Der Mann schien ihn nicht zu horen. Wie im Trancezustand fuhr er fort: »Ich habe einen Kurs fur Erste Hilfe absolviert und ein Abzeichen dafur bekommen. Immer wieder haben sie uns gelehrt, keinen Verletzten zu bewegen; was man auch tate, bewegen durfe man sie nicht.«

»Ich wei?.« Pearson legte dem Polizisten seine Hand trostend auf den Arm. Langsam sagte er: »Unglucklicherweise gibt es fur diese Regel einige Ausnahmen. Eine davon ist, wenn ein Verletzter im Mund blutet.«

Auf dem Korridor im ersten Stock sah David Coleman auf dem Weg zum Essen Pearson aus dem Wartezimmer kommen. Zuerst fragte sich Coleman, ob der alte Pathologe krank sei. Er schien verstort zu sein, seine Umgebung nicht wahrzunehmen.

Dann erblickte Pearson ihn und trat auf ihn zu. Coleman blieb stehen.

»Ah ja. Dr. Coleman. Ich wollte Ihnen noch etwas sagen.« Coleman spurte, da? es Pearson aus irgendeinem Grund schwer fiel, seine Gedanken zu ordnen. Wie geistesabwesend streckte er seine Hand aus und ergriff den Aufschlag von Colemans wei?em Arztmantel. Coleman bemerkte, da? die Hande des alten Mannes nervos und fahrig waren. Er machte sich von dem Griff unauffallig los.

»Ja, bitte, Dr. Pearson?«

»Was war es noch? Hatte etwas mit dem Labor zu tun.« Pearson schuttelte den Kopf. »Nun, jetzt ist es fort. Es wird mir wieder einfallen.«

Er war im Begriff, sich abzuwenden, als ihm ein anderer Gedanke kam. »Ich glaube, es ware gut, wenn Sie den Obduktionsraum ubernahmen, von morgen an. Uberwachen Sie alles. Sorgen Sie dafur, da? anstandig gearbeitet wird.«

»Sehr gut, ich werde das gern tun.« David Coleman hatte eine ganze Reihe klarer Vorstellungen, wie Obduktionen ausgefuhrt werden sollten, und hier bot sich ihm eine Gelegenheit, sie zu verwirklichen. Ihm fiel ein, da? er einen anderen Punkt vorbringen konnte, da sie gerade miteinander sprachen. »Ich wollte mit Ihnen uber etwas sprechen, Dr. Pearson. Es betrifft die Labors.«

»Die Labors?« Die Gedanken des alten Mannes schienen immer noch mit anderen Dingen beschaftigt zu sein.

»Sie erinnern sich vielleicht, da? ich Ihnen in meinem Brief vorschlug, mir einen Teil der Labors zu unterstellen.« Es erschien Coleman etwas merkwurdig, die Frage in diesem Augenblick und an dieser Stelle zu besprechen, aber er spurte, da? sich nicht so bald wieder eine Gelegenheit ergeben mochte.

»Ja. ja. Ich erinnere mich, da? etwas darin stand.« Pearson schien drei Manner zu beobachten, die vor ihnen durch den Korridor davongingen - ein Polizist und ein kleiner, grauer Mann, die einen gro?en zwischen sich stutzten.

»Ich wu?te gern, ob ich in der Serologie beginnen kann«, fuhr Coleman fort. »Ich wurde gern einige Uberprufungen der Verfahren vornehmen - ich meine Normuberprufungen.«

»Hm, wie meinten Sie?«

Es war lastig, seine Worte zu wiederholen. »Ich sagte, ich wurde gern einige Uberprufungen in der Serologie vornehmen.«

»Oh? Ja, ja. Tun Sie das.« Pearson antwortete gedankenverloren. Er sah immer noch den Gang entlang, als Coleman ihn verlie?.

Elizabeth Alexander ging es sehr gut. Sie wollte gerade mit ihrem Mittagessen in der Kantine des Three Counties Hospitals anfangen, als ihr bewu?t wurde, da? sie sich schon seit Tagen sehr wohl fuhlte, ganz besonders aber an diesem Vormittag. Das Kind in ihr lebte und regte sich. Selbst in diesem Augenblick konnte sie seine Bewegungen schwach spuren. Sie kam gerade aus einem Warenhaus, wo sie im Gedrange eines Ausverkaufs siegreich ein paar farbenfrohe Stoffe fur ihre Wohnung erobert hatte, darunter ein Stuck fur das winzige zweite Schlafzimmer, in dem das Baby schlafen sollte. Und nun hatte sie sich mit John getroffen.

Es war das erste Mal, da? sie gemeinsam in dem Krankenhaus a?en. Das Krankenhaus gestattete den Familienangehorigen seiner Angestellten stillschweigend, da? sie in der Kantine a?en, wie John vor ein paar Tagen erfahren hatte. Vor wenigen Minuten hatten sie sich der Schlange angeschlossen, um sich ihr Essen zu holen, und Elizabeth hatte sich einen Salat, Suppe, ein Brotchen, Hammelbraten mit Kartoffeln und Kohl, Kasekuchen und Milch ausgesucht. Gutgelaunt hatte John gesagt: »Glaubst du wirklich, da? dir das reicht?«

Elizabeth nahm einen Selleriestengel und bi? hinein. Sie sagte: »Ich habe ein sehr hungriges Baby.«

John lachelte. Noch vor ein paar Minuten auf dem Weg zur Kantine war er bedruckt und niedergeschlagen uber die Zurechtweisung durch Dr. Pearson gewesen. Er hatte sie noch nicht verwunden. Aber Elizabeths ansteckend gute Laune hatte ihn seine Mi?stimmung vergessen lassen, wenigstens fur den Augenblick. Von jetzt an, dachte er, gibt es im Labor fur mich keinen Arger mehr, denn in Zukunft werde ich sehr vorsichtig sein. Auf jeden Fall hatte Dr. Pearson inzwischen den Sensibilitatstest selbst durchgefuhrt - in Salzlosung und in konzentriertem Protein und beide Testergebnisse als negativ bezeichnet.

»Was das Blut Ihrer Frau angeht«, hatte er gesagt, »besteht keinerlei Grund zur Beunruhigung.« Tatsachlich war er fast freundlich gewesen. Zum mindesten schien es nach seinem vorhergehenden Ausbruch so.

Es war noch etwas anderes zu bedenken. Dr. Pearson war Pathologe, und John war es nicht. Vielleicht hatte Dr. Pearson recht. Vielleicht ma? John manchem, was er auf der Fachschule gelernt hatte, zu gro?e Bedeutung bei. Es war doch eine allgemein bekannte Tatsache, da? Schulen immer einen Haufen theoretischen Zeugs in einen hineinpumpten, fur den man drau?en in der Praxis keine Verwendung hatte. Der Himmel wei?, dachte er, es gibt viele Facher auf der Oberschule und im College, mit denen man niemals etwas anfangen kann, wenn man das Abschlu?examen hinter sich hat. Konnte es hier nicht genauso sein? Konnte John nicht selbst die in der Schule gelehrte Theorie uber die Notwendigkeit eines dritten Sensibilitatstests zu wichtig nehmen, wahrend Dr. Pearson aus seiner langen praktischen Erfahrung wu?te, da? er unnotig war?

Was hatte Dr. Pearson noch gesagt, wahrend er den Test ausfuhrte?

»Wenn wir die Methoden in unseren Labors jedesmal anderten, wenn etwas Neues herauskommt, fanden wir nie ein Ende. In der Medizin werden taglich neue Gedanken entwickelt, aber in einem Krankenhaus mussen wir uns vergewissern, da? sie erprobt sind und einen Wert haben, ehe wir sie anwenden konnen. Wir haben es hier mit Menschenleben zu tun und konnen uns nicht erlauben, Risiken einzugehen.«

John hatte zwar nicht ganz einsehen konnen, wieso durch einen zusatzlichen Bluttest das Leben irgendeines Patienten bedroht werden konne, trotzdem raumte er aber ein, da? an dieser Bemerkung Dr. Pearsons uber neue Ideen etwas dran sei. John wu?te aus seiner Lekture, da? es standig viel Neues gab, und nicht alles davon war brauchbar. Naturlich hatte Dr. Coleman sich ziemlich eindeutig uber die Notwendigkeit des dritten Sensibilitatstests geau?ert, aber er war viel junger als Dr. Pearson und besa? ganz gewi? keine so gro?e Erfahrung.

»Deine Suppe wird kalt«, unterbrach Elizabeth seine Gedanken. »Woruber bist du so nachdenklich?«

»Nichts Besonderes, Liebling.« Er entschlo? sich, die ganze Angelegenheit zu vergessen. Elizabeth zeigte manchmal eine beunruhigende Hartnackigkeit, aus ihm herauszufragen, woran er gerade dachte. »Ich wollte dich schon vergangene Woche danach fragen«, sagte er, »wieviel du jetzt wiegst.«

»Ziemlich genau gerade so viel, wie ich soll«, antwortete Elizabeth frohlich. »Aber Dr. Dornberger sagte, ich musse gut essen.« Sie war mit ihrer Suppe fertig und wendete sich hungrig dem Hammelbraten zu.

Als John Alexander aufblickte, bemerkte er Dr. Coleman in der Nahe. Der neue Pathologe ging auf die Tische zu, an denen die Arzte im allgemeinen sa?en. Einem Impuls folgend, stand Alexander auf. »Dr. Coleman.«

David Coleman wandte sich ihm zu. »Ja, bitte?«

»Doktor, ich mochte Sie mit meiner Frau bekannt machen.« Als Coleman naher kam, sagte er: »Elizabeth, das ist Dr. Coleman.«

»Guten Tag, Mrs. Alexander.« Coleman blieb stehen, das Tablett in den Handen, das er sich an der Ausgabe geholt hatte.

Etwas verlegen sagte Alexander: »Du erinnerst dich, Liebling. Ich habe dir erzahlt, da? Dr. Coleman auch aus New Richmond kommt.«

»Ja, naturlich«, antwortete Elizabeth. Dann lachelnd zu Coleman: »Guten Tag, Dr. Coleman. Ich erinnere mich sehr gut an Sie. Sie kamen doch auch manchmal in das Geschaft meines Vaters.«

»Ja, das stimmt.« Er erinnerte sich jetzt deutlich an sie. Ein frohliches, langbeiniges Madchen, das hilfsbereit in dem uberfullten, altmodischen Laden herumsuchte und die Dinge fand, die in dem allgemeinen Durcheinander verschwunden waren. Sie schien sich nicht sehr verandert zu haben. Er sagte: »Ich glaube, sie verkauften mir einmal eine Wascheleine.«

Sie antwortete vergnugt: »Ich erinnere mich daran. War sie gut?«

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