Es ist wahr. Wernicke hat mich geschickt.»Er hat mich nicht geschickt«, sage ich.»Ich bin heimlich gekommen. Keiner wei?, da? ich hier bin.«
Sie lost sich langsam von der Wand.»Du hast mich auch verraten.«
»Ich habe dich nicht verraten. Ich konnte dich nicht erreichen. Du bist nicht herausgekommen.«
»Ich konnte doch nicht«, ?ustert sie.»Sie standen alle drau?en und warteten. Sie wollten mich fangen. Sie haben herausbekommen, da? ich hier bin.«
»Wer?«
Sie sieht mich an und antwortet nicht. Wie schmal sie ist! denke ich. Wie schmal und wie allein in diesem kahlen Zimmer! Sie hat nicht einmal sich selbst. Nicht einmal das Alleinsein ihres Ichs. Sie ist zersprengt wie eine Granate in lauter scharfkantige Stucke von Angst in einer fremden, drohenden Landschaft unfa?barer Schrecken.
»Niemand wartet auf dich«, sage ich.
»Doch.«
»Woher wei?t du das?«
»Die Stimmen. Horst du sie nicht?«
»Nein.«
»Die Stimmen wissen alles. Horst du sie nicht?«
»Es ist der Wind, Isabelle.«
»Ja«, sagt sie ergeben.»Meinetwegen ist es der Wind. Wenn es nur nicht so weh tate!«
»Was tut weh?«
»Das Sagen. Sie konnten doch schneiden, das ginge schneller. Aber dieses stumpfe, langsame Sagen! Alles wachst immer schon wieder zusammen, wenn sie so langsam sind! Dann fangen sie wieder von vorne an, und so hort es nie auf. Sie sagen durch das Fleisch, und das Fleisch wachst dahinter zusammen, und es hort nie auf.«
»Wer sagt?«
»Die Stimmen.«
»Stimmen konnen nicht sagen.«
»Diese sagen.«
»Wo sagen sie?«
Isabelle macht eine Bewegung, als habe sie heftige Schmerzen. Sie pre?t ihre Hande zwischen die Oberschenkel.
»Sie wollen es heraussagen. Ich soll nie Kinder haben.«
»Wer?«
»Die drau?en. Sie sagt, sie hatte mich geboren. Jetzt will sie mich wieder in sich zuruckrei?en. Sie sagt und sagt. Und er halt mich fest.«Sie schauert.»Er – der in ihr ist -«
»In ihr?«
Sie stohnt.»Sag es nicht – sie will mich toten – ich darf es nicht wissen -«
Ich gehe zu ihr hinuber, um einen Lehnstuhl mit einem fahlen Rosenmuster herum, der sonderbar beziehungslos mit seiner Imitation des su?en Lebens in diesem kahlen Raum steht.»Was darfst du nicht wissen?«
»Sie will mich toten. Ich darf nicht schlafen. Warum wacht niemand mit mir? Alles mu? ich allein tun. Ich bin so mude«, klagt sie, wie ein Vogel.»Es brennt, und ich kann nicht schlafen, und ich bin so mude. Aber wer kann schlafen, wenn es brennt und niemand wacht? Auch du hast mich verlassen.«
»Ich habe dich nicht verlassen.«
»Du hast mit ihnen gesprochen. Sie haben dich bestochen. Warum hast du mich nicht gehalten? Die blauen Baume und der Silberregen. Du aber hast nicht gewollt. Nie! Du hattest mich retten konnen.«
»Wann?«frage ich und spure, da? etwas in mir bebt, und ich will nicht, da? es bebt, und es bebt doch, und das Zimmer scheint nicht mehr fest zu sein, es ist, als bebten die Mauern und bestanden nicht mehr aus Stein und Mortel und Verputz, sondern aus Schwingungen, dick konzentrierten Schwingungen aus Billionen von Faden, die von Horizont zu Horizont und daruber hinaus ?ie?en und hier verdickt sind zu einem viereckigen Gefangnis aus Hangestricken, Galgenstricken, in denen etwas Sehnsucht und Lebensangst zappelt.
Isabelle wendet ihr Gesicht zuruck zur Mauer.»Ach, es ist verloren – so viele Leben lang schon.«
Die Dammerung fallt plotzlich in das Fenster. Sie verhangt es mit einem Schleier aus fast unsichtbarem Grau. Alles ist noch da wie vorher, das Licht drau?en, das Grun, das Gelb der Wege, die zwei Palmen in den gro?en Majolikatopfen, der Himmel mit den Wolkenfeldern, das ferne, graue und rote Dachergewimmel in der Stadt hinter den Waldern – und nichts ist mehr da wie vorher, die Dammerung hat es isoliert, sie hat es mit dem Lack der Verganglichkeit uberzogen, es zum Fra? vorbereitet, wie Hausfrauen einen Sauerbraten mit Essig, fur die Schattenwolfe der Nacht. Nur Isabelle ist noch da, geklammert an das letzte Seil des Lichtes, aber auch sie ist schon hineingezogen an ihm in das Drama des Abends, das nie ein Drama war und nur eines ist, weil wir wissen, da? es Vergehen hei?t. Erst seit wir wissen, da? wir sterben mussen, und weil wir es wissen, wurde Idyll zu Drama, Kreis zur Lanze, Werden zu Vergehen und Schrei zu Furcht und Flucht zu Urteil.
Ich halte sie fest in den Armen. Sie zittert und sieht mich an und druckt sich an mich, und ich halte sie, wir halten uns – zwei Fremde, die nichts voneinander wissen und sich halten, weil sie sich mi?verstehen und sich fur etwas anderes halten, als sie sind, und die doch ?uchtigen Trost aus diesem Mi?verstandnis schopfen, einem doppelten und dreifachen und endlosen Mi?verstandnis, und doch dem einzigen, das wie ein Regenbogen eine Brucke vorgaukelt, wo niemals eine sein kann, ein Re?ex zwischen zwei Spiegeln, weitergeworfen in eine immer fernere Leere.»Warum liebst du mich nicht?«?ustert Isabelle.
»Ich liebe dich. Alles in mir liebt dich.«
»Nicht genug. Die anderen sind immer noch da. Wenn es genug ware, wurdest du sie toten.«
Ich halte sie in den Armen und sehe uber sie hinweg in den Park, wo die Schatten wie amethystene Wellen von der Ebene und von den Alleen heraufwehen. Alles in mir ist scharf und klar, aber gleichzeitig ist mir, als stande ich auf einer schmalen Plattform sehr hoch uber einer murmelnden Tiefe.»Du wurdest es nicht ertragen, da? ich au?er dir lebte«, ?ustert Isabelle.
Ich wei? nichts zu antworten. Immer ruhrt mich etwas an, wenn sie solche Satze sagt – als ware eine tiefere Wahrheit dahinter, als ich erkennen kann – als kame sie vom Jenseits der Dinge, von da, wo es keine Namen gibt.»Fuhlst du, wie es kalt wird?«fragt sie an meiner Schulter.»Jede Nacht stirbt alles. Das Herz auch. Sie zersagen es.«
»Nichts stirbt, Isabelle. Nie.«
»Doch! Das steinerne Gesicht – es zerspringt in Stucke. Morgen ist es wieder da. Ach, es ist kein Gesicht! Wie wir lugen, mit unseren armen Gesichtern! Du lugst auch -«
»Ja -«sage ich.»Aber ich will es nicht.«
»Du mu?t das Gesicht herunterscheuern, bis nichts mehr da ist. Nur glatte Haut. Nichts mehr! Aber dann ist es immer noch da. Es wachst nach. Wenn alles stillstande, hatte man keine Schmerzen. Warum wollen sie mich lossagen von allem? Warum will sie mich zuruck? Ich verrate doch nichts!«
»Was konntest du verraten?«
»Das, was bluht. Es ist voll Schlamm. Es kommt aus den Kanalen.«
Sie zittert wieder und druckt sich an mich.»Sie haben meine Augen festgeklebt. Mit Leim, und dann haben sie Nadeln hindurchgesteckt. Aber ich kann trotzdem nicht wegsehen.«
»Wegsehen wovon?«
Sie sto?t mich von sich.»Sie haben dich auch ausgeschickt! Ich verrate nichts! Du bist ein Spion. Sie haben dich gekauft! Wenn ich es sage, toten sie mich.«
»Ich bin kein Spion. Warum sollten sie dich toten, wenn du es mir sagst? Sie konnten das doch ohne das viel besser. Wenn ich es wei?, mu?ten sie mich ja auch toten. Es wu?te dann einer mehr.«
Es dringt durch zu ihr. Sie sieht mich wieder an. Sie uberlegt. Ich halte mich so still, da? ich kaum atme. Ich spure, da? wir vor einer Tur stehen und da? dahinter die Freiheit sein konnte. Das, was Wernicke Freiheit nennt. Die Ruckkehr aus dem Irrgarten in normale Stra?en, Hauser und Beziehungen. Ich wei? nicht, ob es soviel besser sein wird, aber daruber kann ich nicht nachdenken, wenn ich diese gequalte Kreatur vor mir sehe.»Wenn du es mir erklarst, werden sie dich in Ruhe lassen«, sage ich.»Und wenn sie dich nicht in Ruhe lassen, werde ich Hilfe holen. Von der Polizei, von Zeitungen. Sie werden Angst bekommen. Und du brauchst dann keine mehr zu