getraumt, der kommen und ihn mitnehmen wurde, aber das war nie Wirklichkeit geworden; die Dursleys waren alles, was er noch an Familie hatte. Doch manchmal hatte er den Eindruck (oder vielleicht die Hoffnung), da? Unbekannte auf der Stra?e ihn zu kennen schienen. Sehr merkwurdige Unbekannte waren das ubrigens. Einmal, als er mit Tante Petunia und Dudley beim Einkaufen war, hatte sich ein kleiner Mann mit einem violetten Zylinder vor ihm verneigt. Tante Petunia fragte Harry ganz entsetzt, ob er den Mann kenne, und schubste ihn und Dudley hastig aus dem Laden, ohne etwas zu kaufen. Ein andermal hatte ihm eine wild aussehende, ganz in Grun gekleidete alte Frau im Bus frohlich zugewinkt. Und ein glatzkopfiger Mann mit einem sehr langen, purpurnen Umhang hatte ihm doch tatsachlich mitten auf der Stra?e die Hand geschuttelt und war dann ohne ein Wort zu sagen weitergegangen. Das Seltsamste an all diesen Leuten war, da? sie zu verschwinden schienen, wenn Harry versuchte sie genauer anzusehen. In der Schule hatte Harry niemanden. Jeder wu?te, da? Dudleys Bande diesen komischen Harry Potter mit seinen ausgebeulten alten Klamotten und seiner zerbrochenen Brille nicht ausstehen konnte, und niemand mochte Dudleys Bande in die Quere kommen.

Briefe von niemandem

Die Flucht der brasilianischen Boa constrictor hatte Harry die bisher langste Strafe eingebracht. Als er den Schrank wieder verlassen durfte, hatten die Sommerferien begonnen. Dudley hatte seine neue Videokamera schon langst zertrummert und sein ferngesteuertes Flugzeug zu Bruch geflogen. Bei seiner ersten Fahrt mit dem Rennrad hatte er die alte Mrs. Figg, die gerade auf ihre Krucken gestutzt den Ligusterweg uberquerte, uber den Haufen geradelt.

Harry war froh, da? die Schule zu Ende war, doch Dudleys Bande, die das Haus Tag fur Tag heimsuchte, konnte er nicht entkommen. Piers, Dennis, Malcolm und Gorden waren allesamt gro? und dumm, doch weil Dudley der Dummste von allen war, war er ihr Anfuhrer. Die andern schlossen sich mit ausgesprochenem Vergnugen Dudleys Lieblingssport an: Harry jagen.

Deshalb verbrachte Harry moglichst viel Zeit au?er Haus und wanderte durch die Stra?en. Das baldige Ende der Ferien war ein kleiner Hoffnungsschimmer. Im September wurde er auf die hohere Schule kommen und zum ersten Mal im Leben nicht mehr mit Dudley zusammen sein. Dudley hatte einen Platz an Onkel Vernons alter Schule, Smeltings. Auch Piers Polkiss ging dorthin. Harry dagegen kam in die Stonewall High Scheel, die Gesamtschule in der Nachbarschaft. Dudley fand das sehr lustig.

»In Stonewall stecken sie den Neuen am ersten Tag den Kopf ins Klo«, eroffnete er Harry. weilst du mit hochkommen und schon mal uben?«

»Nein, danke«, sagte Harry.»Das arme Klo hat noch nie etwas so Furchterliches wie deinen Kopf geschluckt – vielleicht wird ihm schlecht davon.«Dann rannte er los, bevor sich Dudley einen Reim daraus machen konnte.

Eines Tages im Juli nahm Tante Petunia Dudley mit nach London, um dort die Schuluniforrn fur Smeltings zu kaufen, und lie? Harry bei Mrs. Figg zuruck. Mrs. Figg war nicht mehr so ubel wie fruher. Harry erfuhr, da? sie sich den Fu? gebrochen hatte, als sie uber eine ihrer Katzen gestolpert war, und inzwischen schien sie von ihnen nicht mehr ganz so begeistert zu sein. Sie lie? Harry fernsehen und reichte ihm ein Stuck Schokoladenkuchen, der schmeckte, als hatte sie ihn schon etliche Jahre aufbewahrt.

An diesem Abend stolzierte Dudley in seiner neuen Uniform unter den Augen der Eltern im Wohnzimmer umher. Die Jungen in Smeltings trugen kastanienbraune Fracke, orangefarbene Knickerbocker-Hosen und flache Strohhute, die sie»Kreissagen«nannten. Au?erdem hatten sie knorrige Holzstocke, mit denen sie sich, wenn die Lehrer nicht hinsahen, gegenseitig Hiebe versetzten. Das galt als gute Ubung furs spatere Leben.

Onkel Vernon musterte Dudley in den neuen Knickerbockern und grummelte etwas vom stolzesten Augenblick seines Lebens. Tante Petunia brach in Tranen aus und sagte, sie konne es einfach nicht fassen, da? dies ihr su?er kleiner Dudleyspatz sei, so hubsch und erwachsen wie er aussehe. Harry wagte nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Womoglich hatte er sich schon zwei Rippen angeknackst vor lauter Anstrengung, nicht loszulachen.

Am nachsten Morgen, als Harry zum Fruhstuck in die Kuche kam, schlug ihm ein furchterlicher Gestank entgegen. Offenbar kam er von einer gro?en Emailschussel in der Spule. Er trat naher, um sich die Sache anzusehen. in dem grauen Wasser der Schussel schwamm etwas, das aussah wie ein Bundel schmutziger Lumpen.

»Was ist das denn?«, fragte er Tante Petunia. Sie kniff die Lippen zusammen, wie immer, wenn er eine Frage zu stellen wagte.

»Deine neue Schuluniform«, sagte sie.

Harry warf noch einen Blick in die Schussel.

»Aha«, sagte er,»ich wu?te nicht, da? sie so na? sein mu?.«

»Stell dich nicht so dumm an«, keifte Tante Petunia.»Ich farbe ein paar alte Sachen grau fur dich. Die sehen dann genauso aus wie die der andern.«

Das bezweifelte Harry ernsthaft, er hielt es aber fur besser, ihr nicht zu widersprechen. Er setzte sich an den Tisch und versuchte nicht daran zu denken, wie er an seinem ersten Schultag in der Stonewall High aussehen wurde – vermutlich wie einer, der ein paar Fetzen alter Elefantenhaut trug.

Dudley und Onkel Vernon kamen herein und beide hielten sich beim Gestank von Harrys neuer Uniform die Nase zu. Onkel Vernon schlug wie immer seine Zeitung auf und Dudley knallte seinen Smelting-Stock, den er immer bei sich trug, auf den Tisch.

Die Klappe des Briefschlitzes quietschte und die Post klatschte auf die Turmatte.

»Hol die Post, Dudley«, sagte Onkel Vernon hinter seiner Zeitung hervor.

»Soll doch Harry sie holen.«

»Hol die Post, Harry.«

»Soll doch Dudley sie holen.«

»Knuff ihn mal mit deinem Smelting-Stock, Dudley.«

Harry wich dem Stock aus und ging hinaus, um die Post zu holen. Dreierlei lag auf der Turmatte: eine Postkarte von Onkel Vernons Schwester Marge, die Ferien auf der Isle of Wight machte, ein brauner Umschlag, der wohl eine Rechnung enthielt, und – ein Brief fur Harry.

Harry hob ihn auf und starrte auf den Umschlag. Sein Herz schwirrte wie ein riesiges Gummiband. Niemand hatte ihm je in seinem ganzen Leben einen Brief geschrieben. Wer konnte es sein? Er hatte keine Freunde, keine anderen Verwandten – er war nicht in der Bucherei angemeldet und hatte deshalb auch nie unhofliche Aufforderungen erhalten, Bucher zuruckzubringen. Doch hier war er, ein Brief, so klar adressiert, da? ein Fehler ausgeschlossen war:

Mr. H. Potter

Im Schrank unter der Treppe

Ligusterweg 4

Little Whinging

Surrey

Dick und schwer war der Umschlag, aus gelblichem Pergament, und die Adresse war mit smaragdgruner Tinte geschrieben. Eine Briefmarke war nicht draufgeklebt.

Mit zitternder Hand drehte Harry den Brief um und sah ein purpurnes Siegel aus Wachs, auf das ein Wappenschild eingepragt war: ein Lowe, ein Adler, ein Dachs und eine Schlange, die einen Kreis um den Buchstaben»H«schlossen.

»Beeil dich, Junge!«, rief Onkel Vernon aus der Kuche.»Was machst du da drau?en eigentlich, Briefbombenkontrolle?«Er gluckste uber seinen eigenen Scherz. Harry kam in die Kuche zuruck, den Blick unverwandt auf den Brief gerichtet. Er reichte Onkel Vernon die Rechnung und die Postkarte, setzte sich und begann langsam den gelben Umschlag zu offnen.

Onkel Vernon ri? den Brief mit der Rechnung auf, schnaubte vor Abscheu, und uberflog die Postkarte.

»Marge ist krank«, teilte er Tante Petunia mit.»Hat eine faule Wellhornschnecke gegessen… «

»Dad!«, sagte Dudley plotzlich.»Dad, Harry hat etwas!«

Harry war gerade dabei, den Brief zu entfalten, der aus demselben schweren Pergament bestand wie der Umschlag, als Onkel Vernon ihm das Blatt aus der Hand ri?.

»Das ist fur mich!«, rief Harry und versuchte Onkel Vernon den Brief wegzuschnappen.

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