sagte er: »Ihr Kind wog bei der Geburt tausendfunfhundertfunfzig Gramm. Das sagt Ihnen vielleicht mehr, wenn ich Ihnen erklare, da? wir heute jedes Kind unter zweitausendfunfhundert Gramm Gewicht bei der Geburt als nicht ausgetragen ansehen.«

»Ich verstehe.«

»Wir haben das Baby naturlich in einen Brutkasten gelegt. Selbstverstandlich tun wir alles, was in unserer Macht steht.«

John sah den Geburtshelfer fest an. »Dann besteht also Hoffnung?«

»Hoffnung besteht immer, mein Sohn«, sagte Dornberger still. »Wenn wir auch sonst nicht viel haben, hoffen durfen wir wohl immer.«

Es entstand eine Pause. Dann fragte John: »Kann ich meine Frau jetzt sehen?«

»Ja«, antwortete Dornberger, »ich komme mit Ihnen auf die Station.«

Als sie hinausgingen, bemerkte John, da? der gro?e, hagere Mann ihn neugierig musterte.

Vivian begriff nicht ganz, was geschah. Sie wu?te nur, da? eine der Stationsschwestern in ihr Zimmer gekommen war und ihr gesagt hatte, sie wurde sofort in die Rontgenabteilung gebracht. Mit Hilfe einer Lernschwester war sie auf eine Trage gebettet worden und wurde durch den Gang gerollt, durch den sie vor kurzer Zeit erst selbst noch gegangen war. Ihr Weg durch das Krankenhaus erschien ihr wie ein Traum, brachte die Unwirklichkeit von allem, was bisher geschehen war, auf den Hohepunkt. Vivian entdeckte, da? ihre Angst sie im Augenblick verlassen hatte, als ob alles, was folgte, sie letzten Endes nicht beruhrte, weil das, was kam, unvermeidlich und unabanderlich war. Sie uberraschte sich bei der Frage, ob diese Empfindung das Ergebnis ihrer Depression sei ob sie die Hoffnung aufgegeben habe. Sie wu?te bereits, da? dieser Tag das Urteil bringen mu?te, das sie furchtete: das Urteil, das sie zum Kruppel machte, ihr die Bewegungsfreiheit raubte, ihr mit einem harten Schlag so vieles nahm, was sie bisher als selbstverstandlich hingenommen hatte. Bei diesem letzten Gedanken verlie? ihre Gelassenheit sie wieder, und die Angst kam zuruck. Sie wunschte verzweifelt, da? Mike in diesem Augenblick bei ihr ware.

Lucy Grainger erwartete sie am Eingang der Rontgenabteilung.

»Wir haben beschlossen, noch einmal zu rontgen, Vivian«, sagte sie »Es dauert nicht lange.« Sie wandte sich an den Arzt im wei?en. Mantel neben ihr. »Dies ist Dr. Bell.«

»'n Tag, Vivian.« Bell lachelte ihr durch seine dicken, horngefa?ten Brillenglaser zu, wandte sich dann an die Schwester: »Kann ich bitte das Krankenblatt haben?« Wahrend er es durchsah, die daran geklammerten Befunde schnell durchblatterte, drehte Vivian den Kopf hin und her und sah sich um. Sie befanden sich in einem kleinen Empfangsraum, ein durch Glaswande abgeteiltes Schwesternzimmer in der Ecke. An der Wand erblickte sie andere Patienten - zwei Manner in Rollstuhlen, die Pyjamas und Krankenhausmantel trugen, und eine Frau und einen Mann in Stra?enkleidung, der Mann mit einem Gipsverband um ein Handgelenk. Diese beiden, das wu?te sie, mu?ten entweder aus der ambulanten Abteilung oder von der Notaufnahme hergeschickt worden sein. Dem Mann mit dem Gipsverband war sichtlich unbehaglich, und er wirkte fehl am Platz. In seiner gesunden Hand hielt er ein vorgedrucktes Formular. Er schien sich daran zu klammern, als sei es ein Pa?, den er brauche, um aus dieser fremdartigen Umgebung wieder hinauszugelangen.

Bell hatte die Krankenpapiere durchgesehen und reichte sie zuruck. Er sagte zu Lucy: »Joe Pearson hat mich schon angerufen. Wenn ich richtig verstanden habe, wollen Sie durch die zweite Rontgenaufnahme feststellen, ob an dem Knochen inzwischen eine Veranderung eingetreten ist?«

»Ja«, nickte Lucy. »Es ist Joes Gedanke, da? in der Zwischenzeit etwas« - sie zogerte, weil Vivian sie horen konnte - »etwas erkennbar geworden sein konnte.«

»Es ware moglich.« Bell war zu dem Schwesternzimmer hinubergegangen und fullte eine Rontgenanforderung aus. Er fragte das Madchen hinter dem Schreibtisch: »Welche Techniker sind frei?«

Sie sah in eine Liste. »Jane und Mr. Firban.«

»Dann lassen wir das am besten Firban machen. Wollen Sie ihn bitte herrufen.« Zu Lucy gewendet sagte er, als er zu dem Wagen zuruck kam: »Firban ist einer unserer besten Techniker, und wir wollen ja gute Filme haben.« Er lachelte Lucy zu. »Dr. Pearson hat mich gebeten, mich personlich um Ihren Fall zu kummern. Darum bin ich hier. Jetzt wollen wir hier hineingehen.«

Mit Bells Hilfe schob die Schwester die Trage aus dem Vorraum in ein gro?eres Zimmer. Die Mitte wurde von einem Rontgentisch eingenommen, uber dem das Gehause mit der Rontgenrohre an Schienen und Rollen schwebte. Ein kleinerer Teil des Raumes wurde durch eine dicke Glaswand abgetrennt, hinter der Vivian eine elektrische Schalttafel erkennen konnte. Fast gleich darauf kam ein kleiner, jungerer Mann mit kurzgeschnittenem Haar in einem wei?en Labormantel zu ihnen in den Raum. Seine Bewegungen waren knapp und flink, als ob er alles, was er tat, schnell, aber mit einem Minimum an Kraftaufwand tun wolle. Er sah Vivian an und wandte sich dann an Bell.

»Sie wunschen, Dr. Bell?«

»Ah, Karl, da sind Sie ja. Ich mochte, da? Sie diesen Fall uber nehmen. Kennen Sie ubrigens Dr. Grainger?« Und zu Lucy gewandt: »Das ist Karl Firban.«

»Ich glaube nicht, da? wir uns kennen.« Lucy streckte ihre Hand aus, und der Techniker ergriff sie.

»Sehr angenehm, Doktor.«

»Und unsere Patientin ist Vivian Loburton.« Bell lachelte auf die Trage hinunter. »Sie ist eine unserer Lernschwestern. Darum geben wir uns solche Muhe mit ihr.«

»Wie geht's, Vivian?« Firbans Gru? war knapp wie seine Bewegungen. Er schwenkte jetzt den Rontgentisch aus seiner senkrechten Stellung in die Waagrechte und sagte mit einer forschen Munterkeit: »Unseren Vorzugskunden stellen wir die Wahl zwischen Vista Vision und Cinemascope - alles in prachtigem Grau und Schwarz.« Er las die Anforderung, die Bell ihm hingelegt hatte. »Das linke Knie also. Besondere Wunsche, Doktor?«

»Wir brauchen ein paar gute, frontale, seitliche und weiche Aufnahmen. Und dann glaube ich, eine Schragaufnahme des Kniegebietes von oben.« Bell schwieg, um nachzudenken. »Ich wurde sagen, funf oder sechs Filme, und dazu die entsprechenden Aufnahmen des anderen Knies.«

»Wunschen Sie Aufnahmen auf drei?ig mal vierzig, um auch das angrenzende Schien- und Wadenbein auf den Film zu bekommen?«

Bell uberlegte kurz und nickte dann. »Das ist ein guter Gedanke.« Zu Lucy sagte er: »Wenn eine Knochenmarkentzundung vorliegt, konnten weiter unten am Knochen Veranderungen an der Knochenhaut erkennbar sein.«

»Also gut, Doktor. In einer halben Stunde ist alles fertig.«

Das war ein hoflicher Wink Firbans, der es vorzog, allein und ungestort zu arbeiten, und der Rontgenarzt respektierte seinen Wunsch.

»Wir trinken eben eine Tasse Kaffee und kommen wieder her.« Bell lachelte Vivian wieder zu. »Sie sind in guten Handen.« Dann folgte er Lucy hinaus.

»Also an die Arbeit.« Der Techniker winkte der Schwester, und gemeinsam halfen sie Vivian von der Trage auf den Rontgentisch hinuber. Im Vergleich mit der Auflage der Trage war die schwarze Ebonitplatte des Tisches hart und unnachgiebig.

»Nicht sehr bequem bei uns, wie?« Firban schob Vivian behutsam in die Stellung, die er wunschte, und lie? ihr linkes Knie unbedeckt. Als sie den Kopf schuttelte, fuhr er fort: »Man gewohnt sich daran. Ich habe auf diesem Tisch schon oft geschlafen, wenn ich Nachtdienst hatte und nichts zu tun war.« Er nickte der Schwester zu, und das Madchen trat hinter die Glaswand.

Vivian beobachtete den Techniker, der routiniert die Vorbereitungen fur die Aufnahme traf. Mit flinken, ruckartigen Bewegungen nahm er eine Filmkassette aus einem in die Wand eingebauten Behalter und setzte sie mit geubtem Griff in einen Schlitten unter dem Rontgentisch ein, den er unter Vivians Knie schob. Dann steuerte er durch herabhangende Knopfschalter die schwere Rontgenrohre auf ihren Schienen und Rollen an der Decke uber Vivians Knie und lie? sie bis dicht daruber herunter. Die Nadel auf dem Hohenanzeiger der Maschine zeigte vierzig Zoll an.

Wie fremdartig und unwirklich hier alles ist, dachte Vivian, so ganz anders als das ubrige Krankenhaus. Als sich die schimmernde Anlage aus schwarzem Lack und blankem Chrom langsam und mit einem sanften Surren uber ihr bewegte, kam sie ihr fast wie ein Ungeheuer vor. Hier herrschte eine wissenschaftliche und seelenlose Atmosphare. Dieser Raum schien in gewisser Weise von der Medizin so weit entfernt zu sein wie der Maschinenraum eines Ozeanschiffes von dem hochgelegenen, sonnenbestrahlten Promenadendeck. Aber mit

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