Ich wei? nicht, was sie meint. Es ist ein sonderbarer Augenblick. Alles ist auf einmal sehr still, kein Blatt regt sich, nur Isabelles Hand mit den langen Fingern schwingt uber den Rand des Korbsessels, und leise klirrt das Armband mit den grunen Steinen. Die untergehende Sonne gibt ihrem Gesicht eine Farbe von solcher Warme, da? es der Gegensatz von jedem Gedanken an Sterben ist – aber trotzdem ist mir, als breite sich wirklich eine Kuhle aus wie eine lautlose Furcht, als konnte es sein, da? Isabelle nicht mehr da ware, wenn der Wind wieder beginnt – aber dann weht er plotzlich in den Kronen, er rauscht, der Spuk ist vorbei, und Isabelle richtet sich auf und lachelt.»Es gibt viele Wege, zu sterben«, sagt sie.»Armer Rudolf! Du kennst nur einen. Glucklicher Rudolf! Komm, la? uns ins Haus gehen.«
»Ich liebe dich sehr«, sage ich.
Sie lachelt starker.»Nenne es, wie du willst. Was ist der Wind und was ist die Stille? So verschieden sind sie und doch beide dasselbe. Ich bin eine Weile auf den bunten Pferden des Karussells geritten und habe in den goldenen Gondeln mit blauem Samt gesessen, die sich nicht nur drehen, sondern auch noch auf und nieder schweben. Du liebst sie nicht, wie?«
»Nein. Ich habe fruher lieber auf den lackierten Hirschen und Lowen gesessen. Aber mit dir wurde ich auch in Gondeln fahren.«
Sie ku?t mich.»Die Musik!«sagt sie leise.»Und das Licht der Karussells im Nebel! Wo ist unsere Jugend geblieben, Rudolf?«
»Ja, wo?«sage ich und spure plotzlich Tranen hinter meinen Augen und begreife nicht, warum.»Haben wir eine gehabt?«
»Wer wei? das?«
Isabelle steht auf. Uber uns im Laub raschelt es. Im gluhenden Licht der spaten Sonne sehe ich, da? ein Vogel mir auf das Jackett geschissen hat. Ungefahr dahin, wo das Herz ist. Isabelle sieht es und biegt sich vor Lachen. Ich tupfe mit meinem Taschentuch die Losung des sarkastischen Buch?nken fort.»Du bist meine Jugend«, sage ich.»Ich wei? es jetzt. Du bist alles, was dazugehort. Das eine und das andere und noch vieles mehr. Auch das, da? man erst wei?, was es war, wenn es einem entgleitet.«
Entgleitet sie mir denn? denke ich. Was rede ich daher? Hatte ich sie denn je? Und warum sollte sie entgleiten? Weil sie es sagt? Oder weil da plotzlich diese kuhle, lautlose Angst ist? Sie hat schon so vieles gesagt, und ich habe schon so oft Angst gehabt.»Ich liebe dich, Isabelle«, sage ich.»Ich liebe dich mehr, als ich je gewu?t habe. Es ist wie ein Wind, der sich erhebt und von dem man glaubt, er sei nur ein spielerisches Wehen, und auf einmal biegt sich das Herz darunter wie eine Weide im Sturm. Ich liebe dich, Herz meines Herzens, einzige Stille in all dem Aufruhr, ich liebe dich, die du horst, ob die Blume durstet und ob die Zeit mude ist wie ein Jagdhund am Abend, ich liebe dich, und es stromt aus mir heraus wie aus einem soeben aufgeschlossenen Tor, hinter dem ein unbekannter Garten sich offnet, ich verstehe es noch nicht ganz und bin erstaunt daruber und schame mich noch etwas meiner gro?en Worte, aber sie poltern heraus und hallen und fragen mich nicht, jemand redet aus mir, den ich nicht kenne, und ich wei? nicht, ob es ein viertklassiger Melodramatiker ist oder mein Herz, das keine Angst mehr hat -«
Isabelle ist mit einem Ruck stehengeblieben. Wir sind in derselben Allee wie damals, als sie nackt durch die Nacht zuruckging; aber alles ist jetzt anders. Die Allee ist voll vom roten Licht des Abends, voll von ungelebter Jugend, von Schwermut und von einem Gluck, das zwischen Schluchzen und Jubel schwankt. Es ist auch keine Allee von Baumen mehr; es ist eine Allee aus unwirklichem Licht, in dem die Baume wie dunkle Facher sich zueinander neigen, um es zu halten, einem Licht, in dem wir stehen, als wogen wir fast nichts, durchdrungen von ihm wie Silvesterkarpfen vom Geiste des Rums, in dem sie baden und der sie durchdringt, bis sie beinahe zerfallen.
»Du liebst mich?«?ustert Isabelle.
»Ich liebe dich, und ich wei?, ich werde nie wieder einen Menschen so lieben wie dich, weil ich nie wieder so sein werde wie jetzt in diesem Augenblick, der vergeht, wahrend ich von ihm spreche, und den ich nicht halten kann, selbst wenn ich mein Leben gabe -«
Sie sieht mich mit gro?en, strahlenden Augen an.»Jetzt wei?t du es endlich!«?ustert sie.»Jetzt hast du es endlich gefuhlt – das Gluck ohne Namen und die Trauer und den Traum und das doppelte Gesicht! Es ist der Regenbogen, Rudolf, und man kann uber ihn gehen, aber wenn man zweifelt, sturzt man ab! Glaubst du es nun endlich?«
»Ja«, murmle ich und wei?, da? ich es glaube und vor einem Augenblick auch geglaubt habe und schon nicht mehr ganz glaube. Noch ist das Licht stark, aber an den Randern wird es bereits grau, dunkle Flecken schieben sich langsam hervor, und der Aussatz der Gedanken bricht darunter wieder aus, nur verdeckt, aber nicht geheilt. Das Wunder ist an mir vorubergegangen, es hat mich beruhrt, aber nicht verandert, ich habe noch denselben Namen und wei?, da? ich ihn wohl bis ans Ende meiner Tage mit mir herumschleppen werde, ich bin kein Phonix, die Neugeburt ist nicht fur mich, ich habe zu ?iegen versucht, doch nun taumele ich wie ein geblendetes schwerfalliges Huhn wieder zur Erde, zwischen die Stacheldrahte zuruck.
»Sei nicht traurig«, sagt Isabelle, die mich beobachtet hat.
»Ich kann nicht auf Regenbogen gehen, Isabelle«, sage ich.»Aber ich mochte es gerne. Wer kann es?«
Sie nahert ihr Gesicht meinem Ohr.»Niemand«, ?ustert sie.
»Niemand? Du auch nicht?«
Sie schuttelt den Kopf.»Niemand«, wiederholt sie.»Aber es ist genug, wenn man Sehnsucht hat.«
Das Licht wird jetzt schnell grau. Irgendwann war das alles schon einmal so, denke ich, doch ich kann mich nicht erinnern, wann. Ich fuhle Isabelle nahe bei mir und halte sie plotzlich in den Armen. Wir kussen uns wie Ver?uchte und Verzweifelte, wie Menschen, die fur immer auseinandergerissen werden.»Ich habe alles versaumt«, sage ich atemlos.»Ich liebe dich, Isabelle.«
»Still!«?ustert sie.»Spricht nicht -«
Der fahle Fleck am Ausgang der Allee beginnt zu gluhen. Wir gehen auf ihn zu und bleiben am Tor des Parkes stehen. Die Sonne ist verschwunden, und die Felder sind ohne Farbe; dafur aber steht ein machtiges Abendrot uber dem Walde, und die Stadt wirkt, als brenne es in den Stra?en.
Wir stehen eine Weile still.»Welch ein Hochmut«, sagt Isabelle dann plotzlich.»Zu glauben, da? ein Leben einen Anfang und ein Ende hat!«
Ich verstehe sie nicht gleich. Hinter uns bereitet sich der Garten bereits fur die Nacht; aber vor uns, auf der anderen Seite des eisernen Gitters, ?ammt und brodelt es in einer wilden Alchimie. Ein Anfang und ein Ende? denke ich, und dann begreife ich, was sie meint; da? es Hochmut sei, ein kleines Dasein aus diesem Brodeln und Zischen herausschneiden und abgrenzen zu wollen und unser bi?chen Bewu?tsein zum Richter zu machen uber seine Dauer, wahrend es doch hochstens eine Flocke ist, die kurze Zeit darin schwimmt. Anfang und Ende, erfundene Worte eines erfundenen Begriffes Zeit und der Eitelkeit eines Amoben-Bewu?tseins, das nicht untergehen will in einem gro?eren.
»Isabelle«, sage ich.»Du su?es und geliebtes Leben, ich glaube, ich habe endlich gefuhlt, was Liebe ist! Es ist Leben, nichts als Leben, der hochste Griff der Welle nach dem Abendhimmel, nach den verblassenden Sternen und nach sich selbst – der Griff, der immer wieder vergeblich ist, der des Sterblichen nach dem Unsterblichen – aber manchmal kommt der Himmel der Welle entgegen, und sie begegnen sich fur einen Augenblick, und dann ist es nicht mehr Piraterie des einen und Versagen des andern, nicht mehr Mangel und Uber?u? und Verfalschung durch Poeten, es ist -«
Ich breche ab.»Ich wei? nicht, was ich rede«, sage ich dann.»Es stromt und stromt, und vielleicht ist Luge dabei, aber dann ist es Luge, weil Worte lugnerisch sind und wie Tassen, mit denen man Springbrunnen auffangen will – aber du wirst mich auch ohne Worte verstehen, es ist noch so neu fur mich, da? ich es nicht ausdrucken kann; ich wu?te nicht, da? auch mein Atem lieben kann und meine Nagel lieben konnen und sogar mein Tod lieben kann, und zum Teufel damit, wie lange es dauert und ob ich es halten kann oder nicht und ob ich es ausdrucken kann oder nicht -«
»Ich verstehe es«, sagt Isabelle.
»Du verstehst es?«
Sie nickt.»Ich hatte schon Sorge um dich, Rudolf.«
Warum sollte sie Sorge um mich haben, denke ich. Ich bin doch nicht krank.»Sorge?«sage ich.»Warum Sorge um mich?«
»Sorge«, wiederholt sie.»Aber jetzt habe ich keine mehr. Leb wohl, Rudolf.«
Ich sehe sie an und halte ihre Hande fest.»Warum willst du weg? Habe ich etwas Falsches gesagt?«