»Wer sollte dir denn schreiben?«, hohnte Onkel Vernon, schuttelte das zusammengefaltete Blatt mit einer Hand auseinander und begann zu lesen. Sein Gesicht wechselte schneller von Rot zu Grun als eine Verkehrsampel. Und es blieb nicht bei Grun. Nach ein paar Sekunden war es graulich-wei? wie alter Haferschleim.

»P-P-Petunia!«, stie? er keuchend hervor.

Dudley grabschte nach dem Brief, um ihn zu lesen, aber Onkel Vernon hielt ihn hoch, so da? er ihn nicht zu fassen bekam. Tante Petunia nahm ihn neugierig in die Hand und las die erste Zeile. Einen Moment lang sah es so aus, als wurde sie in Ohnmacht fallen. Sie griff sich an den Hals und gab ein wurgendes Gerausch von sich.

»Vernon! Ach du lieber Gott – Vernon!«

Sie starrten einander an, als hatten sie vergessen, da? Harry und Dudley immer noch in der Kuche waren. Dudley war es nicht gewohnt, ignoriert zu werden. Mit dem Smelting-Stock versetzte er seinem Vater einen kurzen schmerzhaften Hieb auf den Kopf

»Ich will diesen Brief lesen«, sagte er laut.

»Ich will ihn lesen«, sagte Harry wutend,»es ist namlich meiner.«

»Raus hier, beide«, krachzte Onkel Vernon und stopfte den Brief in den Umschlag zuruck.

Harry ruhrte sich nicht vom Fleck.

»ICH WILL MEINEN BRIEF!«. rief er.

»La? mich sehen!«, verlangte Dudley.

»RAUS!«, brullte Onkel Vernon, packte Harry und Dudley am Genick, warf sie hinaus in den Flur und knallte die Kuchentur hinter ihnen zu. Prompt lieferten sich Harry und Dudley einen erbitterten, aber stummen Kampf darum, wer am Schlusselloch lauschen durfte. Dudley gewann, und so legte sich Harry, die Brille von einem Ohr herabhangend, flach auf den Bauch und lauschte an dem Spalt zwischen Tur und Fu?boden.

»Vernon«, sagte Tante Petunia mit zitternder Stimme,»schau dir die Adresse an – wie konnen sie denn nur wissen, wo er schlaft? Sie beobachten doch nicht etwa unser Haus?«

»Beobachten – spionieren – vielleicht folgen sie uns«, murmelte Onkel Vernon verwirrt.

»Aber was sollen wir tun, Vernon? Sollen wir vielleicht antworten? Ihnen sagen, wir wollen nicht -«

Harry konnte Onkel Vernons glanzende schwarze Schuhe die Kuche auf und ab schreiten sehen.

»Nein«, sagte er endlich.»Nein, wir tun so, als ob nichts ware. Wenn sie keine Antwort bekommen… Ja, das ist das Beste… Wir tun gar nichts… «

»Aber -«

»Ich will keinen davon im Haus haben, Petunia! Als wir ihn aufnahmen, haben wir uns da nicht geschworen, diesen gefahrlichen Unsinn auszumerzen?«

Als Onkel Vernon an diesem Abend vom Buro zuruckkam, tat er etwas, was er nie zuvor getan hatte: er besuchte Harry in seinem Schrank.

»Wo ist mein Brief?«, sagte Harry, kaum hatte sich Onkel Vernon durch die Tur gezwangt.»Wer schreibt an mich?«

»Niemand. Er war nur versehentlich an dich adressiert sagte Onkel Vernon kurz angebunden.»Ich habe ihn verbrannt.«

»Es war kein Versehen«, rief Harry zornig,»mein Schrank stand drauf«

»RUHE!«, schrie Onkel Vernon, und ein paar Spinnen fielen von der Decke. Er holte ein paar Mal tief Luft und zwang dann sein Gesicht zu einem recht schmerzhaft wirkenden Lacheln.

»Ahm -ja, Harry – wegen dieses Schranks hier. Deine Tante und ich haben daruber nachgedacht… Du wirst allmahlich wirklich etwas zu gro? dafur… Wir meinen, es ware doch nett, wenn du in Dudleys zweites Schlafzimmer ziehen wurdest.«

»Warum?«, sagte Harry.

»Keine dummen Fragen!«, fuhr ihn der Onkel an.»Bring dieses Zeug nach oben, aber sofort.«

Das Haus der Dursleys hatte vier Schlafzimmer: eines fur Onkel Vernon und Tante Petunia, eines fur Besucher (meist Onkel Vernons Schwester Marge), eines, in dem Dudley schlief, und eines, in dem Dudley all seine Spielsachen und die Dinge aufbewahrte, die nicht mehr in sein erstes Schlafzimmer pa?ten. Harry mu?te nur einmal nach oben gehen und schon hatte er all seine Sachen aus dem Schrank in das neue Zimmer gebracht. Er setzte sich aufs Bett und lie? den Blick kreisen. Fast alles hier drin war kaputt. Die einen Monat alte Videokamera lag auf einem kleinen, noch funktionierenden Panzer, den Dudley einmal uber den Hund der Nachbarn gefahren hatte. in der Ecke stand Dudleys erster Fernseher. Als seine Lieblingssendung abgesetzt wurde, hatte er den Fu? durch den Bildschirm gerammt. Auch ein gro?er Vogelkafig stand da, in dem einmal ein Papagei gelebt hatte, den Dudley in der Schule gegen ein echtes Luftgewehr getauscht hatte. Es lag mit durchgebogenem Lauf auf einem Regal, denn Dudley hatte sich darauf niedergelassen. Andere Regale standen voller Bucher. Das waren die einzigen Dinge in dem Zimmer, die aussahen, als waren sie nie angeruhrt worden.

Von unten war Dudley zu horen, wie er seine Mutter anbrullte.»Ich will ihn nicht da drin haben… Ich brauche dieses Zimmer. Er soll wieder ausziehen. -«

Harry seufzte und streckte sich auf dem Bett aus. Gestern noch hatte er alles darum gegeben, hier oben zu sein. Heute ware er lieber wieder in seinem Schrank mit dem Brief in der Hand statt hier oben ohne ihn.

Am nachsten Morgen beim Fruhstuck waren alle recht schweigsam. Dudley stand unter Schock. Er hatte geschrien, seinen Vater mit dem Smelting-Stock geschlagen, sich absichtlich ubergeben, seine Mutter getreten und seine Schildkrote durch das Dach des Gewachshauses geworfen, aber sein Zimmer hatte er trotzdem nicht zuruckbekommen. Harry dachte daruber nach, was gestern beim Fruhstuck geschehen war. Hatte er den Brief doch nur schon im Flur geoffnet, dachte er voll Bitterkeit.

Onkel Vernon und Tante Petunia sahen sich unablassig mit dusterer Miene an.

Die Post kam, und Onkel Vernon, der offenbar versuchte nett zu Harry zu sein, lie? Dudley aufstehen und sie holen. Sie konnten ihn horen, wie er den ganzen Flur entlang mit seinem Smelting-Stock mal hierhin, mal dorthin schlug. Dann rief er:

»Da ist schon wieder einer! Mr. H. Potter, Das kleinste Schlafzimmer, Ligusterweg 4 -«

Mit einem erstickten Schrei sprang Onkel Vernon von seinem Stuhl hoch und rannte den Flur entlang, Harry dicht hinter ihm – Onkel Vernon mu?te Dudley zu Boden ringen, um ihm den Brief zu entwinden, was schwierig war, weil Harry Onkel Vernon von hinten um den Hals gepackt hatte. Nach einem kurzen Gerangel, bei dem jeder ein paar saftige Schlage mit dem Smelting-Stock einstecken mu?te, richtete sich Onkel Vernon nach Luft ringend auf und hielt Harrys Brief in der Hand.

»Verschwinde in deinen Schrank – ich meine, dein Zimmer«, japste er Harry zu.»Dudley – geh – ich bitte dich, geh.«

Oben in seinem neuen Zimmer ging Harry auf und ab, auf und ab. Jemand wu?te, da? er aus dem Schrank ausgezogen war, und offenbar auch, da? er den ersten Brief nicht erhalten hatte. Das bedeutete doch gewi?, da? sie es wieder versuchen wurden? Und das nachste Mal wurde er dafur sorgen, da? es klappte. Er hatte einen Plan ausgeheckt.

Um sechs Uhr am nachsten Morgen klingelte der reparierte Wecker. Harry brachte ihn rasch zum Verstummen und zog sich leise an. Er durfte die Dursleys nicht aufwecken. Ohne Licht zu machen, stahl er sich die Treppe hinunter.

Er wurde an der Ecke des Ligusterwegs auf den Postboten warten und sich die Briefe fur Nummer 4 gleich geben lassen. Mit laut pochendem Herzen stahl er sich durch den dunklen Flur zur Haustur -

»AAAAAUUUUUH!«

Harry machte einen Sprung in die Luft – er war auf etwas Gro?es und Matschiges getreten, das auf der Turmatte lag – etwas Lebendiges!

Im ersten Stock gingen Lichter an, und mit einem furchtbaren Schreck wurde Harry klar, da? das gro?e matschige Etwas das Gesicht seines Onkels war. Onkel Vernon hatte in einem Schlafsack vor der Tur gelegen, und zwar genau deshalb, um Harry daran zu hindern, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Er schrie Harry etwa eine halbe Stunde lang an und befahl ihm dann, Tee zu kochen. Niedergeschlagen schlurfte Harry in die Kuche, und als er zuruckkam, war die Post schon eingeworfen worden, mitten auf den Scho? von Onkel Vernon. Harry konnte drei mit gruner Tinte beschriftete Briefe erkennen.

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