Strick los, und ich gebe dir einen ganzen Sack voller Su?igkeiten.«

»Ich mag dich nicht«, sagte das Kind. »Du bist bose. Ich werde dich gefesselt lassen und den Priester holen.«

Sie starrte ihn anklagend an. Azzie begriff, da? es einiges an List und Klugheit erfordern wurde, um sich aus dieser Lage herauszuwinden.

»Sag mir, kleines Madchen, woher hast du diesen Strick?« fragte er.

»Den hab’ ich in den Lagerraumen der Kirche gefunden«, erwiderte sie. »Er hat zwischen ein paar Knochen auf einem Tisch gelegen.«

Die Relikte von Heiligen! Das bedeutete, da? dieser Strick ein Geistfanger war! Die besten Geistfanger wurden aus den Stricken gemacht, mit denen die Heiligen ihre Gewander gurteten. Es wurde nicht leicht sein, diesen Strick wieder loszuwerden.

»Kleines Madchen, ich bin hier, um auf deinen Vater aufzupassen. Es geht ihm nicht so gut, wegen dem Sterben und Wiederauferstehen und all diesen Dingen. Und jetzt sei lieb und nimm den Strick weg, wie es sich fur ein nettes braves Madchen gehort.«

»Nein«, sagte das kleine Madchen auf jene unerbittliche Art, die kleinen – und einigen gro?en – Madchen zu eigen ist.

»Also, bei der ewigen Verdammnis!« stie? Azzie hervor. Er muhte sich nach Kraften, konnte seinen Fu? aber nicht aus dem Geistfanger befreien, der sich zu seinem Arger jedes Mal noch fester zuzog, wenn er versuchte, ihn abzustreifen. »Komm schon, kleines Madchen, Spa? ist Spa?, aber jetzt solltest du mich gehen lassen.«

»Nenn mich nicht kleines Madchen«, sagte das kleine Madchen. »Ich hei?e Brigitte, und ich wei? alles uber dich und deinesgleichen. Der Priester hat uns alles erzahlt. Du bist ein boser Geist, stimmt’s?«

»Aber ganz und gar nicht«, widersprach Azzie. »Ich bin sogar ein guter Geist. Oder zumindest ein neutraler Geist. Ich bin geschickt worden, um aufzupassen, da? es deinem Vater gutgeht. Ich mu? mich jetzt um ihn kummern und dann weiterziehen, um anderen Menschen zu helfen.«

»Oh, ich verstehe«, sagte Brigitte. Sie dachte eine Weile nach. »Du siehst aber ganz furchtbar wie ein Damon aus.«

»Das Aussehen kann tauschen«, erklarte Azzie. »La? mich gehen! Ich mu? nach deinem Vater sehen.«

»Was gibst du mir dafur?« fragte Brigitte.

»Spielzeug«, sagte Azzie. »Mehr Spielzeug, als du jemals gesehen hast.«

»Gut«, erwiderte das kleine Madchen. »Ich brauche aber auch noch neue Kleider.«

»Du bekommst eine vollig neue Garderobe. Aber la? mich jetzt frei!«

Brigitte kam naher und beruhrte den Knoten mit einem schmutzigen Zeigefinger. Dann hielt sie plotzlich inne. »Wenn ich dich freilasse, kommst du dann zu mir zuruck, wenn ich dich rufe, und spielst mit mir?«

»Nein, das geht zu weit. Ich habe besseres zu tun. Ich kann nicht standig fur ein kleines rotznasiges Dorfmadchen auf Abruf bereitstehen.«

»Na schon. Dann versprich mir, da? du mir drei Wunsche erfullst, wann immer ich darum bitte.«

Azzie zogerte. Wunsche zu gewahren, kann einen in arge Schwierigkeiten bringen. Ein Damon mu? ein solches Versprechen einhalten. Und die Menschen und ihre Wunsche waren oft so extravagant!

»Ich gewahre dir einen Wunsch«, sagte er. »Solange er vernunftig ist.«

»Gut, einverstanden«, gab Brigitte nach. »Aber nicht zu vernunftig, ja?«

»Einverstanden! Und jetzt binde mich los!«

Brigitte loste den Knoten. Azzie rieb sich das Fu?gelenk und kramte in seiner Tasche herum. Er fand eine Ersatzbatterie fur sein Unsichtbarkeitsamulett, wechselte sie gegen die leere aus und verschwand.

»Und nicht vergessen, du hast es versprochen!« rief das kleine Madchen.

Azzie wu?te, da? er sein Versprechen nicht vergessen konnte, selbst wenn er es gewollt hatte. Versprechen, die ubernaturliche Wesen gegenuber einem Menschen machen, werden im Amt fur Ausgleichende Gerechtigkeit, das von Ananke geleitet wird, genau registriert. Vergi?t ein Damon ein gegebenes Versprechen, wird er von den Kraften der Notwendigkeit sehr schnell und schmerzhaft wieder daran erinnert.

Scrivener war in guter Verfassung. Er a? eine Schussel Haferbrei und erteilte seinen Gehilfen und seiner Frau Anweisungen. Azzie verzog sich. Es wurde Zeit, da? er wieder sein gewohntes Leben aufnahm.

KAPITEL 4

Azzie geno? es, frei zu sein und wieder die grune Erde durchstreifen zu konnen. Er hatte seine Zeit in der Grube wahrhaftig geha?t, und das nicht nur wegen der geistlosen Eintonigkeit – die trostlosen taglichen Runden durch schmorende Sunder konnen sehr ermudend sein. Azzie war ein energiegeladener Damon, ehrgeizig und unternehmungslustig. Er war ein Agent des Bosen, und trotz einer gewissen Frivolitat nahm er seine hollischen Pflichten sehr ernst.

Nachdem er Scriveners Dorf verlassen hatte, wollte er sich erst einmal orientieren. Diese Gegend war ihm unbekannt. Er hatte die Erde zum letzten Mal zur Zeit des Romischen Imperiums besucht und sogar an einer von Caligulas denkwurdigen Orgien teilgenommen. Wahrend er jetzt im Tiefflug uber das Land dahinsauste, das einst Gallien genannt worden war, schutzte ihn sein Unsichtbarkeitsamulett vor unangenehmen Zwischenfallen. Daruber hinaus verlieh es seinem Trager eine gewisse zusatzliche Abschirmung, die sich wieder einmal auszahlte, als er die Flugbahn eines gro?en Schwarms Trompeterschwane kreuzte. Wie er feststellte, erstreckte sich der Wald in alle Himmelsrichtungen, so weit sein Auge reichte. Scriveners Dorf war nicht mehr als ein kleiner gerodeter Fleck inmitten des Urwalds gewesen, der fast ganz Europa bedeckte und von Skythien im Osten bis nach Spanien im Westen reichte. Azzie entdeckte einen schlammigen Weg und folgte ihm in einer Hohe von knapp zweihundert Metern. Der Weg zog sich endlos dahin und mundete irgendwann auf eine ordentlich gepflasterte romische Stra?e. Dort stie? Azzie auf einen Reitertrupp, den er bis in eine gro?ere Stadt begleitete. Spater erfuhr er, da? es sich um Troyes handelte, das zum Konigreich der Franken gehorte, gro?en Barbaren mit eisernen Schwertern, die nach dem Niedergang Roms ganz Gallien und etliche Lander mehr erobert hatten.

Azzie flog tief und langsam uber die Stadt. Au?er den vielen kleinen Hausern der einfachen Burger entdeckte er auch die Palaste der Adligen und geistlichen Wurdentrager. Am Rande der Stadt fand ein Jahrmarkt statt. Von dem frohlichen Trubel angezogen, schwebte Azzie uber die Zelte mit ihren Fahnen und Wimpeln und beschlo?, dem Jahrmarkt einen Besuch abzustatten.

Er landete und nahm eine seiner Standarderscheinungen an: Die eines freundlich aussehenden stattlichen Mannes mit beginnender Glatze und einem zuckenden Auge. Seine Toga, die zu dieser Erscheinung gehorte, wirkte unpassend fur die Umgebung, weshalb er in einer Bude einen grob gewobenen Mantel erstand. Danach sah er mehr oder weniger wie alle anderen aus.

Immer noch ein wenig orientierungslos, schlenderte er umher und sah sich um. Der Jahrmarkt bestand aus mehreren festen Gebauden und uber ein Feld verstreuten Zelten. Es wurden alle moglichen Dinge und Waren feilgeboten: Waffen, Kleidungsstucke, Nahrungsmittel, Vieh, Werkzeuge und Gewurze.

»Hallo, Ihr dort druben! Ihr, Herr!«

Azzie drehte sich um. Ja, die alte Vettel vor dem kleinen schwarzen Zelt, das mit goldenen kabbalistischen Zeichen bemalt war, meinte ihn. Sie war dunkelhautig und schien Araberin oder Zigeunerin zu sein.

»Habt Ihr mich gerufen?«

»In der Tat, Herr«, erwiderte sie mit einem landlichen, nordafrikanischen Akzent. »Tretet ein.«

Ein Mensch ware vielleicht vorsichtiger gewesen, denn man wei? nie, was einen in einem schwarzen Zelt mit kabbalistischen Zeichen erwartet, aber fur Azzie war es der erste vertraute Anblick seit langerer Zeit. Es gibt ganze Damonenstamme, die in schwarzen Zelten wohnen und als Nomaden durch die oden Weiten der Vorholle ziehen. Obwohl Azzie von vaterlicher Seite her Kanaaniter war, hatte er einige Verwandte unter den Beduinendamonen.

Das Innere des Zeltes war mit bunt gemusterten Teppichen ausgelegt. Ollampen aus filigran gearbeitetem Zinn hingen von der Decke herab, und uberall lagen bestickte Kissen herum. Im hinteren Teil des Zeltes stand ein niedriger Altar mit einem Tisch fur Opfergaben, der von einer heroischen Statue im griechischen Stil uberragt wurde. Sie stellte einen attraktiven jungen Mann mit einem Lorbeerkranz im Haar dar. Azzie erkannte das Gesicht wieder.

»Also ist Hermes hier«, stellte er fest.

»Ich bin seine Priesterin«, erklarte die alte Frau.

»Ich dachte, wir waren hier in einem christlichen Land«, sagte Azzie, »in dem die Verehrung der alten

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