Kapo und verhielt sich still. Die SS-Leute in der Nahe lachten. Die Frau in der roten Bluse kam herangelaufen. Sie pfiff dem Hund. »Hierher! Sofort hierher! O dieser Hund! Bringt einen noch ins Ungluck!« Sie zerrte ihn hinweg, in den Torbogen hinein. »Er ist 'rausgelaufen«, sagte sie angstlich zu dem nachsten SS-Mann. »Bitte! Ich habe es nicht gesehen! Er ist weggelaufen! Er wird Prugel dafur kriegen!« Der SS-Mann grinste. »Dem da hatte er ruhig ein Stuck von seiner damlichen Fresse wegbei?en konnen.« Die Frau lachelte schwach. Sie hatte geglaubt, der Kapo gehore zur SS. »Danke! Danke vielmals! Ich werde ihn gleich anbinden!« Sie zog den Hund am Halsband fort, aber streichelte ihn plotzlich. Der Kapo klopfte sich den Kalkstaub ab. Die SS-Wachen grinsten immer noch. »Warum hast du ihn nicht gebissen?« rief einer dem Kapo zu.
Der Kapo antwortete nicht. Das war immer besser. Er klopfte noch eine Zeitlang an sich herum. Dann stapfte er argerlich zu den Haftlingen hinuber. 7105 bemuhte sich gerade, ein Klosett aus dem Haufen von Steinen und Mortel hervorzuziehen. »Los, fauler Hund!« zischte der Kapo und gab ihm einen Tritt in die Kniekehle. 7105 fiel nieder und hielt sich mit den Armen am Klosettdeckel fest. Alle Haftlinge beobachteten den Kapo aus den Augenwinkeln. Der SS-Mann, der mit der Frau gesprochen hatte, schlenderte jetzt heran. Er ging auf den Kapo zu und stie? ihn von hinten mit dem Stiefel an. »La? den da in Ruhe! Der ist nicht schuld. Bei? lieber den Hund, du Nachteule!« Der Kapo drehte sich uberrascht um. Die Wut schwand aus seinem Gesicht und wich einer dienstfertigen Grimasse. »Jawohl! Ich wollte nur -« »Los!« Er bekam einen zweiten Sto? in den Bauch, stand halbwegs stramm und trollte sich. Der SS-Mann schlenderte zuruck. »Hast du das gesehen?« flusterte Lewinsky Werner zu. »Zeichen und Wunder. Vielleicht hat er es wegen der Zivilisten gemacht.« Die Haftlinge beobachteten verstohlen weiter die andere Seite der Stra?e, und die andere Seite der Stra?e beobachtete sie. Sie waren nur wenige Meter voneinander getrennt; aber es war weiter, als wenn sie auf zwei verschiedenen Erdteilen gelebt hatten. Die meisten der Gefangenen sahen zum ersten Male, seit sie eingesperrt waren, die Stadt so nahe. Sie sahen wieder Menschen ihren taglichen Gewohnheiten nachgehen. Sie sahen es wie Dinge auf dem Mars. Ein Dienstmadchen in einem blauen Kleid mit wei?en Punkten putzte in einer Wohnung die heilgebliebenen Fenster. Es hatte die Armel aufgekrempelt und sang. Hinter einem anderen Fenster stand eine alte, wei?haarige Frau. Die Sonne fiel auf ihr Gesicht und auf die offenen Vorhange und die Bilder des Zimmers. An der Ecke der Stra?e befand sich eine Apotheke. Der Apotheker stand vor der Tur und gahnte. Eine Frau in einem Pelzmantel aus Leopardenfell ging sehr nahe an den Hausern entlang uber die Stra?e. Sie trug grune Handschuhe und Schuhe. Die SS an der Ecke hatte sie durchgelassen. Sie war jung und trippelte geschmeidig uber die Schutthaufen. Viele Gefangene hatten seit Jahren keine Frau mehr gesehen. Alle bemerkten sie; aber niemand sah ihr nach, au?er Lewinsky. »Pa? auf!« flusterte Werner ihm zu. »Hilf hier.« Er zeigte auf ein Stuck Stoff, das unter dem Mortel hervorkam. »Da liegt jemand.« Sie scharrten den Mortel und die Steine beiseite. Ein vollig zerschmettertes Gesicht mit blutigem, kalkverschmiertem Vollbart kam darunter hervor. Eine Hand war dicht daneben; der Mann hatte sie wahrscheinlich zum Schutz erhoben, als das Gebaude einsturzte. Die SS-Leute auf der anderen Seite der Stra?e riefen der zierlich kletternden Person in dem Leopardenmantel aufmunternde Witze zu. Sie lachte und kokettierte. Plotzlich begannen die Sirenen zu heulen. Der Apotheker an der Ecke verschwand in seinem Laden. Die Frau im Leopardenfell erstarrte und rannte dann zuruck. Sie fiel uber die Schutthaufen; ihre Strumpfe zerrissen, und ihre grunen Handschuhe wurden wei? vom Kalkstaub. Die Haftlinge hatten sich aufgerichtet. »Stehenbleiben! Wer sich ruhrt, wird erschossen!« Die SS von den Stra?enecken ruckte heran. »Aufschlie?en! Gruppen formieren, marsch, marsch!« Die Haftlinge wu?ten nicht, welchem Kommando sein gehorchen sollten. Ein paar Schusse fielen bereits. Die SS-Wachen von den Stra?enecken trieben sie schlie?lich zu einem Haufen zusammen. Die Scharfuhrer berieten, was sie tun sollten. Es war erst die Vorwarnung; aber alle blickten unruhig jeden Augenblick nach oben. Der strahlende Himmel schien heller und dusterer zugleich geworden zu sein. Die andere Stra?enseite wurde jetzt lebendig. Leute, die vorher nicht zu sehen gewesen waren, kamen aus den Hausern. Kinder schrieen. Der Kolonialwarenhandler mit dem Schnurrbart scho? mit giftigen Blicken aus seinem Laden und kroch wie eine fette Made uber die Trummer. Eine Frau in einem karierten Umhangetuch trug sehr vorsichtig einen Bauer mit einem Papagei weit ausgestreckt vor sich her. Die wei?haarige Frau war verschwunden. Das Dienstmadchen rannte mit hochgehobenen Rocken aus der Tur. Lewinskys Augen folgten ihr. Zwischen ihren schwarzen Strumpfen und der prallen blauen Hose schimmerte das wei?e Fleisch ihrer Beine. Hinter ihr kletterte eine dunne, alte Jungfer wie eine Ziege uber die Steine. Es war plotzlich alles umgekehrt; die friedliche Ruhe auf der Seite der Freiheit war jah zerstort; angstvoll sturzten dort die Menschen aus ihren Wohnungen und liefen um ihr Leben zu den Luftschutzkellern. Die Haftlinge auf der gegenuberliegenden Seite dagegen standen jetzt schweigend und ruhig vor den zerstorten Mauern und sahen die Fliehenden an. Einem der Scharfuhrer schien das aufzufallen. »Ganze Abteilung kehrt!« kommandierte er. Die Straflinge starrten jetzt auf die Ruinen. Die Trummer waren grell von der Sonne bestrahlt. Nur in einem der gebombten Hauser war ein Durchgang zu einem Keller freigeschaufelt worden. Dort sah man Stufen, ein Eingangstor, einen dunklen Korridor und in dem Dunkel einen Streifen Licht von einem nach hinten fuhrenden Ausgang. Die Scharfuhrer waren unschlussig. Sie wu?ten nicht, wohin mit den Straflingen. Keiner dachte daran, sie in einen Luftschutzkeller zu fuhren; die Keller waren ohnehin voll von Zivilisten. Aber die SS hatte auch kein Interesse daran, selbst ungeschutzt zu bleiben. Einige von ihnen durchsuchten rasch die nachsten Hauser. Sie fanden einen betonierten Keller. Der Ton der Sirenen wechselte. Die SS lief auf den Keller los. Sie lie? nur zwei Posten im Hauseingang und je zwei an den Stra?eneingangen zuruck. »Kapos, Vormanner, aufpassen, da? keiner sich muckst! Wer sich bewegt, wird erschossen!« Die Gesichter der Haftlinge spannten sich. Sie blickten auf die Mauern vor sich und warteten. Es war ihnen nicht befohlen worden, sich hinzulegen; die SS konnte sie stehend besser uberwachen. Stumm standen sie, zu einem Haufen gedrangt, umkreist von den Kapos und Vormannern. Zwischen ihnen lief der Vorstehhund umher. Er hatte sich losgerissen und suchte 7105. Als er ihn fand, sprang er an ihm hoch und versuchte, sein Gesicht zu lecken. Fur einen Augenblick verstummte der Larm. In die unerwartete Stille, die wie ein luftleerer Raum war und an allen Nerven ri?, klangen plotzlich die Tone eines Klaviers. Sie klangen laut und klar und waren nur kurze Zeit deutlich horbar; Werner erkannte trotzdem, in der ungeheuren Bereitschaft des Lauschens, da? es der Chor der Gefangenen aus Fidelio war, der gespielt wurde. Es konnte kein Radio sein; das spielte keine Musik bei Fliegeralarm. Es mu?te ein Grammophon sein, das vergessen wurde, abzustellen, oder aber es war jemand, der bei offenem Fenster Klavier spielte. Der Larm setzte wieder ein. Werner klammerte sich mit aller Konzentration an die wenigen Tone, die er gehort hatte. Er pre?te die Kiefern zusammen und versuchte, sie im Gedachtnis weiterzufuhren. Er wollte nicht an Bomben und Tod denken. Wenn es ihm gelang, die Melodie zu finden, wurde er gerettet werden. Er schlo? die Augen und fuhlte die harten Knoten der Anstrengung hinter der Stirn. Er durfte nicht jetzt noch sterben. Nicht auf diese sinnlose Weise. Er wollte nicht einmal daran denken. Er mu?te die Melodie finden; die Melodie dieser Gefangenen, die befreit wurden. Er ballte die Fauste und versuchte, die Tone des Klaviers weiter zu horen; aber sie waren ertrunken im metallischen Toben der Angst. Die ersten Explosionen erschutterten die Stadt. Das Gellen der sturzenden Bomben schnitt durch das Sirenengeheul. Der Boden zitterte. Von einer Mauer fiel langsam ein Stuck Gesims. Einige der Gefangenen hatten sich in den Schutt geworfen. Vorarbeiter rannten heran. »Aufstehen! Aufstehen!« Man horte ihre Stimmen nicht. Sie zerrten an den Leuten. Goldstein sah, wie einem Gefangenen, der sich hingeworfen hatte, der Schadel brach und Blut heraussprudelte.
Der Mann, der neben ihm stand, griff nach seinem Bauch und fiel vornuber. Es waren keine Bombensplitter; es war die SS, die scho?. Die Schusse waren nicht zu horen gewesen. »Der Keller!« rief Goldstein durch den Larm Werner zu. »Dort der Keller! Sie werden uns nicht verfolgen!« Sie starrten auf den Eingang. Er schien gro?er zu werden. Die Dunkelheit darin war kuhle Rettung. Sie war ein schwarzer Strudel, dem zu widerstehen. fast unmoglich schien. Die Haftlinge starrten wie hypnotisiert hin. Ihre Reihen wankten. Werner hielt Goldstein fest. »Nein!« Er starrte selbst auf den Keller und schrie durch den Larm. »Nein! Nicht! Alle wurden erschossen werden! Nein! Stehenbleiben!« Goldsteins graues Gesicht drehte sich ihm zu. Die Augen lagen wie flache, glanzende Schieferstucke darin. Der Mund war vor Anstrengung verzerrt. »Nicht verbergen«, stie? er hervor. »Fliehen! Hindurch! Da ist ein Ausgang nach hinten!« Es traf Werner wie ein Schlag in den Magen. Er zitterte plotzlich. Nicht seine Hande oder seine Knie zitterten; tief in ihm zitterten die Adern. Das Blut bebte. Er wu?te, da? die Flucht nur sehr schwer gelingen konnte; aber der Gedanke allein war Versuchung genug: wegzulaufen, in irgendeinem Hause Kleider zu stehlen und im Durcheinander zu entkommen. »Nein!« Er glaubte zu flustern, aber er schrie es durch das Getose. »Nein!« Es war nicht nur fur Goldstein, es war fur ihn selbst. »Jetzt nicht mehr! Nein, jetzt nicht mehr!« Er wu?te, da? es Wahnsinn war; alles, was bis jetzt erreicht worden war, wurde dadurch gefahrdet werden. Kameraden wurden getotet werden, zehn fur jeden, der zu entkommen versuchte, ein Blutbad in der gedrangten Menge hier, neue Ma?nahmen im Lager – und trotzdem, da gahnte und lockte -»Nein!« rief Werner und hielt Goldstein fest, und sich selbst dadurch, da? er Goldstein hielt. Die Sonne! dachte Lewinsky. Diese verdammte Sonne! Sie gab alles unbarmherzig preis. Warum scho? man nicht die Sonne aus? Es war, als stande