»Wann ist man erwachsen?«

Lisa uberlegt einen Augenblick.»Wenn man mehr an sich denkt als an die anderen«, krachzt sie dann und schmettert das Fenster zu.

Ich werfe eine zweite Garbe von Septimenakkorden, diesmal von verminderten, aus dem Fenster. Sie haben keine sichtbaren Folgen. Ich schlie?e dem Klavier den Rachen und wandere die Treppen hinunter. Bei Wilke ist noch Licht. Ich klettere zu ihm hinauf.

»Wie ist die Sache mit den Zwillingen ausgegangen?«frage ich.

»Tiptop. Die Mutter hat gesiegt. Die Zwillinge sind in ihrem Doppelsarg beerdigt worden. Allerdings auf dem Stadtfriedhof, nicht auf dem katholischen. Komisch, da? die Mutter auf dem katholischen zuerst ein Grab gekauft hat – sie hatte doch wissen mussen, da? es da nicht ging, wenn einer der Zwillinge evangelisch war. Nun hat sie das erste Grab an der Hand.«

»Das auf dem katholischen Friedhof?«

»Klar. Es ist tadellos, trocken, sandig, etwas erhoht – sie kann froh sein, da? sie es hat!«

»Warum? Fur sich und ihren Mann? Sie wird doch wegen der Zwillinge jetzt auch auf den Stadtfriedhof wollen, wenn sie stirbt.«

»Als Kapitalanlage«, sagt Wilke, ungeduldig uber meine Stumpfsinnigkeit.»Ein Grab ist heute eine erstklassige Kapitalanlage, das wei? doch jeder! Sie kann jetzt schon ein paar Millionen daran verdienen, wenn sie es verkaufen will. Sachwerte steigen ja wie verruckt!«

»Richtig. Ich hatte das einen Moment lang vergessen. Weshalb sind Sie noch hier?«

Wilke zeigt auf einen Sarg.»Fur Werner, den Bankier. Gehirnblutung. Darf kosten, was es will, echtes Silber, feinstes Holz, echte Seide, Uberstundentarif – wie ware es mit etwas Hilfe? Kurt Bach ist nicht da. Sie konnen dafur morgen fruh das Denkmal verkaufen. Keiner wei? es bis jetzt. Werner ist nach Geschaftsschlu? umgefallen.«

»Heute nicht. Ich bin todmude. Gehen Sie doch kurz vor Mitternacht in die Rote Muhle und kommen Sie nach eins zuruck, um weiterzuarbeiten – dann ist das Problem der Geisterstunde gelost.«

Wilke denkt nach.»Nicht schlecht«, erklart er.»Aber brauche ich da nicht einen Smoking?«

»Nicht einmal im Traum.«

Wilke schuttelt den Kopf.»Ausgeschlossen, trotzdem! Die eine Stunde wurde mich mehr kosten, als ich in der ganzen Nacht verdienen wurde. Aber ich konnte in eine kleine Kneipe gehen.«Er schaut mich dankbar an.»Notieren Sie die Adresse Werners«, sagt er dann.

Ich schreibe sie auf. Sonderbar, denke ich, das ist schon der zweite heute abend, der einen Rat von mir befolgt – nur fur mich selbst wei? ich keinen.»Komisch, da? Sie soviel Angst vor Gespenstern haben«, sage ich.»Dabei sind Sie doch gema?igter Freidenker.«

»Nur tagsuber. Nicht nachts. Wer ist nachts schon Freidenker?«

Ich mache ein Zeichen zu Kurt Bachs Bude hinunter. Wilke winkt ab.»Es ist leicht, Freidenker zu sein, wenn man jung ist. Aber in meinem Alter, mit einem Leistenbruch und einer verkapselten Tuberkulose -«

»Schwenken Sie um. Die Kirche liebt bu?fertige Sunder.«

Wilke hebt die Schultern.»Wo bliebe da mein Selbstrespekt?«

Ich lache.»Nachts haben Sie keinen, was?«

»Wer hat nachts schon welchen? Sie?«

»Nein. Aber vielleicht ein Nachtwachter. Oder ein Backer, der nachts Brot backt. Mussen Sie denn unbedingt Selbstrespekt haben?«

»Naturlich. Ich bin doch ein Mensch. Nur Tiere und Selbstmorder haben keinen. Es ist schon ein Elend, dieser Zwiespalt! Immerhin, ich werde heute nacht mal zur Gastwirtschaft Blume gehen. Das Bier ist da prima.«

Ich wandere zuruck uber den dunklen Hof. Vor dem Obelisken schimmert es bleich. Es ist Lisas Blumenstrau?. Sie hat ihn dort deponiert, bevor sie zur Roten Muhle gegangen ist. Ich stehe einen Augenblick unschlussig; dann nehme ich ihn auf. Der Gedanke, da? Knopf ihn schanden konnte, ist zuviel. Ich nehme ihn mit auf meine Bude und stelle ihn in eine Terrakotta-Urne, die ich aus dem Buro heraufhole. Die Blumen bemachtigen sich sofort des ganzen Zimmers. Da sitze ich nun, mit braunen und gelben und wei?en Chrysanthemen, die nach Erde und Friedhof riechen, als wurde ich begraben! Aber habe ich nicht wirklich etwas begraben?

Um Mitternacht halte ich den Geruch nicht mehr aus. Ich sehe, da? Wilke fortgeht, um die Geisterstunde in der Kneipe zu uberstehen, und nehme die Blumen und bringe sie in seine Werkstatt. Die Tur steht offen; das Licht brennt noch, damit der Gespensterfurchter keinen Schreck bekommt, wenn er zuruckkehrt. Eine Flasche Bier steht auf dem Sarg des Riesen. Ich trinke sie aus, stelle Glas und Flasche auf das Fensterbrett und offne das Fenster, damit es aussieht, als hatte ein Geist Durst gehabt. Dann streue ich die Chrysanthemen vom Fenster her zum halbfertigen Sarg des Bankiers Werner und lege an das Ende eine Handvoll wertloser Tausendmarkscheine. Soll Wilke sich irgendeinen Reim darauf machen! Wenn Werners Sarg deswegen nicht fertig wird, so ist das kein Ungluck – der Bankier hat Dutzende von kleinen Hausbesitzern mit In?ationsgeld um ihr bi?chen Besitz gebracht.

XX

»Mochtest du etwas sehen, das fast so ans Herz greift wie ein Rembrandt?«fragt Georg.»Immer los.«

Er nimmt etwas aus seinem Taschentuch und la?t es auf den Tisch fallen, da? es klingt. Es dauert eine Weile, bis ich es erkenne. Geruhrt schauen wir es an. Es ist ein goldenes Zwanzigmarkstuck. Das letztemal, da? ich eines gesehen habe, war vor dem Kriege.»Das waren Zeiten!«sage ich.»Frieden herrschte, Sicherheit regierte, Majestatsbeleidigungen wurden noch mit Festungshaft gesuhnt, der Stahlhelm war unbekannt, unsere Mutter trugen Korsetts und hohe Kragen an ihren Blusen mit eingenahten Fischbeinstabchen, Zinsen wurden gezahlt, die Mark war ebenso unantastbar wie Gott, und vierteljahrlich schnitt man geruhsam die Coupons von den Staatsanleihen ab und bekam sie in Gold ausbezahlt. La? dich kussen, du glei?endes Symbol einer versunkenen Zeit!«

Ich wiege das Geldstuck in der Hand. Es tragt das Bildnis Wilhelms des Zweiten, der jetzt in Holland Holz sagt und sich einen Spitzbart hat wachsen lassen. Auf dem Konterfei tragt er noch den stolz auf gezwirbelten Schnurrbart, der damals hie?: Es ist erreicht. Es war tatsachlich erreicht.»Woher hast du es?«frage ich.

»Von einer Witwe, die einen ganzen Kasten voll davon geerbt hat.«

»Guter Gott! Was ist es wert?«

»Vier Milliarden Papiermark. Ein kleines Haus. Oder ein Dutzend herrlicher Frauen. Eine Woche in der Roten Muhle. Acht Monate Pension fur einen Schwerkriegsverletzten -«

»Genug -«

Heinrich Kroll tritt ein, die Fahrradspangen an den gestreiften Hosen.»Dies hier mu? Ihr treues Untertanenherz entzucken«, sage ich und wirble den goldenen Vogel vor ihm durch die Luft. Er fangt ihn auf und starrt ihn mit wa?rigen Augen an.»Seine Majestat«, sagt er ergriffen.»Das waren noch Zeiten! Wir hatten noch unsere Armee!«

»Es waren anscheinend fur jeden verschiedene Zeiten«, erwiderte ich.

Heinrich blickt mich strafend an.»Sie werden doch wohl zugeben, da? es damals bessere Zeiten waren als heute!«

»Moglich!«

»Nicht moglich! Bestimmt! Wir hatten Ordnung, wir hatten eine stabile Wahrung, wir hatten keine Arbeitslosen, aber dafur eine bluhende Wirtschaft, und wir waren ein geachtetes Volk. Oder wollen Sie das auch nicht zugeben?«

»Ohne weiteres.«

»Na, also! Und was haben wir heute?«

»Unordnung, funf Millionen Arbeitslose, eine Schwindelwirtschaft, und wir sind ein besiegtes Volk«, erwidere ich.

Heinrich ist verblufft. So leicht hat er sich das nicht gedacht.»Na also«, wiederholt er.»Heute sitzen wir im

Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату