Der Hase richtete sich auf und schnupperte. In diesem Augenblick mu?te eine der dosenden SS- Wachen ihn gesehen haben. »Edgar! Mensch! Ein Langohr!« schrie er.

»Drauf!«

Ein paar Schusse knatterten. Erde spritzte auf. Der Hase sprang in langen Satzen davon. »Siehst du«, sagte 509. »Sie konnen besser Haftlinge aus nachster Nahe treffen.«

Lebenthal seufzte und blickte dem Hasen nach.

»Glaubt ihr, da? wir heute abend Brot kriegen?« fragte Meyerhof nach einiger Zeit.

»Ist er tot?«

»Ja. Endlich. Er wollte noch, da? wir den Neuen aus seinem Bett nehmen sollten. Den mit dem Fieber. Er glaubte, der wurde ihn anstecken. Dabei hat er den Neuen angesteckt. Er jammerte und schimpfte zuletzt auch wieder. Der Priester hat nicht ganz vorgehalten.« 509 nickte. »Es ist schwer, jetzt noch zu sterben. Fruher war es leichter. Jetzt ist es schwer. So kurz vor dem Ende.«

Berger setzte sich zu 509. Es war nach dem Abendessen. Das Kleine Lager hatte nur eine dunne Suppe bekommen; fur jeden einen Becher voll. Kein Brot. »Was wollte Handke von dir?« fragte er.

509 offnete die Hande. »Er hat mir dieses hier gegeben. Einen sauberen Bogen Briefpapier und einen Fullfederhalter. Er will, da? ich ihm mein Geld in der Schweiz uberschreibe. Nicht die Halfte.

Alles. Die ganzen funftausend Franken.«

»Und?«

»Dafur will er mich einstweilen leben lassen. Er hat mir sogar so etwas wie Protektion angedeutet.«

»So lange, bis er deine Unterschrift hat.«

»Das ist bis morgen abend. Es ist schon etwas. Wir haben manchmal nicht so lange Zeit gehabt.«

»Es ist nicht genug, 509. Wir mussen etwas anderes finden.« 509 hob die Schultern. »Vielleicht halt es vor. Kann sein, da? er denkt, mich brauchen zu mussen, um das Geld zu beheben.«

»Es kann auch sein, da? er das Gegenteil denkt. Dich loszuwerden, damit du die Uberschreibung nicht widerrufen kannst.«

»Ich kann sie nicht widerrufen, wenn er sie hat.«

»Das wei? er nicht. Und du konntest es vielleicht. Du hast sie unter Zwang gegeben.« 509 schwieg einen Augenblick. »Ephraim«, sagte er dann ruhig. »Das brauche ich nicht. Ich habe kein Geld in der Schweiz.«

»Was?«

»Ich habe nicht einen Franken in der Schweiz.«

Berger starrte 509 eine Weile an. »Du hast das alles erfunden?«

»Ja.«

Berger wischte sich mit dem Handrucken uber die entzundeten Augen. Seine Schultern zuckten.

»Was hast du?« fragte 509. »Weinst du etwa?«

»Nein, ich lache. Es ist idiotisch, aber ich lache.«

»Lach nur. Wir haben verdammt wenig gelacht hier.«

»Ich lache, weil ich an Handkes Gesicht in Zurich gedacht habe. Wie bist du nur auf die Idee gekommen, 509?« »Ich wei? es nicht. Man kommt auf vieles, wenn es ums Leben geht. Die Hauptsache ist, da? er es geschluckt hat. Er kann nicht einmal etwas herausfinden, bevor der Krieg zu Ende ist. Er mu? es einfach glauben.« »Das ist richtig.« Bergers Gesicht war wieder ernst. »Deshalb traue ich ihm nicht. Er kann seinen Koller kriegen und etwas Unvermutetes tun. Wir mussen Vorsorgen. Am besten ist es, wenn du stirbst.« »Sterben? Wie? Wir haben kein Lazarett. Wie sollen wir das schieben? Hier ist die letzte Station.« »Uber die allerletzte. Uber das Krematorium.« 509 sah Berger an. Er sah das sorgenvolle Gesicht mit den tranenden Augen und dem schmalen Schadel, und er spurte eine Welle von Warme. »Glaubst du, da? das moglich ist?« »Man kann es versuchen.« 509 fragte nicht, wie Berger es versuchen wolle. »Wir konnen daruber noch reden«, sagte er. »Vorlaufig haben wir noch Zeit. Ich werde Handke heute nur zweitausendfunfhundert Franken uberschreiben. Er wird den Zettel nehmen und den Rest verlangen. Dadurch gewinne ich ein paar Tage. Dann habe ich noch die zwanzig Mark von Rosen.« »Und wenn die weg sind?« »Bis dahin passiert vielleicht noch etwas anderes. Man kann immer nur an die nachste Gefahr denken. Eine zur Zeit. Und eine nach der anderen. Sonst wird man verruckt.« 509 drehte den Briefbogen und den Fullfederhalter hin und her. Er beobachtete die matten Reflexe auf dem Halter. »Komisch«, sagte er. »Das habe ich lange nicht in der Hand gehabt. Papier und Feder. Fruher habe ich einmal davon gelebt. Ob man das je wieder konnen wird?«

XV

Die zweihundert Mann des neuen Bergungskommandos waren in einer langen Reihe uber die Stra?e verteilt. Es war das erste Mal, da? sie innerhalb der Stadt zum Aufraumen eingesetzt wurden. Bisher hatte man sie nur in den eingesturzten Fabriken der Vororte beschaftigt. Die SS hatte die Ausgange der Stra?e besetzt und au?erdem Mannschaften der Lange nach uber die linke Seite als Wachen verteilt. Die Bomben hatten hauptsachlich die rechte Seite getroffen; Mauern und Dacher waren uber den Fahrdamm gesturzt und machten fast jeden Verkehr unmoglich. Die Haftlinge hatten nicht genug Schaufeln und Hacken; sie mu?ten zum Teil mit den blo?en Handen arbeiten. Die Kapos und Vorarbeiter waren nervos; sie wu?ten nicht, ob sie prugeln und antreiben oder sich zuruckhalten sollten. Zivilisten war es zwar untersagt, die Stra?e zu benutzen; aber die Mieter, die in den heilgebliebenen Hausern wohnten, konnten nicht hinausgeworfen werden. Lewinsky arbeitete neben Werner. Beide hatten sich mit einer Anzahl gefahrdeter politischer Gefangener zum Bergungskommando gemeldet. Die Arbeit war schwerer als anderswo; aber sie waren auf diese Weise tagsuber dem Zugriff der SS im Lager entzogen; abends, nach dem Einrucken, wenn es dunkel war, konnten sie sich dann bei Gefahr leichter unsichtbar machen und unauffindbar bleiben. »Hast du gesehen, wie die Stra?e hei?t?« fragte Werner leise. »Ja.« Lewinsky grinste. Die Stra?e hie? Adolf-Hitler-Stra?e. »Heiliger Name. Hat aber gegen Bomben nichts genutzt.«

Sie schleppten einen Balken fort. Die Rucken ihrer gestreiften Jacken waren dunkel von Schwei?. An der Sammelstelle trafen sie auf Goldstein. Er war trotz seines schwachen Herzens mit zum Kommando gekommen, und Lewinsky und Werner hatten nichts dagegen gesagt – er gehorte zu den gefahrdeten Haftlingen. Sein Gesicht war grau. Er schnupperte. »Es stinkt hier. Nach Leichen. Nicht nach frischen – hier mussen noch alte Leichen liegen.« »Stimmt.« Sie kannten das. Sie wu?ten genau, wie Leichen rochen. Sie schichteten jetzt losgebrochene Steine neben einer Mauer auf. Der Mortel wurde in kleinen Wagen fortgeschafft. Hinter ihnen, auf der anderen Seite der Stra?e, befand sich ein Kolonialwarenladen. Die Fenster waren geplatzt; aber einige Plakate und Kartons waren schon wieder in die Auslage hineingestellt worden. Ein Mann mit einem Schnurrbart schaute hinter ihnen hervor. Er hatte eines der Gesichter, die man 1933 in Mengen bei Demonstrationen hinter Schildern mit der Aufschrift:»Kauft nicht bei Juden« gesehen hatte. Der Kopf schien durch die Ruckwand des Schaufensters abgeschnitten zu sein – ahnlich wie bei billigen Fotografien auf Rummelplatzen, wo die Klienten ihre Kopfe uber gemalte Kapitansuniformen halten. Dieser stand uber leeren Schachteln und verstaubten Plakaten; es schien zu ihm zu passen. In einem unzerstorten Torweg spielten Kinder. Neben ihnen stand eine Frau in einer roten Bluse und blickte auf die Gefangenen. Ein paar Hunde brachen plotzlich aus dem Torweg und rannten uber die Stra?e zu den Straflingen hinuber. Sie schnupperten an ihren Hosen und Schuhen, und einer wedelte und sprang an dem Strafling Nr. 7105 hoch. Der Kapo, der diesen Abschnitt beaufsichtigte, wu?te nicht, was er tun sollte. Der Hund war ein Zivilhund und kein Mensch; trotzdem schien es ungebuhrlich, da? er freundlich zu einem Strafling war, besonders in Gegenwart der SS. 7105 wu?te noch weniger Rat. Er tat das einzige, was ein Gefangener tun konnte; er stellte sich, als sei das Tier nicht da. Aber der Hund folgte ihm; er hatte eine rasche Zuneigung zu ihm gefa?t. 7105 buckte sich und arbeitete mit angestrengtem Eifer. Er war besorgt; der Hund konnte seinen Tod bedeuten. »Weg da, Lausekoter«, schrie der Kapo endlich und hob einen Knuppel. Er hatte seinen Entschlu? gefa?t; es war immer besser, scharf zu sein, wenn die SS zusah. Aber der Hund kummerte sich nicht um ihn; er sprang und tanzte wieder um 7105 herum. Es war ein gro?er, braunwei?er deutscher Vorstehhund. Der Kapo hob Steine und warf nach ihm. Der erste Stein traf 7105 am Knie; erst der dritte traf den Hund quer gegen den Bauch. Das Tier heulte auf, sprang beiseite und bellte den Kapo an. Der Kapo hob den nachsten Brocken. »Scher dich weg, du Aas!« Der Hund wich aus, aber er lief nicht weg. Geschickt machte er einen Bogen und sprang den Kapo an. Der Mann sturzte uber einen Haufen Mortel, und der Hund stand sofort knurrend uber ihm. »Hilfe!« schrie der

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