran gewohnt. Damals hatte ich auch noch die landlau?ge Auffassung von Geisteskrankheiten und stellte mir darunter dauernde Tobsuchtsanfalle, Mordversuche und lallende Idioten vor – um so uberraschender hob sich Genevieve davon ab. Ich konnte anfangs kaum glauben, da? sie uberhaupt krank war, so spielerisch erschien mir die Verwechslung von Namen und Identitat, und auch jetzt passiert mir das manchmal noch; dann aber begriff ich, da? hinter dieser fragilen Konstruktion trotzdem lautlos das Chaos wehte. Es war noch nicht da, aber es war nahe, und das gab Isabelle, zusammen damit, da? sie erst zwanzig Jahre alt und durch ihre Krankheit oft von einer fast tragischen Schonheit war, eine seltsame Anziehungskraft.
»Komm, Rolf«, sagt sie und nimmt meinen Arm.
Ich versuche noch einmal, dem verha?ten Namen zu ent?iehen.»Ich bin nicht Rolf«, erklare ich,»ich bin Rudolf.«
»Du bist nicht Rudolf.«
»Doch, ich bin Rudolf. Rudolf, das Einhorn.«
Sie hat mich einmal so genannt. Doch ich habe kein Gluck. Sie lachelt, so wie man uber ein storrisches Kind lachelt.»Du bist nicht Rudolf, und du bist nicht Rolf. Aber du bist auch nicht, was du denkst. Und nun komm, Rolf.«
Ich sehe sie an. Einen Moment habe ich wieder das Gefuhl, als ware sie nicht krank und verstelle sich nur.
»Sei nicht langweilig. Warum willst du immer derselbe sein?«
»Ja, warum?«erwidere ich uberrascht.»Du hast recht! Warum will man das? Was ist schon an einem so dringend aufzubewahren? Und wozu nimmt man sich so wichtig?«
Sie nickt.»Du und der Doktor! Der Wind weht zum Schlu? doch uber alles. Warum wollt ihr es nicht zugeben?«
»Der Doktor auch?«frage ich.
»Ja, der, der sich so nennt. Was der alles von mir will! Dabei wei? er nichts. Nicht einmal, wie Gras