haben.«
Sie pre?t die Hande zusammen.»Es ist nicht das allein«, bringt sie schlie?lich hervor.
»Was ist es noch?«
Ihr Gesicht wird in einer Sekunde hart und verschlossen. Wie weggewischt ist die Qual und die Unentschlossenheit. Der Mund wird klein und schmal, und das Kinn tritt hervor. Sie hat jetzt etwas von einer dunnen, puritanischen, bosen Jungfer.»La? nur!«sagt sie. Auch ihre Stimme ist verandert.
»Schon, lassen wir es. Ich brauche es nicht zu wissen.«
Ich warte. Ihre Augen glitzern ?ach, wie nasser Schiefer im letzten Licht. Alles Grau des Abends scheint sich in ihnen zu sammeln; sie sieht mich uberlegen und spottisch an.»Das mochtest du wohl, was? Vorbeigelungen, Spion!«
Ich werde ohne Grund wutend, obschon ich wei?, da? sie krank ist und da? diese Bewu?tseinsbruche blitzartig kommen.»Geh zum Teufel«, sage ich argerlich.»Was geht mich das alles an!«
Ich sehe, da? ihr Gesicht sich wieder verandert; aber ich gehe rasch hinaus, voll unbegrei?ichen Aufruhrs.
»Und?«fragt Wernicke.
»Das ist alles. Warum haben Sie mich zu ihr hineingeschickt? Es hat nichts gebessert. Ich tauge nicht zum Krankenp?eger. Sie sehen ja – als ich vorsichtig mit ihr hatte reden sollen, habe ich sie angeschrien und bin weggelaufen.«
»Es war besser, als Sie ahnen.«Wernicke holt hinter seinen Buchern eine Flasche und zwei Glaser hervor und schenkt ein.»Kognak«, sagt er.»Ich mochte nur eins wissen – woher sie spurt, da? ihre Mutter wieder hier ist.«
»Ihre Mutter ist hier?«
Wernicke nickt.»Seit vorgestern. Sie hat sie noch nicht gesehen. Auch nicht vom Fenster aus.«
»Warum sollte sie nicht?«
»Sie mu?te dazu weit aus dem Fenster hangen und Augen wie ein Scherenfernrohr haben.«Wernicke betrachtet die Farbe seines Kognaks.»Aber manchmal spuren Kranke dieser Art so etwas. Vielleicht hat sie es auch erraten. Ich habe sie in die Richtung getrieben.«
»Wozu?«sage ich.»Sie ist kranker, als ich sie je gesehen habe.«
»Nein«, erwidert Wernicke.
Ich stelle mein Glas zuruck und blicke auf die dicken Bucher seiner Bibliothek.»Sie ist so elend, da? einem der Magen hochkommt.«
»Elend schon; aber nicht kranker.«
»Sie hatten sie in Ruhe lassen sollen – so, wie sie im Sommer war. Sie war glucklich. Jetzt – das ist entsetzlich.«
»Ja, es ist entsetzlich«, sagt Wemicke.»Es ist fast so, als ob all das wirklich geschahe, was sie sich einbildet.«
»Sie sitzt da wie in einer Folterkammer.«
Wernicke nickt.»Man glaubt drau?en immer, so etwas existiere nicht mehr. Es existiert noch. Hier. Jeder hat seine eigene Folterkammer im Schadel.«
»Nicht nur hier.«
»Nicht nur hier«, gibt Wernicke bereitwillig zu und nimmt einen Schluck Kognak.»Aber viele hier haben sie. Wollen Sie sich uberzeugen? Nehmen Sie einen wei?en Kittel. Es ist bald Zeit fur den Abendrundgang.«
»Nein«, sage ich.»Ich erinnere mich an das letztemal.«
»Das war der Krieg, der immer noch hier tobt. Wollen Sie eine andere Abteilung sehen?«
»Nein. Ich erinnere mich auch daran.«
»Nicht an alle, Sie haben nur einige gesehen.«
»Es waren genug.«
Ich erinnere mich an die Geschopfe, die Wochen hindurch in verkrampften Haltungen erstarrt in Ecken stehen oder ruhelos gegen die Wande rennen, uber die Betten klettern und mit wei?en Augen in Zwangsjacken rocheln und schreien. Die lautlosen Gewitter des Chaos prasseln auf sie hernieder, und Wurm, Klaue, Schuppe, die schleimige, fu?lose, sich windende Vorexistenz, das Kriechen vor dem Denken, da? Aas-Dasein greifen von unten herauf nach ihren Gedarmen und Hoden und Ruckenwirbeln, um sie herabzuziehen in die graue Zersetzung des Anfangs, zuruck zu Schuppenleibern und augenlosem Wurgen – schreiend wie panikbefallene Affen retten sie sich auf die letzten kahlen Aste ihres Gehirns, schnatternd, gebannt von dem hohersteigenden Geschlinge, in der letzten grauenhaften Furcht, nicht des Gehirns, schlimmer, der der Zellen vor dem Untergang, dem Schrei uber allen Schreien, der Angst der Angste, der Todesfurcht, nicht des Individuums, sondern der Adern, der Zellen, des Blutes, der unterbewu?ten Intelligenzen, die Leber, Drusen, Kreislauf schweigend regieren und das Feuer unter dem Schadel.
»Gut«, sagt Wernicke.»Dann trinken Sie Ihren Kognak. Unterlassen Sie Ihre Aus?uge ins Unterbewu?tsein und loben Sie das Leben.«
»Warum? Weil alles so wunderbar eingerichtet ist? Weil einer den anderen fri?t und dann sich selbst?«
»Weil Sie leben, Sie harmloser Klabautermann! Fur das Problem des Mitleids sind Sie noch viel zu jung und unerfahren. Wenn Sie dazu einmal alt genug sein werden, werden Sie merken, da? es nicht existiert.«
»Ich habe eine gewisse Erfahrung.«
Wernicke winkt ab.»Machen Sie sich nicht wichtig, Sie Kriegsteilnehmer! Was Sie wissen, gehort nicht in das metaphysische Problem des Mitleids – es gehort in die allgemeine Idiotie der menschlichen Rasse. Das gro?e Mitleid beginnt anderswo – und es hort auch anderswo auf – jenseits der Klagebocke wie Sie und auch jenseits der Trosthandler wie Bodendiek -«
»Gut, Sie Ubermensch«, sage ich.»Gibt Ihnen das aber ein Recht, in den Kopfen Ihres Bezirkes nach Belieben die Holle, das Fegefeuer oder den phlegmatischen Tod aufzuruhren?«
»Recht -«, erwidert Wernicke mit abgrundtiefer Verachtung.»Wie angenehm ist doch ein ehrlicher Morder gegen einen Rechts-Anwalt wie Sie! Was wissen Sie von Recht? Noch weniger als von Mitleid, Sie scholastischer Sentimentalist!«
Er hebt sein Glas, grinst und blickt friedlich in den Abend. Das kunstliche Licht im Zimmer wird immer goldener auf den braunen und bunten Rucken der Bucher. Es erscheint nie so kostbar und so symbolisch wie hier oben, wo die Nacht auch eine Polarnacht der Gehirne ist.»Weder das eine noch das andere ist im Weltenplan vorgesehen«, sage ich.»Aber ich ?nde mich nicht damit ab, und wenn das fur Sie menschliche Unzulanglichkeit bedeutet, so will ich gerne mein Leben lang so bleiben.«
Wernicke erhebt sich, nimmt seinen Hut vom Haken, setzt ihn auf, gru?t mich, indem er ihn abnimmt, hangt ihn dann zuruck an den Haken und setzt sich wieder.»Es lebe das Gute und Schone!«sagt er.»Das eben meinte ich. Und nun hinaus mit Ihnen! Es ist Zeit fur die Abendrunde.«
»Konnen Sie Genevieve Terhoven kein Schlafmittel geben?«frage ich.
»Das kann ich; aber das heilt sie nicht.«
»Warum geben Sie ihr nicht wenigstens heute etwas Ruhe?«
»Ich gebe ihr Ruhe. Und ich werde ihr auch ein Schlafmittel geben.«Er zwinkerte mir zu.»Sie waren heute besser als ein ganzes Kollegium von Arzten. Besten Dank.«
Ich sehe ihn unentschlossen an. Zur Holle mit seinen Auftragen, denke ich. Zur Holle mit seinem Kognak! Und zur Holle mit seinen gottahnlichen Redensarten!»Ein kraftiges Schlafmittel«, sage ich.
»Das beste, was es gibt. Waren Sie jemals im Orient? China?«
»Wie sollte ich nach China kommen?«
»Ich war dort«, sagt Wernicke.»Vor dem Kriege. Zur Zeit der Uberschwemmungen und der Hungersnote.«
»Ja«, sage ich.»Ich kann mir denken, was jetzt kommt, und ich will es nicht horen. Ich habe genug daruber gelesen. Gehen Sie gleich zu Genevieve Terhoven? Als erstes?«
»Als erstes. Und ich lasse sie in Ruhe.«Wernicke lachelt.»Dafur werde ich jetzt ihre Mutter einmal etwas aus der Ruhe bringen.«
»Was willst du, Otto?«frage ich.»Ich habe heute keine Lust, uber das Versma? der Ode zu diskutieren! Geh zu Eduard!«