Mitternacht. Wilke kippt einen Schnaps herunter.

»Wie ware es jetzt mit einem Spaziergang zum Friedhof?«fragt der manchmal etwas gefuhlsrohe Gottesleugner Bach.

Wilkes Schnurrbart bebt vor Entsetzen im Winde, der durchs Fenster weht.»Und so was nennt man nun Freunde!«sagt er vorwurfsvoll. Gleich darauf erschrickt er wieder.»Was war das?«

»Ein Liebespaar, drau?en. Mach jetzt eine Pause im Hobeln, Alfred. I?! Gespenster lieben keine Menschen, die essen. Hast du keine Sprotten hier?«

Alfred wirft mir den Blick eines Hundes zu, den man tritt, wahrend er gerade dem Ruf der Natur folgt.»Mu?t du mich daran jetzt erinnern? An mein elendes Liebesleben und die Einsamkeit eines Mannes im besten Alter?«

»Du bist ein Opfer deines Berufs«, sage ich.»Nicht jeder kann das von sich sagen. Komm zum Souper! So nennt man diese Mahlzeit in der eleganten Welt.«

Wir greifen zu Wurst und Kase und offnen die Bier?aschen. Der Kanarienvogel bekommt ein Salatblatt und bricht in Lebensjubel aus, ohne zu wissen, ob er Atheist ist oder nicht. Kurt Bach hebt das erdfarbene Gesicht und schnuppert.»Es riecht nach Sternen«, erklart er.

»Was?«Wilke setzt seine Flasche in die Hobelspane.»Was soll denn das nun wieder?«

»Um Mitternacht riecht die Welt nach Sternen.«

»La? doch die Witze! Wie kann jemand nur leben wollen, wenn er an nichts glaubt und dann noch so redet?«

»Willst du mich bekehren?«fragt Kurt Bach.»Du Erbschleicher des Himmels?«

»Nein, nein! Oder ja, meinetwegen. Hat da nicht was geraschelt?«

»Ja«, sagt Kurt.»Die Liebe.«

Wir horen drau?en wieder ein behutsames Schleichen. Ein zweites Liebespaar verschwindet im Denkmalswald. Man sieht den wei?en Fleck des wandernden Madchenkleides.

»Warum sehen eigentlich die Menschen so anders aus, wenn sie tot sind?«fragt Wilke.»Sogar Zwillinge.«

»Weil sie nicht mehr entstellt sind«, erwidert Kurt Bach. Wilke halt im Kauen inne.»Wieso denn das?«

»Vom Leben«, sagt der Monist.

Wilke klappt den Schnurrbart herunter und kaut weiter.»Um diese Zeit konntet ihr doch wohl mit dem Blodsinn aufhoren! Ist euch denn nichts heilig?«

Kurt Bach lacht lautlos.»Du arme Ranke! Immer mu?t du was haben, um dich dran festzuhalten.«

»Und du?«

»Ich auch.«Die Augen in dem Gesicht aus Lehm glanzen, als waren sie aus Glas. Der Sohn der Natur ist gewohnlich verschlossen und nichts anderes als ein gescheiterter Bildhauer mit gescheiterten Traumen; aber manchmal brechen die Urbilder dieser Traume aus ihm heraus, so wie sie vor zwanzig Jahren waren, und dann ist er auf einmal ein verspateter Faun mit Visionen.

Auf dem Hof knistert und ?ustert und schleicht es wieder.»Vor vierzehn Tagen gab es drau?en mal einen Streit«, sagt Wilke.»Ein Schlosser hatte vergessen, seine Werkzeuge aus der Tasche zu nehmen, und wahrend des sturmischen Aktes mussen sie sich so unglucklich verlagert haben, da? die Dame plotzlich von einer spitzen Ahle gestochen wurde. Sie mit einem Sprung auf, ergreift einen kleinen Bronzekranz, schlagt ihn dem Mechaniker uber den Schadel – haben Sie denn das nicht gehort?«fragt er mich.

»Nein.«

»Haut ihm also den Bronzekranz so uber die Ohren, da? er ihn nicht herunterkriegen kann. Ich mache Licht, frage, was los ist. Der Kerl, voll Angst, galoppiert los, den Bronzekranz wie ein romischer Staatsmann um den Schadel – habt ihr denn den Bronzekranz nicht vermi?t?«

»Nein.«

»So was!«Er also raus, als wenn ein Wespenschwarm hinter ihm ware. Ich runter. Das Fraulein steht noch da, sieht auf ihre Hand.»Blut!«sagt sie.»Er hat mich gestochen! Und das in einem solchen Moment!«

Ich sehe am Boden die Ahle und reime mir zusammen, was passiert ist. Ich hebe die Ahle auf.»Das kann Blutvergiftung geben«, sage ich.»Sehr gefahrlich! Einen Finger kann man abbinden; einen Hintern nicht. Selbst nicht einen so reizenden.«Sie errotet -

»Wie konntest du das im Dunkeln sehen?«fragt Kurt Bach. -»Es war Mond.«

»Bei Mond sieht man Erroten auch nicht.«

»Man fuhlt es«, erklart Wilke.»Sie errotet also, halt aber ihr Kleid immer weg vom Korper. Sie trug ein helles Kleid, und Blut macht Flecken, die schwer zu entfernen sind, deshalb.»Ich habe Jod und Heftp?aster«, sage ich.»Und ich bin diskret. Kommen Sie!«Sie kommt und erschrickt nicht einmal.«Wilke wendet sich mir zu.»Das ist das Schone an eurem Hof«, sagt er begeistert.»Wer zwischen Denkmalern liebt, hat auch keine Angst vor Sargen. So kam es, da? nach Jod und P?aster und einem Schluck Portwein-Verschnitt der Sarg des Riesen doch noch einen Zweck erfullte.«

»Er wurde zur Liebeslaube?«frage ich, um sicher zu sein.

»Der Kavalier genie?t und schweigt«, erwidert Wilke.

In diesem Augenblick tritt der Mond zwischen den Wolken hervor. Wei? leuchtet unten der Marmor, schwarz schimmern die Kreuze, und verstreut dazwischen sehen wir vier Liebespaare, zwei im Marmorlager, zwei im Granit. Einen Augenblick ist alles still und erstarrt in Uberraschung – es gibt jetzt nur die Flucht oder das vollige Ignorieren der veranderten Situation. Flucht ist nicht so ungefahrlich; man entkommt zwar im Augenblick, holt sich dafur aber einen solchen neurotischen Schock, da? er zur Impotenz fuhren kann. Ich wei? das von einem Gefreiten, der einmal von einem Vizefeldwebel der Pioniere im Wald mit einer Kochin uberrascht wurde – er war erledigt furs Leben, und seine Frau lie? sich zwei Jahre spater von ihm scheiden.

Die Liebespaare tun das Richtige. Wie sichernde Hirsche werfen sie die Kopfe herum – dann, die Augen auf das einzige erleuchtete Fenster gerichtet, unseres, das ja auch schon vorher da war, verharren sie, als hatte Kurt Bach sie ausgehauen. Es ist ein Bild der Unschuld, hochstens etwas lacherlich, auch wie bei Bachs Skulpturen. Gleich darauf wischt ein Wolkenschatten den Mond so hinweg, da? dieser Teil des Gartens dunkel ist und nur der Obelisk noch Licht hat. Aber wer steht dort, ein glitzernder Springbrunnen? Der pissende Knopf, wie die Statue in Brussel, die jeder Soldat kennt, der in Belgien Urlaub hatte.

Es ist zu weit, um etwas zu tun. Ich fuhle mich heute auch nicht so. Wozu soll ich wie eine Hausfrau reagieren? Ich habe heute nachmittag beschlossen, diesen Platz zu verlassen, und darum stromt mir das Leben jetzt doppelt stark zu, ich fuhle es uberall, im Geruch der Hobelspane und im Mond, im Huschen und Rascheln im Hof und in dem unsaglichen Wort September, in meinen Handen, die sich bewegen und es fassen konnen, und in meinen Augen, ohne die alle Museen der Welt leer waren, in Geistern, Gespenstern, Verganglichkeit und der wilden Jagd der Erde vorbei an Cassiopeia und den Plejaden, in der Ahnung von endlosen fremden Garten unter fremden Sternen, von Stellungen in gro?en fremden Zeitungen und von Rubinen, die jetzt in der Erde zu rotem Leuchten zusammenwachsen, ich fuhle es, und das verhindert mich, eine leere Bier?asche in die Richtung der Drei?igsekundenfontane Knopf zu werfen -

In diesem Augenblick schlagen die Uhren. Es ist eins. Die Geisterstunde ist voruber, wir konnen zu Wilke wieder Sie sagen und uns entweder weiterbetrinken, oder in den Schlaf hinabsteigen wie in ein Bergwerk, in dem es Kohle, Leichen, wei?e Salzpalaste und begrabene Diamanten gibt.

XIX

Sie sitzt in einer Ecke ihres Zimmers, neben das Fenster gedruckt.»Isabelle«, sage ich.

Sie antwortet nicht. Ihre Augenlider ?attern wie Schmetterlinge, die von Kindern lebend auf Nadeln gespie?t sind.

»Isabelle«, sage ich.»Ich bin gekommen, um dich abzuholen.«

Sie erschrickt und druckt sich gegen die Wand. Sie sitzt steif und verkrampft da.»Kennst du mich nicht mehr?«frage ich.

Sie bleibt still sitzen; nur die Augen drehen sich zu mir heruber, wachsam und sehr dunkel.»Der, der sich als Doktor ausgibt, hat dich geschickt«, ?ustert sie.

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