Schlie?lich machte er den Mann in Reihe 1002WW ausfindig. Die Hollengruben sind in Form eines Amphitheaters konstruiert. Theoretisch kann der Aufenthaltsort eines jeden Bu?ers anhand eines Generalstabsplanes zuruckverfolgt werden. In der Praxis jedoch sieht es etwas anders aus. Da die Hilfsteufel die Leute achtlos auf Stapel werfen, die dann umkippen und dabei wiederum andere Stapel umrei?en, kann die Stelle, an der sich ein bestimmter Mensch in der jeweiligen Grube befindet, oft nur grob eingekreist werden.
»Ist hier ein Thomas Scrivener?« erkundigte sich Azzie.
Die Sunder im Stapel von Abschnitt 1002WW unterbrachen ihre Gesprache und sahen zu ihm hinuber, zumindest diejenigen, die so gestapelt lagen, da? ihre Kopfe in die richtige Richtung zeigten. Anstatt ihre Sunden zu bereuen, betrachteten sie ihre Zeit in der Grube als ein gesellschaftliches Ereignis, eine Gelegenheit, ihre Nachbarn kennenzulernen, Ansichten zu bestimmten Problemen auszutauschen und sich ein wenig zu amusieren. So fahren die Toten wie im Leben damit fort, sich selbst zu tauschen.
»Scrivener, Scrivener«, sagte ein Mann in der Mitte des Haufens. Unter Schwierigkeiten drehte er das Gesicht in Richtung seiner Achselhohle. »Richtig, er ist hier. Wei? irgend jemand, wo Scrivener steckt?«
Die Frage wurde durch den Haufen aufwarts und abwarts weitergeleitet. Die Manner verga?en vorubergehend ihre Fachsimpeleien uber Sport (es finden eine Menge Sportveranstaltungen in der Holle statt, aber die Heimmannschaft verliert immer – es sei denn, man wettet gegen sie). »Scrivener, Scrivener, so ein verruckter Bursche, gro? und mager, mit einer Narbe an einem Auge?« fragte einer.
»Ich wei? nicht, wie er aussieht«, gestand Azzie. »Ich hatte angenommen, er wurde sich melden, wenn er seinen Namen hort.«
Der Menschenhaufen murmelte, hustelte und tuschelte miteinander, so wie es fur Menschen, ob tot oder lebendig, typisch ist. Und hatte Azzie nicht das ubernaturlich gute Gehor eines Damons besessen, ware ihm das leise Piepsen irgendwo aus den Tiefen des Stapels entgangen.
»Hallo, da drau?en! Hier ist Scrivener! Hat sich da irgend jemand nach mir erkundigt?«
Azzie wies seine Hilfsteufel an, Scrivener aus dem Stapel herauszuziehen, aber vorsichtig, ohne ihm irgendwelche Gliedma?en abzurei?en. Man hatte sie naturlich wieder ersetzen konnen, aber das war eine schmerzhafte Prozedur, bei der psychische Narben zuruckbleiben konnten, und Azzie wu?te, da? er den Mann unversehrt auf die Erde zuruckbringen mu?te, damit Scrivener den Dunklen Machten keine Scherereien dafur machen konnte, ihn vorzeitig geerntet zu haben.
Kurz darauf krabbelte Scrivener auch schon unter dem Stapel hervor und wischte sich den Schmutz ab. Er war ein agiler kleiner Mann mit einer beginnenden Glatze.
»Ich bin Scrivener!« rief er. »Ihr habt festgestellt, da? das Ganze nur ein Irrtum war, was? Ich habe den anderen ja gleich gesagt, da? ich nicht tot bin, als sie mich hierher gebracht haben. Euer Sensenmann hort nicht richtig zu, wenn man mit ihm spricht, nicht wahr? Zeigt immer nur dieses breite idiotische Grinsen. Hat mich einfach so aus dem Leben gerissen. Ich hatte nicht ubel Lust, mich bei den Verantwortlichen zu beschweren.«
»Horen Sie mir zu«, sagte Azzie. »Sie hatten Gluck, da? der Fehler uberhaupt entdeckt worden ist. Wenn Sie einen Rechtsstreit anstrengen, wird man Sie in Sicherheitsverwahrung nehmen, bis Ihr Fall angehort werden kann. Das konnte ein oder zwei Jahrhunderte dauern. Kennen Sie unsere Verwahrungsmethoden?«
Scriveners Augen wurden gro?. Er schuttelte den Kopf.
»Sie sind so schlimm«, sagte
Das schien Scrivener zu beeindrucken. »Ich schatze, ich habe Gluck, uberhaupt hier herauszukommen«, meinte er. »Danke fur den Tip. Sind Sie Rechtsanwalt?«
»Kein gelernter«, erwiderte Azzie. »Aber hier unten haben wir alle ein bi?chen von einem Anwalt in uns. Kommen Sie, bringen wir Sie zuruck nach Hause.«
»Ich furchte, ich werde zu Hause ein paar Probleme bekommen«, warf Scrivener zogernd ein.
»So ist das Leben nun einmal«, sagte Azzie. »Ein einziges Problem. Seien Sie froh, da? Sie Probleme haben, uber die Sie sich Gedanken machen konnen. Wenn Sie fur immer hier herunterkommen, gibt es nichts mehr, woruber Sie sich Gedanken machen konnten. Was auch immer dann mit Ihnen geschieht, wird niemals aufhoren.«
»Ich werde nicht wiederkommen«, versicherte Scrivener.
Azzie erwog kurz, ihn zu fragen, ob er darauf wetten wollte, entschied aber, da? das unter den gegebenen Umstanden unangemessen gewesen ware.
»Wir werden diese Erinnerungen aus Ihrem Gedachtnis loschen mussen«, erklarte er Scrivener. »Sie verstehen schon, wir konnen nicht zulassen, da? Leute wie Sie auf die Erde zuruckkehren und jede Menge Geschichten erzahlen.«
»Ist mir recht«, entgegnete Scrivener. »Es gibt hier sowieso nichts, woran ich mich gerne erinnern wurde. Obwohl davor, im Fegefeuer, da habe ich so einen blonden Sukkubus kennengelernt…«
»Behalten Sie’s fur sich«, knurrte Azzie, ergriff Scrivener am Arm und schob ihn zum Tor in der Wand, das in die anderen Bereiche der Holle und letztendlich zu jedem anderen Ort und umgekehrt fuhrt.
KAPITEL 2
Azzie und Scrivener durchschritten das Eisentor in den Eisenwanden und folgten der sich in Spiralen emporwindenden Stra?e, die durch die au?eren Vororte des Fegefeuers fuhrt, eine aus bodenlosen kreuzformigen Abgrunden und verbluffend hohen Gipfeln bestehende Landschaft, genau wie Fuseli sie gemalt hat. Damon und Mensch wanderten endlos dahin. Der Weg war einfach zu begehen, so wie es fur die Stra?en in der Holle typisch ist, aber der Marsch war auch langweilig, denn die Holle ist das Reich der Freudlosigkeit.
»Ist es noch sehr weit?« fragte Scrivener nach einer Weile.
»Ich bin mir nicht sicher«, gestand Azzie. »Diese Gegend hier ist neu fur mich. Eigentlich sollte ich uberhaupt nicht hier sein.«
»Genau wie ich«, erwiderte Scrivener. »Da? ich ab und zu in ein todesahnliches Koma falle, ist noch lange kein Grund fur Ihren Sensenmann, mich wegzuschleppen, ohne vorher die entsprechenden Untersuchungen durchzufuhren. Ich sage Ihnen, das war Schlamperei. Und warum sollten Sie nicht hier sein?«
»Ich war fur bessere Aufgaben vorgesehen«, sagte Azzie. »Ich hatte gute Noten im Thaumaturgie-College. War beim Abschlu? unter den drei Besten in meiner Klasse.«
Er verzichtete darauf, Scrivener zu erzahlen, da? seine gesamte Klasse bis auf drei Schuler von einem plotzlichen Einbruch des Guten aus sudlicher Richtung ausgeloscht worden war. Ein verrucktes metaphysisches Unwetter, das bis auf Azzie und zwei weitere Kommilitonen, die offensichtlich eine naturliche Immunitat gegen gute Ausstrahlungen besa?en, alle anderen getotet hatte. Und dann war da diese Pokerrunde gewesen…
»Also, warum sind Sie hier?« hakte Scrivener nach.
»Ich arbeite meine Spielschulden ab«, erklarte
»Ich auch«, sagte Scrivener in einem Tonfall, in dem ein Anflug von Bedauern mitklang.
Eine Weile wanderten sie schweigend dahin. Irgendwann fragte Scrivener: »Was wird jetzt mit mir geschehen?«
»Wir werden Sie in Ihren Korper zuruckversetzen.«
»Wird mit mir danach auch alles in Ordnung sein? Einige Leute, die von den Toten wiederauferstehen, sind hinterher ganz komisch. Zumindest habe ich das gehort.«
»Ich werde da sein und auf Sie aufpassen. Ich werde solange bei Ihnen bleiben, bis ich sicher bin, da? Sie in Ordnung sind.«
»Gut zu horen«, erwiderte Scrivener. Er schwieg erneut, bevor er sich wieder zu Wort meldete. »Aber wenn ich aufwache, werde ich naturlich nicht wissen, da? Sie da sind, nicht wahr?«
»Naturlich nicht.«
»Dann kann mich das auch nicht beruhigen.«
»Wenn Sie leben, kann Sie uberhaupt nichts beruhigen«, sagte Azzie gereizt. »Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen. Nur wenn Sie tot sind, konnen Sie das wurdigen.«
Sie gingen weiter. Wieder verging langere Zeit. »Wissen Sie, ich kann mich uberhaupt nicht an mein Leben auf der Erde erinnern«, klagte Scrivener schlie?lich.
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Es wird Ihnen alles wieder einfallen.«
»Ich glaube allerdings, da? ich verheiratet war.«