dir zu helfen. Er wunschte, er konnte zu dem Brutkasten laufen und sagen: Hier sind meine Hande, nimm sie, um Kraft zu schopfen, hier sind meine Lungen, benutze sie und la? sie fur dich atmen. Gib nicht auf, Junge, gib nur nicht auf! Vor uns liegt so viel, was wir zusammen tun konnen, wenn du nur lebst. Hor auf mich und halte durch. Ich bin dein Vater, und ich liebe dich.
Er konnte nicht verhindern, da? ihm die Tranen aus den Augen traten. Er spurte Schwester Wildings Hand auf seinem Arm. Freundlich sagte sie: »Es ist besser, wir gehen jetzt.«
Unfahig zu sprechen, nickte er. Nach einem letzten Blick durch die Glaswand wendeten sie sich ab.
Lucy Grainger klopfte und trat in das Arbeitszimmer des Pathologen. Joe Pearson sa? hinter seinem Schreibtisch. David Coleman auf der anderen Seite des Zimmers studierte ein Aktenstuck. Er drehte sich um, als Lucy eintrat. »Ich habe die neuen Rontgenfilme von Vivian Loburton«, sagte sie.
»Was zeigen sie?« Pearsons Interesse war sofort geweckt. Er schob ein paar Papiere beiseite und stand auf.
»Sehr wenig, furchte ich.« Lucy war vor den Filmbetrachter getreten, der an der Wand hing, und beide Manner folgten ihr. Coleman streckte die Hand aus und knipste einen Schalter an. Nach ein oder zwei Sekunden begannen die Leuchtrohren hinter der Mattscheibe aufzuflackern.
Paarweise verglichen sie die Rontgenaufnahmen. Lucy wies, wie Dr. Bell in der Rontgenabteilung, auf das Gebiet, wo nach der Probeexcision an der Knochenhaut Wachstum erkennbar war. Im ubrigen, berichtete sie, habe sich nichts verandert. Schlie?lich rieb sich Pearson nachdenklich das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. Er sah Coleman an und sagte: »Mir scheint, Ihr Gedanke hat uns nicht geholfen.«
»Offenbar nicht.« Colemans Ton verriet nichts. Trotz aller Bemuhungen standen sie vor dem gleichen Problem: sie waren entgegengesetzter Meinung. Er war gespannt, wie sich der alte Mann entscheiden wurde.
»Der Versuch war es auf jeden Fall wert.« Pearson hatte eine eigentumliche Art, die geringste Anerkennung widerwillig klingen zu lassen, aber Coleman vermutete, da? er nur sprach, um Zeit zu gewinnen und seine Unschlussigkeit zu verbergen.
Jetzt wandte sich der alte Mann an Lucy. Fast hohnisch sagte er: »Die Rontgenabteilung wei? also auch nichts?«
Sie antwortete ausdruckslos: »Man kann es so bezeichnen.« »Und damit bleibt es an mir hangen, an der Pathologie?«
»Ja, Joe«, sagte sie ruhig und wartete.
Zehn Sekunden lang herrschte Schweigen, ehe Pearson wieder sprach. Dann sagte er klar und selbstsicher: »Meine Diagnose lautet, da? Ihre Patientin einen bosartigen Tumor hat -einen Knochenkrebs, Lucy.«
Lucy sah ihn an. Sie fragte: »Ist das endgultig? Ganz eindeutig?«
»Ganz eindeutig.« Die Stimme des Pathologen verriet nicht eine Spur des Zweifels oder des Zogerns. Er fuhr fort: »Ich war von Anfang an davon uberzeugt. Ich hoffte, das hier« - er deutete auf die Rontgenfilme - »wurde uns eine zusatzliche Bestatigung geben.«
»Also gut.« Lucy nickte ergeben. Ihre Gedanken richteten sich auf die unmittelbaren nachsten Dinge.
Pearson fragte sachlich: »Wann werden Sie amputieren?«
»Morgen vormittag, denke ich.« Lucy nahm die Rontgenfilme an sich>und ging zur Tur. Sie sah auch Coleman an, als sie sagte: »Jetzt mu? ich ihr wohl die Nachricht bringen.« Sie verzog das Gesicht etwas. »Das ist eine der schwersten Aufgaben.«
Nachdem sich die Tur hinter ihr geschlossen hatte, wandte Pearson sich an Coleman. Uberraschend hoflich sagte er: »Einer mu?te es entscheiden. Ich bat Sie jetzt nicht um Ihre Ansicht, weil ich nicht wagen durfte, durchblicken zu lassen, da? Zweifel bestanden. Wenn Lucy Grainger das erfuhr, war sie verpflichtet, das Madchen und seine Eltern daruber zu unterrichten. Und wenn sie das horen, werden sie die Operation hinauszogern wollen. Das wollen alle immer hinausschieben. Man kann ihnen daraus keinen Vorwurf machen.« Er schwieg und fugte schlie?lich hinzu: »Ich brauche Ihnen nicht zu erklaren, was eine Verzogerung bei einem Osteosarkom bedeutet.«
Coleman nickte. Er konnte Pearson keinen Vorwurf daraus machen, da? er eine Entscheidung gefallt hatte. Wie der alte Mann richtig sagte: Einer mu?te es tun. Dennoch fragte er sich, ob die Amputation, die morgen vollzogen wurde, unerla?lich notwendig war oder nicht. Gewi?, am Ende wurde man es erfahren. Wenn das amputierte Glied in das Labor herunterkam, wurde sich bei der Sektion zeigen, ob die Diagnose >bosartig< richtig oder falsch war. Unglucklicherweise war es dann zu spat, der Patientin noch zu helfen, wenn sie auf einem Irrtum beruhte. Die Chirurgie hatte viele Methoden gelernt, Glieder zu amputieren, aber sie besa? kein Verfahren, sie wieder anzusetzen.
Das Nachmittagsflugzeug von Burlington landete kurz nach vier auf dem La Guardia-Flughafen, und vom Flugplatz nahm Kent O'Donnell ein Taxi nach Manhattan. Auf dem Weg in die Stadt lehnte er sich zuruck. Zum erstenmal seit einigen Tagen fuhlte er sich entspannt. Er bemuhte sich immer, in den New Yorker Taxis abzuschalten, hauptsachlich, weil jeder Versuch, den Verkehr oder das Vorwartskommen durch die Stra?en zu beobachten, ihn im allgemeinen nervos werden lie?. Er hatte schon vor langem erkannt, da? hier Fatalismus die einzig richtige Einstellung war. Man fand sich mit der Moglichkeit eines Unfalls ab. Wenn er dann nicht eintrat, gratulierte man sich selbst zu seinem gro?en Gluck.
Ein weiterer Grund fur seine Entspannung war, da? er in den vergangenen Wochen mit hochster Anstrengung gearbeitet hatte, sowohl im Krankenhaus selbst als auch au?erhalb. Seine Privatpraxis war gewachsen, und er hatte ein paar zusatzliche Operationen angesetzt, um fur die vier Tage, die vor ihm lagen, vom Three Counties Hospital abwesend sein zu konnen. Ferner hatte er vor zwei Tagen eine Sondersitzung des Arztestabes des Krankenhauses geleitet, auf der er mit Hilfe der von Harry Tomaselli ausgearbeiteten Unterlagen den Umfang der vorgeschlagenen Spenden der Arzte fur den Baufonds des Krankenhauses bekanntgegeben hatte. Seinen Erwartungen entsprechend, wurde reichlich dagegen gemurrt, aber er zweifelte nicht, da? die Verpflichtungserklarungen und anschlie?end auch das Geld eingehen wurden.
Obwohl O'Donnell bewu?t den lebhaften Stra?enverkehr New Yorks nicht beachtete, sah er die vertraute, gezackte Silhouette Manhattans naher kommen. Sie uberquerten die Queensborough Bridge. Die Strahlen der warmen Nachmittagssonne stie?en wie Lanzen zwischen den schmutziggrunen Stahltragern hindurch, und tief unten konnte er Welfare Island mit seinen finster und nuchtern zusammengedrangten stadtischen Kliniken mitten im grauen East River liegen sehen. Er uberlegte, da? ihm New York jedesmal, wenn er es wieder sah, ha?licher erschien und seine Unordnung und sein Schmutz auffalliger zutage traten. Und dennoch wurde das alles selbst dem Nicht-New Yorker nach einiger Zeit gelaufig und vertraut. Es schien den Reisenden wie ein altvertrauter Freund dem fur den Empfang des Gastes ein alter, abgetragener Anzug gut genug ist, ihn willkommen zu hei?en. Er lachelte, hielt sich selbst sein unmedizinisches Denken vor - die Art Denken, die die Uberwachung der Luftverschmutzung und die Beseitigung von Slums behinderte. Den Gegnern des Fortschritts ist Sentimentalitat eine Hilfe und ein Trost, dachte er.
Das Taxi lie? die Brucke hinter sich und fuhr durch die 60th Street zur Madison Avenue, muhte sich dann einen Block weiter, bog nach Westen in die 59th Street ein. An der Ecke Seventh Avenue und Central-Park bog es wieder links in den dichten Verkehr ein und hielt vier Blocks weiter vor dem Park Sheraton Hotel.
O'Donnell trug sich in dem Hotel ein, anschlie?end duschte er und zog sich um. Aus seinem Koffer nahm er das Tagungsprogramm des chirurgischen Kongresses, den au?eren Anla? fur seine Reise nach New York. Drei der Vortrage wollte er sich anhoren, zwei uber Herzchirurgie und einen dritten uber die Ersetzung erkrankter Arterien durch Verpflanzung. Aber der erste Vortrag war erst fur elf am nachsten Vormittag angesetzt. Das lie? ihm morgen reichlich Zeit. Er sah auf seine Uhr. Es war kurz vor sieben, noch uber eine Stunde, bis er mit Denise verabredet war. Er fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter, schlenderte durch das Foyer zur Pyramid Lounge.
Es war die Cocktailstunde, und die Bar begann sich mit Gasten zu fullen, die spater essen und ins Theater wollten, die meisten, vermutete er, wie er fremd in der Stadt. Ein Kellner fuhrte ihn zu einem Tisch, und wahrend er durch den Raum ging, bemerkte er eine anziehende Frau, die allein an einem Tisch sa? und ihn interessiert betrachtete. Das war ihm nicht ungewohnt, und in der Vergangenheit hatten ahnliche Begegnungen gelegentlich zu willkommenen Erlebnissen gefuhrt. Aber heute dachte er: bedaure, ich habe andere Plane.
Der Kellner nahm seine Bestellung fur einen Whisky Soda entgegen, und nachdem er den Drink erhalten hatte, trank er ihn langsam und lie? gelassen seine Gedanken wandern.
Solche Minuten, dachte er, gibt es in Burlington zu selten. Darum war es ganz gut, ein paar Tage herauszukommen. Es scharfte den Sinn fur die Perspektive, lie? einen erkennen, da? manche Dinge der eigenen