liegenden Augen schien etwas zu sehen, was keiner sonst sah.
»Wir werden es den beiden hier sagen«, erklarte Berger. »Sie konnen dann die anderen warnen.
Mehr konnen wir nicht tun. Wir wissen ja nicht, was noch wird.«
Karel kam von der Baracke heruber. »Einer ist tot.« 509 stand auf. »La?t uns ihn 'rausbringen.«
Er wandte sich zu Ahasver. »Komm mit, Alter. Du bleibst dann gleich drin zum Schlafen.«
XII
Die Blocks standen angetreten auf dem Appellplatz des Kleinen Lagers. Scharfuhrer Niemann wiegte sich behaglich in den Knien. Er war ein Mann von ungefahr drei?ig Jahren, mit einem schmalen Gesicht, abstehenden, kleinen Uhren und einem fliehenden Kinn. Sein Haar war sandfarben, und er trug eine Brille ohne Rander. Ohne Uniform hatte man ihn fur einen typischen kleinen Buroangestellten halten konnen.
Das war er auch gewesen, bevor er in die SS eingetreten und ein Mann geworden war.
»Achtung!« Niemann hatte eine hohe, etwas gequetschte Stimme. »Neuer Transport heraustreten, marsch, marsch!«
»Vorsicht!« murmelte 509 zu Sulzbacher.
Die Doppelreihe formte sich vor Niemann. »Kranke und Invalide rechts heraus!« kommandierte er.
Die Reihe bewegte sich; aber niemand trat zur Seite. Die Leute waren mi?trauisch; sie hatten ahnliches schon fruher mitgemacht.
»Los! Los! Wer sich zum Arzt und zum Verbinden melden will, rechts heraus!«
Zogernd traten einige Haftlinge zur Seite. Niemann ging zu ihnen hinuber. »Was hast du?« fragte er den ersten.
»Wunde Fu?e und eine gebrochene Zehe, Herr Scharfuhrer.«
»Und du?«
»Doppelten Leistenbruch, Herr Scharfuhrer.«
Niemann fragte weiter. Dann schickte er zwei Mann zuruck. Das war ein Trick, um die Haftlinge zu tauschen und sicher zu machen. Es wirkte. Sofort meldete sich eine Anzahl Neuer. Niemann nickte fluchtig. »Herzkranke vortreten! Leute, die zu schwerer Arbeit untauglich sind, aber noch Strumpfe stopfen und Schuhe reparieren konnen.«
Wieder meldeten sich einige. Niemann hatte jetzt ungefahr drei?ig Mann beisammen und sah, da? er nicht mehr bekommen wurde. »Ihr anderen scheint ja tadellos in Schu? zu sein!« bellte er argerlich. »Wir wollen das mal feststellen! Rechts um! Laufschritt – marsch, marsch!«
Die Doppelreihe lief um den Appellplatz. Sie lief keuchend an den ubrigen Insassen vorbei, die in strammer Haltung dastanden und wu?ten, da? auch sie in Gefahr waren. Wenn einer von ihnen umfiel, war es moglich, da? Niemann ihn ohne weiteres als Zugabe mitnahm. Niemand wu?te au?erdem, ob er die Alten nicht noch besonders vornehmen wurde.
Die Laufenden kamen zum sechsten Male vorbei. Sie stolperten bereits; aber sie hatten begriffen, da? man sie nicht rennen lie?, um herauszufinden, ob sie zu schwerer Arbeit untauglich seien. Sie liefen um ihr Leben. Ihre Gesichter trieften von Schwei?, und in ihren Augen war die verzweifelte, wissende Todesangst, die kein Tier haben kann; nur der Mensch.
Auch die, die sich gemeldet hatten, wu?ten jetzt, was vorging. Sie wurden unruhig.
Zwei versuchten sich der Reihe der Laufenden anzuschlie?en. Niemann sah es.
»Zuruck! Marsch, da hinuber!«
Sie horten nicht auf ihn. Taub vor Angst, rannten sie los. Sie trugen Holzschuhe, die sie sofort verloren. Mit blo?en, blutenden Fu?en liefen sie weiter; sie hatten keine Strumpfe am Abend vorher erhalten. Niemann lie? sie nicht aus den Augen. Eine Zeitlang liefen sie mit. Als sich dann in ihren entstellten Gesichtern langsam eine gierige Hoffnung zeigte, entkommen zu sein, ging Niemann ruhig ein paar Schritte vorwarts, und als sie dicht an ihm vorbeistolperten, stellte er ihnen ein Bein.
Sie sturzten und wollten sich erheben. Er warf sie mit zwei Tritten wieder um. Sie versuchten zu kriechen. »Aufstehen!« schrie er mit seinem Quetschtenor. »Marsch, da hinuber!«
Er hatte wahrend dieser Zeit den Rucken zu Baracke 22 gehabt. Das Todeskarussell war im Laufschritt weitergegangen. Vier weitere Leute waren gefallen. Sie lagen am Boden. Zwei waren bewu?tlos. Einer trug eine Husarenuniform, die er am Abend vorher erhalten hatte; der andere ein Damenhemd mit billiger Spitze unter einer Art abgeschnittenem Kaftan. Der Kammerkapo hatte die Sachen aus Auschwitz mit Humor unter die Haftlinge verteilt. Es gab noch ein paar Dutzend mehr, die wie zu einem Karneval gekleidet waren.
509 hatte Rosen halbgebuckt weiterstolpern und zuruckbleiben sehen. Er wu?te, da? er in wenigen Sekunden vollig erschopft sein und sturzen wurde. Es geht mich nichts an, dachte er, nichts. Ich will keine Dummheiten machen. Jeder mu? allein fur sich sorgen. Die Reihe kam wieder nahe an der Baracke vorbei. 509 sah, da? Rosen jetzt der letzte war. Rasch blickte er auf Niemann, der der Baracke immer noch den Rucken zugedreht hatte, und dann rundum. Keiner von den Barackenaltesten achtete auf ihn. Alle blickten zu den beiden hinuber, denen Niemann das Bein gestellt hatte. Handke war sogar mit gerecktem Kopf einen Schritt vorgetreten. 509 ergriff den vorubertaumelnden Rosen am Arm, zog ihn heran und hinter sich durch die Reihe. »Schnell! Durch! In die Baracke! Versteck dich!« Er horte Rosen hinter sich keuchen und sah aus den Augenwinkeln etwas wie eine Bewegung, und dann horte er das Keuchen nicht mehr. Niemann hatte nichts gesehen. Er hatte sich immer noch nicht umgedreht. Auch Handke hatte nichts bemerkt. 509 wu?te, da? die Tur der Baracke offenstand. Er hoffte, da? Rosen ihn verstanden hatte. Und er hoffte, da? er, wenn er trotzdem erwischt wurde, ihn nicht verraten wurde. Er mu?te wissen, da? er ohnehin verloren gewesen ware. Die Neuen waren von Niemann nicht abgezahlt worden, und er hatte jetzt eine Chance. 509 fuhlte, da? seine Knie zitterten und seine Kehle trocken wurde. Das Blut brauste ihm plotzlich in den Ohren. Vorsichtig blickte er zu Berger hinuber. Berger beobachtete unbewegt den normenden Haufen, in dem mehr und mehr Leute sturzten. Sein angestrengtes Gesicht zeigte, da? er alles gesehen hatte. Dann horte 509 hinter sich Lebenthal flustern:»Er ist drin.« Das Zittern seiner Knie wurde starker. Er mu?te sich gegen Bucher lehnen. Die Holzschuhe, die ein Teil der Neuen empfangen hatte, lagen uberall um« Kor. Die Leute waren nicht gewohnt, sie zu tragen, und hatten sie verloren. Nur zwei Leute klapperten noch verzweifelt in ihnen weiter. Niemann putzte seine Brille. Sie war angelaufen. Es kam von der Warme, die er spurte, wenn er die Todesangst sah, wahrend die Haftlinge sturzten, sich wieder aufrafften, sturzten, sich aufrafften und weitertaumelten. Es war eine Warme im Magen und hinter den Augen. Er hatte sie zum ersten Male gespurt, als er seinen ersten luden getotet hatte. Er hatte es eigentlich gar nicht gewollt; aber dann war es uber ihn gekommen. Er war immer ein gedruckter, verschubster Mensch gewesen, und er hatte sich anfangs fast gefurchtet, auf den Juden einzuschlagen. Als er ihn dann aber vor sich am Boden rutschen und um sein Leben betteln sah, hatte er plotzlich gespurt, wie er ein anderer wurde, kraftvoller, machtiger, er hatte sein Blut gefuhlt, der Horizont war weiter geworden, die demolierte, burgerliche Vierzimmerwohnung des kleinen judischen Konfektionars mit ihren grunen Ripsmobeln hatte sich in die asiatische Wuste Dschingis Khans verwandelt, der Handlungsgehilfe Niemann war auf einmal Herr uber Leben und Tod gewesen, Macht war dagewesen, Allmacht, ein scharfer Rausch, der sich ausbreitete und hoher stieg, bis dann der erste Schlag ganz von selbst kam auf den weich nachgebenden Schadel mit dem sparlichen, gefarbten Haar. -»Abteilung halt!« Die Haftlinge glaubten es fast nicht. Sie hatten erwartet, bis zum Tode weiterrennen zu mussen. Baracken, Platz und Menschen wirbelten in einer Sonnenfinsternis vor ihnen. Sie hielten sich aneinander. Niemann setzte seine geputzte Drille wieder auf. Er hatte es plotzlich eilig. »Bringt die Leichen hier heruber.« Sie starrten ihn an. Es waren bis jetzt noch keine Leichen da. »Die Umgefallenen«, verbesserte er sich. »Die, die liegengeblieben sind.« Sie wankten hin und packten die Liegenden an Armen und Beinen. An einer Stelle lag ein ganzes Knauel von Menschen. Sie waren dort ubereinandergesturzt. 509 sah Sulzbacher im Durcheinander. Er stand und trat, gedeckt durch andere vor ihm, einem Mann, der auf dem Boden lag, gegen die Schienbeine und zerrte ihn an den Haaren und an den Ohren. Dann buckte er sich und ri? ihn auf die Knie. Der Mann fiel bewu?tlos zuruck. Sulzbacher stie? ihn wieder, schob ihm die Hande unter die Arme und versuchte, ihn aufzurichten. Es gelang ihm nicht. Er schlug jetzt wie verzweifelt mit den Fausten auf den Bewu?tlosen ein, bis ein Blockaltester ihn wegschob. Sulzbacher drangte wieder hinuber. Der Blockalteste gab ihm einen Tritt. Er glaubte, Sulzbacher habe eine Wut auf den Bewu?tlosen und wolle sie