glasklaren Plan im Sinn. Er stand auf, zog sich im blassen Dammerlicht an und ging dann ohne Ron zu wecken hinunter in den verlassenen Gemeinschaftsraum. Er nahm ein Blatt Pergament vom Tisch, auf dem noch seine Hausaufgaben fur Wahrsagen lagen, und schrieb den folgenden Brief:
Lieber Sirius,
ich glaube, ich habe mir nur eingebildet, da? meine Narbe wehtat, ich war noch ziemlich verpennt, als ich dir diesen Brief schrieb. Es hat keinen Zweck, da? du zuruckkommst, hier ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen um mich, mein Kopf fuhlt sich ganz normal an.
Harry
Dann kletterte er aus dem Portratloch, stieg die Treppen des noch im Schlaf liegenden Schlosses hoch (nur ganz kurz von Peeves aufgehalten, der ihm in einem Korridor im vierten Stock eine gro?e Vase uber den Kopf stulpen wollte), bis er schlie?lich in die Eulerei in der Spitze des Westturms gelangte. Die Eulerei war ein kreisrunder Raum mit steinernen Wanden, und da die Fenster keine Scheiben hatten, war er recht kalt und zugig. Der strohbedeckte Boden war ubersat mit Eulenmist und ausgewurgten Knochen von Mausen und Maulwurfen. Hunderte von Eulen jeder erdenklichen Art hockten hier auf den Stangen, die sich bis hoch zum Turmgebalk zogen, und fast alle schliefen, auch wenn hie und da ein rundes Bernsteinauge Harry mit scharfem Blick folgte. Jetzt sah er auch Hedwig behaglich zwischen einer Schleiereule und einem Waldkauz schlafen, und er ging hastig zu ihr hinuber, wobei er fast auf dem mit Vogelkot ubersaten Boden ausgerutscht ware. Es dauerte eine Weile, bis er sie dazu bringen konnte, aufzuwachen und ihn uberhaupt anzusehen, denn zunachst trippelte sie auf ihrer Stange umher und zeigte ihm nur den Schwanz. Offensichtlich war sie immer noch gekrankt wegen seiner undankbaren Art am Abend zuvor. Am Ende schaffte es Harry dann doch, sie zu uberzeugen, indem er laut uberlegte, da? sie wohl zu mude sei und er Ron bitten wurde, ihm Pigwidgeon zu leihen; daraufhin streckte sie ein Bein aus und lie? ihn den Brief daran festbinden.
»Du findest ihn, nicht wahr?«, sagte Harry und streichelte ihr ubers Gefieder, wahrend er sie auf dem Arm zu einer der Mauerluken trug.»Bevor die Dementoren ihn finden.«
Sie kniff ihm in den Finger, vielleicht ein wenig kraftiger als sonst, schuhuhte jedoch leise, als wollte sie ihn trotz allem beruhigen. Dann breitete sie ihre Flugel aus und flatterte in den Sonnenaufgang hinein. Harry sah ihr mit dem schon vertrauten flauen Gefuhl im Magen nach, bis sie verschwunden war. Er war sich so sicher gewesen, da? Sirius' Antwort seine Sorgen lindern und nicht noch steigern wurde.
»Das war eine Luge, Harry«, sagte Hermine in scharfem Ton beim Fruhstuck, als er ihr und Ron von seinem Brief erzahlt hatte.»Du hast dir nicht blo? eingebildet, da? deine Narbe wehtat, das wei?t du genau.«
»Na und?«, sagte Harry.»Meinetwegen soll er jedenfalls nicht wieder in Askaban landen.«
»La? stecken«, fuhr Ron Hermine an, als sie den Mund offnete, um noch ein wenig weiterzustreiten; und ausnahmsweise folgte ihm Hermine und verstummte.
Wahrend der nachsten Wochen muhte sich Harry nach Kraften, sich keine Sorgen uber Sirius zu machen. Gewi?, er konnte es einfach nicht lassen, mit bangem Gefuhl aufzusehen, wenn am Morgen die Posteulen ankamen, noch konnte er verhindern, da? spat am Abend, bevor er einschlief, grauenhafte Bilder an seinem inneren Auge vorbeizogen, Bilder von Sirius, wie er in irgendeiner dunklen Londoner Stra?e von Dementoren in die Enge getrieben wurde. Doch ansonsten gab er sich Muhe, nicht an seinen Paten zu denken. Konnte er doch nur Quidditch spielen, um sich abzulenken; nichts hatte seinem aufgewuhlten Gemut so gut getan wie eine harte, fetzige Trainingsstunde. Andererseits war der Unterricht jetzt so anspruchsvoll und schwierig wie nie zuvor, besonders in Verteidigung gegen die dunklen Kunste.
Zu ihrer Uberraschung hatte Professor Moody angekundigt, da? er jeden Einzelnen von ihnen mit dem Imperius-Fluch belegen wurde, um dessen Macht zu zeigen und zu prufen, ob sie sich gegen seine Wirkungen zur Wehr setzen konnten.
»Aber, Sie sagten doch, er sei verboten, Professor«, sagte Hermine verunsichert, als Moody mit einem Schwung seines Zauberstabs die Tische fortrucken lie? und sich einen gro?en freien Platz in der Mitte des Raumes verschaffte.»Sie sagten – ihn gegen einen anderen Menschen einzusetzen, sei -«
»Dumbledore will, da? ich euch beibringe, wie es sich anfuhlt«, sagte Moody, und sein magisches Auge schwamm zu Hermine hin und fixierte sie mit schaurigem Blick, ohne ein einziges Mal zu blinzeln.»Wenn du es lieber auf die harte Tour lernen willst – wenn dich jemand damit uberrascht und dich vollkommen unterwirft – mir soll es recht sein. Du bist entschuldigt. Da geht's raus.«
Er wies mit seinem knochigen Finger zur Tur. Hermine lief rosa an und murmelte etwas von wegen, das hatte sie so nicht gemeint. Harry und Ron grinsten sich zu. Sie wu?ten, da? Hermine lieber Bubotubler-Eiter schlurfen wurde als eine so wichtige Unterrichtsstunde zu verpassen.
Moody lie? sie der Reihe nach vortreten und belegte sie mit dem Imperius-Fluch. Harry beobachtete, wie seine Mitschuler unter Moodys Einfluss die erstaunlichsten Dinge vollfuhrten. Dean Thomas hupfte dreimal im Kreis durchs Zimmer und sang dabei die Nationalhymne. Lavender Brown ahmte ein Eichhornchen nach. Neville zeigte eine Reihe ganz verbluffender Gymnastikubungen, bei denen er ansonsten sicher zusammengeklappt ware. Nicht einer von ihnen schien fahig zu sein, den Fluch abzuwehren, und alle erholten sich erst, als Moody ihn wieder aufhob.
»Potter«, knurrte Moody,»du bist dran.«
Harry trat vor in die Mitte des Klassenzimmers, wo Moody Platz geschaffen hatte. Moody hob den Zauberstab, richtete ihn auf Harry und sagte:»Imperio.«Es war ein hochst wundersames Gefuhl. Harry glaubte zu schweben, jeder Gedanke, alle Sorgen, die ihn Umtrieben, waren wie von sanfter Hand weggewischt, und zuruck blieb nur ein vages, unergrundliches Glucksgefuhl. Da stand er, unendlich entspannt, nur leise ahnend, da? alle ihn ansahen. Und dann horte er Mad-Eye Moodys Stimme in einer fernen Kammer seines leeren Kopfes widerhallen:»Spring auf den Tisch… spring auf den Tisch…«Harry ging folgsam in die Knie und setzte zum Sprung an.
»Spring auf den Tisch…«
Warum eigentlich?
Eine andere Stimme, weit hinten in seinem Kopf, war erwacht.»War doch ziemlich bescheuert, das zu tun«, sagte die Stimme.
»Spring auf den Tisch…«
»Nein, das werd ich lieber nicht tun, danke«, sagte die andere Stimme, ein wenig fester…»Nein, ich will nicht wirklich…«
»Spring! Sofort.«
Was Harry als Nachstes spurte, war ein heftiger Schmerz. Er war gesprungen und hatte zugleich versucht sich davon abzuhalten – woraufhin er mit dem Kopf auf den Tisch geschlagen war, ihn umgeworfen hatte und sich, nach dem Gefuhl in seinen Beinen zu schlie?en, auch noch beide Kniescheiben zertrummert hatte.
»Nun, das war doch schon mal was!«, horte er Moodys knurrende Stimme, und plotzlich spurte Harry, wie das leere, hallende Gefuhl in seinem Kopf verschwand. Er erinnerte sich genau daran, was passiert war, und der Schmerz in seinen Knien schien sich noch zu verdoppeln.
»Schaut euch das an, ihr Rasselbande… Potter hat gekampft! Er hat gegen den Fluch angekampft und ihn verdammt noch mal fast gebrochen! Wir versuchend noch mal, Potter, und die anderen passen gut auf – schaut ihm in die Augen, da seht ihr's – sehr gut, Potter, wirklich sehr gut! Die werden Schwierigkeiten haben, dich zu unterwerfen!«
»So, wie er redet«, murmelte Harry, als er eine Stunde spater aus dem Klassenzimmer humpelte (Moody hatte darauf bestanden, Harry viermal in Folge an seine Grenzen gehen zu lassen, bis er schlie?lich den Fluch vollkommen abschutteln konnte),»so, wie er redet, sollte man meinen, wir konnten jeden Augenblick angegriffen werden.«
»Ja, ich wei?«, sagte Ron, der immer noch bei jedem zweiten Schritt hupfte. Er hatte viel mehr Probleme mit dem Fluch gehabt als Harry, doch Moody versicherte ihm, die Wirkung wurde bis zum Mittagessen abklingen.»Wenn wir schon beim Verfolgungswahn sind…«, Ron sah nervos uber die Schulter, ob Moody auch ja au?er Horweite war, und fuhr fort:»Kein Wunder, da? sie im Ministerium froh waren, ihn loszuwerden. Hast du gehort, wie er Seamus erzahlt hat, was er mit dieser Hexe angestellt hat, die am ersten April hinter seinem Rucken ›Buuh‹ gerufen hat? Und wann sollen wir denn alles uber den Widerstand gegen den Imperius-Fluch nachlesen, wenn wir ohnehin so viel zu tun haben?«
Allen Viertkla?lern war aufgefallen, da? sie dieses Jahr eine ganze Menge mehr arbeiten mu?ten. Professor McGonagall erklarte ihnen auch, warum, als die Klasse in Verwandlung mit besonders lautem Stohnen und Achzen auf eine neue Ladung Hausaufgaben reagiert hatte.