Sie begannen zu murmeln. 509 und die anderen gingen hinaus. Drau?en stand der spate Abend sehr still uber den Waldern am Horizont. 509 setzte sich gegen die Barackenwand. Sie hatte noch etwas Warme von der Sonne behalten. Bucher kam und setzte sich neben ihn. »Sonderbar«, sagte er nach einer Weile.

Manchmal sterben hundert, und man fuhlt nichts, und dann stirbt ein einzelner, einer, der einen nicht mal viel angeht – und es ist, als waren es tausend.« 509 nickte. »Unsere Einbildungskraft kann nicht zahlen. Und Gefuhl wird durch Ziffern nicht starker. Es kann immer nur bis eins zahlen. Eins – aber das ist genug, wenn man es wirklich spurt.«

Hellwig kam aus der Baracke. Er trat gebuckt durch die Tur, und einen Augenblick war es, als truge er die stinkende Dunkelheit wie ein Schafer ein schwarzes Schaf auf seinen Schultern, um sie fortzunehmen und in dem reinen Abend zu waschen. Dann richtete er sich auf und war wieder ein Gefangener.

»War es ein Sakrileg?« fragte 509.

»Nein. Ich habe keine priesterliche Handlung ausgefuhrt. Ich habe ihm nur bei der Reue assistiert.«

»Ich wollte, wir hatten etwas fur dich. Eine Zigarette oder ein Stuck Brot.« 509 gab Hellwig den E?napf zuruck. »Aber wir haben selbst nichts. Alles, was wir dir anbieten konnen, ist Ammers'

Suppe, wenn er vor dem Abendessen stirbt. Wir empfangen sie dann noch mit.«

»Ich brauche nichts. Ich will auch nichts. Es ware eine Schweinerei, dafur etwas zu nehmen.« 509 sah jetzt erst, da? Hellwig Tranen in den Augen hatte. Er blickte ihn ma?los erstaunt an. »Ist er ruhig?« fragte er dann.

»Ja. Er hat heute mittag ein Stuck Brot gestohlen, das Ihnen gehorte. Er wollte, da? ich es Ihnen sage.«

»Ich habe das schon gewu?t.«

»Er mochte, da? Sie kommen. Er will Sie alle um Verzeihung bitten.«

»Um Himmels willen! Wozu denn das?«

»Er will es. Besonders einen, der Lebenthal hei?t.«

»Horst du, Leo?« sagte 509.

»Er will rasch noch sein Geschaft mit Gott machen, deshalb«, erklarte Lebenthal unversohnlich.

»Ich glaube nicht.« Hellwig nahm seinen E?napf unter den Arm. »Komisch, ich wollte wirklich einmal Priester werden«, sagte er. »Ri? dann aus. Verstehe es jetzt nicht mehr. Wollte, ich hatte es nicht getan.« Er lie? seine merkwurdigen Augen uber die Sitzenden flattern. »Man leidet weniger, wenn man an etwas glaubt.«

»Ja. Aber es gibt vieles, an das man glauben kann. Nicht nur Gott.«

»Gewi?«, erwiderte Hellwig plotzlich so verbindlich, als stande er in einem Salon und diskutierte.

Er hielt den Kopf leicht schief, als lausche er auf etwas. »Es war eine Art von Notbeichte«, sagte er dann. »Nottaufen hat es immer gegeben. Notbeichten -«

Sein Gesicht zuckte. »Eine Frage fur die Theologen – guten Abend, meine Herren -«

Er stakte wie eine Riesenspinne seiner Sektion zu. Die anderen sahen ihm verblufft nach. Es war besonders der Abschiedsgru? gewesen; sie hatten ahnliches nicht mehr gehort, seit sie im Lager waren. »Geh zu Ammers, Leo«, sagte Berger nach einer Weile.

Lebenthal zogerte. »Geh!« wiederholte Berger. »Sonst schreit er wieder. Wir anderen werden Sulzbacher jetzt losbinden.«

Die Dammerung war zu einer hellen Dunkelheit geworden. Eine Glocke lautete von der Stadt her.

In den Furchen der Acker lagen tiefe blaue und violette Schatten.

Sie sa?en in einer kleinen Gruppe vor der Baracke. Ammers starb drinnen immer noch. Sulzbacher hatte sich erholt. Er sa? beschamt neben Rosen.

Lebenthal richtete sich plotzlich auf. »Was ist das da?«

Er starrte durch den Stacheldraht auf die Acker. Etwas huschte dort hin und her, hielt an und huschte weiter.

»Ein Hase!« sagte Karel, der Knabe aus der Tschechoslowakei.

»Unsinn! Woher kennst du denn einen Hasen?«

»Bei uns gab es welche zu Hause. Ich habe genug gesehen, als ich jung war. Ich meine damals, als ich frei war«, sagte Karel. Seine Jugend lag fur ihn vor dem Lager. Vor der Zeit, als man seine Eltern vergast hatte.

»Es ist tatsachlich ein Hase.« Bucher kniff die Augen zusammen. »Oder ein Kaninchen. Nein, dafur ist es zu gro?.«

»Gerechter Gott!« sagte Lebenthal. »Ein lebendiger Hase.«

Sie sahen ihn jetzt alle. Er setzte sich einen Moment aufrecht, und die langen Ohren standen empor.

Dann hoppelte er weiter.

»Wenn der hier hereinkame!« Lebenthals Gebi? klapperte. Er dachte an den falschen Hasen Bethkes, den Dachshund, fur den er den Goldzahn Lohmanns hergegeben hatte.

»Man konnte ihn tauschen. Wir wurden ihn nicht selbst essen. Wir wurden ihn tauschen gegen zweimal, nein zweieinhalbmal soviel Abfallfleisch.«

»Wir wurden ihn nicht tauschen. Wir wurden ihn selbst essen«, sagte Meyerhof.

»So? Und wer brat ihn? Willst du ihn vielleicht roh essen? Wenn du ihn jemand zum Braten gibst, kriegst du ihn nicht wieder«, erklarte Lebenthal hitzig. »Komisch, was manche Leute so wissen, die seit Wochen nicht aus der Baracke herausgekommen sind.«

Meyerhof war eines der Wunder von Baracke 22. Er hatte drei Wochen auf den Tod mit Lungenentzundung und Dysenterie herumgelegen. Er war so schwach gewesen, da? er nicht mehr sprechen konnte. Berger hatte ihn aufgegeben. Dann hatte er sich plotzlich in wenigen Tagen erholt.

Er war von den Toten auferstanden. Ahasver hatte ihn deshalb Lazarus Meyerhof genannt. Er war heute zum ersten Male wieder drau?en.

Berger hatte es verboten; aber er war trotzdem hinausgekrochen. Er trug den Mantel Lebenthals, den Sweater des toten Buchsbaum und eine Husarenattila, die jemand als Jacke empfangen hatte.

Das durchschossene Chorhemd, das Rosen als Unterwasche erhalten hatte, war als Schal um seinen Hals gewickelt. Alle Veteranen hatten dazu beigetragen, ihn fur seinen ersten Ausflug auszustatten. Sie betrachteten seine Gesundung als einen gemeinsamen Triumph.

»Wenn er hier hereinkame, wurde er den elektrischen Draht beruhren. Dann ware er gleich gebraten«, sagte Meyerhof hoffnungsvoll. »Man konnte ihn mit einem trockenen Holzstock heranziehen.«

Sie beobachteten das Tier gespannt. Es hoppelte durch die Furchen und lauschte ab und zu. »Die SS wird ihn fur sich schie?en«, erklarte Berger.

»Das ist nicht so einfach mit einer Kugel, wenn es so dunkel ist«, erwiderte 509. »Die SS ist mehr gewohnt, Menschen von hinten in ein paar Meter Abstand zu treffen.«

»Ein Hase.« Ahasver bewegte die Lippen. »Wie der wohl schmeckt?«

»Er schmeckt wie ein Hase«, erlauterte Lebenthal. »Am besten ist der Rucken, er wird gespickt.

Speckstucke werden hineingezogen, damit er saftiger wird. Man macht dazu eine Sahneso?e. So essen ihn die Gojim.«

»Und Kartoffelbrei«, sagte Meyerhof.

»Unsinn, Kartoffelbrei. Kastanienpuree und Preiselbeeren.«

»Kartoffelbrei ist besser. Kastanien! Das ist fur Italiener.«

Lebenthal starrte Meyerhof argerlich an. »Hor zu -«.

Ahasver unterbrach ihn. »Was soll uns ein Hase? Mir ware eine Gans lieber als alle Hasen. Eine gute, gefullte Gans -«

»Mit Apfeln -«

»Haltet die Schnauzen!« schrie jemand von hinten. »Seid ihr des Teufels? Man wird ja wahnsinnig!«

Sie hockten vorgebeugt und verfolgten mit den tief liegenden Augen ihrer Totenschadel den Hasen.

Keine hundert Meter von ihnen entfernt sprang da eine Traummahlzeit herum, ein pelziges Bundel, das mehrere Pfund Fleisch enthielt und das einigen von ihnen die Rettung ihres Lebens hatte sein konnen. Meyerhof fuhlte es in allen Knochen und Darmen; fur ihn ware das Tier die Sicherheit gewesen, da? er nicht einen Ruckfall bekame. »Schon, meinetwegen auch mit Kastanien«, krachzte er.

Sein Mund war plotzlich trocken und staubig wie ein Kohlenkeller.

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