Wahrend der Fahrt beschwerte sich Onkel Vernon bei Tante Petunia. Er beklagte sich gerne: die Leute im Buro, Harry, der Stadtrat, Harry, die Bank und Harry waren nur einige seiner Lieblingsthemen. Heute Morgen waren es die Motorradfahrer.
»… Jagen hier lang wie die Verruckten, diese Jungen Rowdys«, klagte er, als ein Motorrad sie uberholte.
»Ich habe von einem Motorrad getraumt«, sagte Harry, der sich plotzlich wieder daran erinnerte.»Es konnte fliegen.«
Onkel Vernon knallte beinahe in den Vordermann. Er drehte sich auf seinem Sitz ganz nach hinten um, das Gesicht wie eine riesige Scheibe Rote Bete mit Schnurrbart, und schrie Harry an:»MOTORRADER FLIEGEN NICHT!«
Dudley und Piers wieherten.
»Das wei? ich«, sagte Harry.»Es war ja nur ein Traum.«
Hatte er blo? nichts gesagt, dachte er. Wenn es etwas gab, was die Dursleys noch mehr hasten als seine Fragen, dann waren es seine Geschichten uber die Dinge, die sich nicht so verhielten, wie sie sollten, egal ob es nun in einem Traum oder in einem Comic passierte – sie glaubten offenbar, er konnte auf gefahrliche Gedanken kommen.
Es war ein sehr sonniger Sonnabend und im Zoo drangelten sich die Familien. Die Dursleys kauften Dudley und Piers am Eingang ein paar gro?e Schoko-Eiskugeln, und weil die Frau im Eiswagen Harry mit einem Lacheln fragte, was denn der junge Mann bekomme, kauften sie ihm ein billiges Zitroneneis am Stiel. Das war auch nicht schlecht, dachte Harry und lutschte vor sich hin, wahrend sie einem Gorilla zuschauten, der sich am Kopf kratzte und der, auch wenn er nicht blond war, Dudley erstaunlich ahnlich sah.
Es war Harrys bester Morgen seit langem. Umsichtig ging er ein Stuck hinter den Dursleys her, damit Dudley und Piers, die um die Mittagszeit anfingen sich zu langweilen, nicht wieder auf ihre Lieblingsbeschaftigung verfielen, namlich Harry zu verhauen. Sie a?en im Zoorestaurant, und als Dudley einen Wutanfall bekam, weil sein Eisbecher Hawaii nicht gro? genug war, bestellte ihm Onkel Vernon einen neuen, und Harry durfte den ersten aufessen.
Das war des Guten zu viel, und im Nachhinein hatte Harry das Gefuhl, er hatte es wissen mussen.
Nach dem Mittagessen gingen sie ins Reptilienhaus. Hier drin war es kuhl und dunkel und entlang der Wande waren runde Sichtfenster eingelassen. Hinter dem Glas krabbelten und glitten alle Arten von Echsen und Schlangen uber Aste und Steine. Dudley und Piers wollten die riesigen, giftigen Kobras und die Pythonschlangen sehen, die Menschen zerquetschen konnten. Schnell fand Dudley die gro?te Schlange, die es hier gab. Sie hatte sich zweimal um Onkel Vernons Wagen schlingen und ihn in einen Mulleimer quetschen konnen – doch offenbar war sie dazu gerade nicht in Stimmung. Tatsachlich doste sie vor sich hin.
Dudley hatte die Nase gegen das Fenster gepre?t und starrte wie gebannt auf die glanzenden braunen Windungen.
»Mach, da? sie sich bewegt«, sagte er in quengelndem Ton zu seinem Vater. Onkel Vernon klopfte mit der Faust gegen das Glas, doch die Schlange ruhrte sich nicht.
»Mach's noch einmal«, befahl Dudley. Onkel Vernon trommelte behende mit den Knocheln auf das Glas, doch die Schlange schnarchte einfach weiter.
»Wie langweilig«, klagte Dudley und schlurfte davon.
Harry trat vor die Scheibe und lie? den Blick auf der Schlange ruhen. Es hatte ihn nicht uberrascht, wenn auch sie vor Langeweile gestorben ware – keine Gesellschaft au?er doofen Leuten, die mit den Fingern gegen das Glas trommelten und sie den ganzen Tag lang storten. Das war schlimmer, als einen Schrank als Zimmer zu haben, wo der einzige Besucher Tante Petunia war, die an die Tur hammerte, um einen aufzuwecken. Doch zumindest bekam er den Rest des Hauses zu sehen.
Die Schlange offnete plotzlich ihre kleinen Perlaugen. Langsam, ganz allmahlich, hob sie den Kopf bis ihre Augen auf einer Hohe mit denen Harrys waren.
Sie zwinkerte.
Harry starrte sie an. Rasch blickte er uber die Schulter, ob jemand zusah. Niemand. Er drehte sich wieder zu der Schlange um und zwinkerte zuruck.
Die Schlange stie? mit dem Kopf in Richtung Onkel Vernon und Dudley und rollte die Augen nach oben. Sie sah Harry mit einem Blick an, der eindeutig sagte:
»So was mu? ich den ganzen Tag ertragen.«
»Ich wei?«, murmelte Harry durch das Glas, wenn er auch nicht sicher war, ob die Schlange ihn horen konnte.»Das mu? dich wirklich auf die Palme bringen.«
Die Schlange nickte lebhaft.
»Weber kommst du eigentlich?«, fragte Harry.
Die Schlange stie? mit ihrem Schwanz gegen ein kleines Schild nahe dem Fenster. Harry spahte auf die Inschrift.
Boa constrictor, Brasilien.
»War es schon dort?«
Wieder stie? die Schlange mit dem Schwanz gegen das Schild, und Harry las weiter: Dieses Exemplar wurde im Zoo ausgebrutet»Oh, ich verstehe, du warst nie in Brasilien?«
Die Schlange schuttelte den Kopf, und plotzlich erschallte hinter Harry ein ohrenbetaubendes Rufen, das sie beide zusammenzucken lie?:»DUDLEY! MR. DURSLEY! KOMMT UND SEHT EUCH DIESE SCHLANGE AM DAS GLAUBT IHR NICHT, WAS DIE TUT!«
Dudley kam, so schnell er konnte, auf sie zugewatschelt.
»Aus dem Weg, Mann«, sagte er und stie? Harry in die Rippen. Harry, von dem Schlag ganz uberrascht, fiel hart auf den Betonboden. Was nun kam, passierte so schnell, da? niemand sah, wie es geschah: Einen Moment lang druckten sich Piers und Dudley ganz dicht gegen das Glas und im nachsten Moment sprangen sie unter Schreckgeheule zuruck.
Harry setzte sich auf und nun stockte ihm der Atem. Die Glasscheibe am Terrarium der Boa constrictor war verschwunden. Die gro?e Schlange entrollte sich im Nu und schlangelte sich heraus auf den Boden. – Im ganzen Reptilienhaus schrien die Menschen und rannten zu den Ausgangen.
Als die Schlange an Harry vorbeiglitt, hatte er schworen konnen, da? eine leise, zischelnde Stimme sagte:»Brasilien, ich komme… tschusss, Amigo.«
Der Obertierpfleger des Reptilienhauses stand unter Schock.
»Aber das Glas«, murmelte er standig vor sich hin,»was ist aus dem Glas geworden?«
Der Zoodirektor personlich bruhte Tante Petunia eine Tasse starken, su?en Tee und uberschlug sich mit seinen Entschuldigungen. Piers und Dudley schnatterten nur noch. Soweit Harry es gesehen hatte, hatte die Schlange nichts getan, au?er im vorbeigleiten spielerisch gegen ihre Fersen zu schlenzen, doch als sie alle wieder in Onkel Vernons Wagen sa?en, erzahlte ihnen Dudley, die Schlange hatte ihm fast das Bein abgebissen, wahrend Piers schwor, sie hatte versucht, ihn totzuquetschen. Doch am schlimmsten fur Harry war, da? Piers, als er sich ein wenig beruhigt hatte, sagte:»Harry hat mit ihr gesprochen, nicht wahr, Harry?«
Onkel Vernon wartete, bis Piers endgultig aus dem Haus war, bevor er sich Harry vorknopfte. Er war so wutend, da? er kaum ein Wort hervorbrachte.»Geh – Schrank – bleib – kein Essen«, konnte er gerade noch herauswurgen, bevor er auf einem Stuhl zusammensackte und Tante Petunia ihm schleunigst einen gro?en Cognac bringen mu?te.
Harry lag noch lange wach in seinem dunklen Schrank. Hatte er doch nur eine Uhr. Er wu?te nicht, wie spat es war, und er war sich nicht sicher, ob die Dursleys schon schliefen. Bis es so weit war, konnte er es nicht riskieren, in die Kuche zu schleichen und sich etwas zu essen zu holen.
Fast zehn Jahre lebte er nun bei den Dursleys, solange er sich erinnern konnte, und es waren zehn elende Jahre gewesen. Schon als Baby war er zu ihnen gekommen, denn seine Eltern waren bei einem Autounfall gestorben. Er konnte sich nicht erinnern, in diesem Auto gewesen zu sein, als der Unfall passierte. Manchmal, wenn er sich wahrend der langen Stunden im Schrank ganz angestrengt zu erinnern suchte, tauchte eine unheimliches Bild vor seinen Augen auf. ein blendend heller Blitz aus grunem Licht und ein brennender Schmerz auf seiner Stirn. Das mu?te der Unfall gewesen sein, obwohl er sich nicht erklaren konnte, wo all das grune Licht herkam. Er konnte sich uberhaupt nicht an seine Eltern erinnern. Onkel und Tante sprachen nie uber sie, und naturlich war es ihm verboten, Fragen zu stellen. Im Haus gab es auch keine Fotos von ihnen.
Als Harry noch junger gewesen war, hatte er immer und immer wieder von einem unbekannten Verwandten