Pearson loderte auf, als ob er ein brennendes Streichholz in einen leicht entzundlichen Stoff geworfen hatte. »Bleiben Sie mir doch mit Ihren Sekundanerklischees vom Halse. Ich tue das seit drei?ig Jahren.« Er starrte Coleman mit funkelnden Augen an.
Die fruhere Feindschaft war zuruckgekehrt. In diesem Augenblick klingelte das Telefon.
»Ja?« Pearsons Antwort war zwar schroff, aber sein Ausdruck besanftigte sich, wahrend er zuhorte. Dann sagte er: »Also gut, Lucy. Das beste ist, Sie kommen herunter. Ich warte hier auf Sie.« Er legte den Horer zuruck und starrte auf einen Punkt in der Mitte des Schreibtisches. Dann sagte er, ohne den Kopf zu heben, zu Coleman: »Lucy Grainger ist auf dem Wege hierher. Sie konnen bleiben, wenn Sie wollen.«
Fast als ob er ihn nicht gehort habe, sagte Coleman nachdenklich: »Wissen Sie, es gibt vielleicht noch einen anderen Weg, der uns einen brauchbaren Hinweis liefern kann.«
»Welchen?« Pearson hob scharf den Kopf.
»Diese Rontgenaufnahmen.« Coleman sprach immer noch langsam, als uberlegte er, wahrend er sprach. »Sie wurden schon vor zwei Wochen aufgenommen. Wenn ein Tumor vorliegt, und wenn er sich weiterentwickelt hat, konnte eine neue Rontgenuntersuchung das zeigen.«
Ohne ein Wort beugte Pearson sich wieder vor und griff noch einmal nach dem Telefon. Das Knacken in der Leitung war zu horen. Dann sagte er: »Geben Sie mir Dr. Bell in der Rontgenabteilung.«
Wahrend der alte Mann wartete, musterte er Coleman mit seltsamem Ausdruck. Dann bedeckte er die Sprechmuschel und sagte widerwillig anerkennend: »Das mu? man Ihnen lassen. Sie denken nach - standig.«
In dem Zimmer, das der Krankenhausstab scherzhaft als den >Schwitzkasten fur werdende Vater< bezeichnete, druckte John Alexander eine halbgerauchte Zigarette in einem Aschenbecher aus. Er stand auf, klopfte auf den Ledersessel, in dem er die letzten anderthalb Stunden gesessen hatte, und von dem er jedesmal, wenn sich die Tur offnete und jemand von dem Gang drau?en hereinkam, aufgefahren war. Aber immer war die Nachricht fur einen anderen bestimmt gewesen, und jetzt waren von den funf Mannern, die sich vor neunzig Minuten in dem Raum aufgehalten hatten, nur noch er und ein anderer ubriggeblieben.
Er trat an das gro?e Fenster, von dem man den Vorhof des Krankenhauses uberblickte und uber andere Gebaude hinweg auf das Industrieviertel Burlingtons sah, und stellte fest, da? Stra?en und Dacher na? waren. Seit er hierhergekommen war, mu?te es also geregnet haben, ohne da? er es bemerkt hatte. Jetzt bot die Umgebung des Krankenhauses den unerfreulichsten Anblick. Schmutzig und deprimierend erstreckten sich die Dacher vernachlassigter Hauser und billiger Wohnblocks bis zu den Fabriken mit ihren verru?ten Schloten zu beiden Ufern des Flusses. Ab er auf die Stra?e vor dem Krankenhaus hinunterblickte, sah er eine Gruppe Kinder, die aus einer Seitengasse herausgelaufen kam und uber die Pfutzen, die auf dem unebenen, zerrissenen Pflaster des Burgersteiges standen, hinweghupfte oder sie umging. Wahrend er die Kinder beobachtete, bemerkte er, wie ein gro?erer Junge stehenblieb und einem Kind hinter sich ein Bein stellte. Es war ein kleines Madchen, vielleicht vier oder funf. Sie fiel mit dem Gesicht in eine gro?e Pfutze. Schmutziges Wasser spritzte um sie auf. Weinend erhob sie sich, wischte sich Schlamm aus dem Gesicht und versuchte, das Wasser aus ihrem verdreckten, durchna?ten Kleid zu wringen. Die anderen waren stehengeblieben, sprangen im Kreis um sie herum, ihrem Gesichtsausdruck nach zu schlie?en hingerissen vor Schadenfreude.
»So sind Kinder.« Die angewiderte Stimme sprach unmittelbar neben ihm, und erst jetzt bemerkte John, da? der andere Mann in dem Raum neben ihn ans Fenster getreten war. Er blickte zur Seite und sah eine gro?e, spindeldurre Gestalt vor sich. Das Gesicht mit den hohlen Wangen war ungewohnlich hager. Der Mann war unrasiert. Vermutlich war er zwanzig Jahre alter als John. Er trug eine fleckige Cordjacke uber einem schmutzigen Overall. John nahm einen Dunst von Schmierol und abgestandenem Bier wahr, der den Mann umgab.
»Kinder sind alle gleich.« Der Mann wendete sich vom Fenster ab und wuhlte in seinen Taschen. Gleich darauf zog er Papier und Tabak heraus und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Er sah John scharf an, als er fragte: »Ihr erstes?«
»Eigentlich nicht. Es ist unser zweites. Unser erstes Baby starb.«
»Wir verloren auch eins in dem Alter, das zwischen dem vierten und dem funften. Ganz gut so.« Der Mann suchte wieder in seinen Taschen. Er fragte: »Haben Sie Feuer?«
John zog sein Feuerzeug heraus und hielt es ihm hin. »Sie erwarten schon Ihr sechstes?«
»Nein - das achte.« Der hagere Mann hatte jetzt seine Zigarette in Brand. »Manchmal finde ich, es sind acht zuviel.« Dann fragte er schroff: »Sie wollten Ihres wohl, was?«
»Meinen Sie das Kind?«
»Ja.«
»Selbstverstandlich.« John war uberrascht.
»Wir wollten sie nie. Nach dem ersten nicht mehr. Das hat mir gelangt.«
»Warum haben Sie dann acht?« John konnte die Frage nicht unterdrucken. Die Unterhaltung ubte einen fast hypnotischen Zwang auf ihn aus.
»Fragen Sie besser meine Frau. Bei der ist es immer hei? in der Hose. Wenn sie zwei Glas Bier in sich hat und mit ihrem Hintern eine Weile uber eine Tanzflache gewackelt ist, mu? sie es immer gleich besorgt haben. Dann kann sie einfach nicht warten, bis sie zu Hause ist.« Der Hagere stie? Rauch aus und fuhr ruhig fort: »Wir haben alle unsere Kinder an den komischsten Stellen gemacht. Einmal waren wir im Warenhaus Macy einkaufen, und da trieben wir es in einer Besenkammer im Souterrain. Da kommt unser viertes her, glaube ich. Aus dem Souterrain bei Macy. War aber kein Gelegenheitskauf. «
John war nahe daran, laut herauszulachen, aber dann fiel ihm wieder ein, weshalb er hier war. Statt dessen sagte er: »Ich hoffe nur, da? bei Ihnen alles gut geht - ich meine dieses Mal.«
Der Hagere antwortete finster: »Es geht immer gut. Das ist ja unser Arger.« Er ging auf die andere Seite des Zimmers zuruck und nahm eine Zeitung.
Als John wieder allein am Fenster stand, sah er noch einmal auf seine Uhr. Nun wartete er schon eindreiviertel Stunden hier oben. Bestimmt mu?te er bald etwas erfahren. Er wunschte, er hatte Elizabeth gesehen, bevor sie in das Entbindungszimmer gebracht worden war. Aber alles ging so schnell, da? er keine Gelegenheit mehr dazu hatte. Er befand sich in der Krankenhauskuche, wohin er auf Dr. Pearsons Anweisung gegangen war, als Carl Bannister ihm die Nachricht uberbrachte. Pearson hatte ihm befohlen, von den Tellern Kulturen abzunehmen, nachdem sie durch die Geschirrspulmaschinen gelaufen waren. John vermutete, da? der Verdacht bestand, die Maschinen wurden nicht hygienisch einwandfrei arbeiten. Aber sobald Bannister ihn uber Elizabeths Aufnahme im Krankenhaus benachrichtigt hatte, lie? er die Arbeit liegen und lief in die Aufnahme, in der Hoffnung, sie dort noch anzutreffen. Sie war aber schon im Krankenwagen angekommen und in die Entbindungsstation gebracht worden. Danach war er sofort hier hinaufgekommen, um zu warten.
Jetzt offnete sich wieder die Tur, und diesmal war es Dr. Dornberger. John versuchte, auf seinem Gesicht zu lesen, aber vergeblich. Dornberger fragte: »Sind Sie John Alexander?«
»Ja, Sir.« John hatte den alten Geburtshelfer schon mehrere Male im Krankenhaus gesehen, aber es war das erstemal, da? er mit ihm sprach.
»Ihre Frau wird alles gut uberstehen.« Dornberger war erfahren genug, um keine langen Umschweife zu machen.
Johns erste Reaktion war die Empfindung uberwaltigender Dankbarkeit. Dann fragte er: »Und das Kind?«
Dornberger antwortete ruhig: »Sie haben einen Jungen. Er ist naturlich zu fruh geboren, und ich mu? Sie darauf aufmerksam machen, John, da? er sehr schwach ist.«
»Ist er lebensfahig?« Erst als er die Frage ausgesprochen hatte, wurde ihm bewu?t, wieviel fur ihn von der Antwort abhing.
Dornberger hatte seine Pfeife aus der Tasche gezogen und stopfte sie. Ruhig antwortete er: »Wir wollen sagen, da? seine Chancen nicht so gunstig sind, als wenn er voll ausgetragen ware.«
John nickte betrubt. Mehr gab es nicht zu sagen, jedenfalls nichts, was jetzt Bedeutung hatte.
Der alte Arzt schwieg, wahrend er seinen Tabaksbeutel wieder einsteckte. Dann sagte er im gleichen bedachtsamen Ton: »Soweit ich es beurteilen kann, ist Ihr Kind zweiunddrei?ig Wochen alt, das hei?t, es wurde acht Wochen zu fruh geboren.« Mitfuhlend fugte er hinzu: »Der Junge ist fur die Welt noch nicht fertig, John. So fruh ist das keiner von uns.«
»Nein, wahrscheinlich nicht.« John war sich kaum bewu?t, was er antwortete. Seine Gedanken waren bei Elizabeth und bei dem, was dieses Kind ihnen beiden bedeutete.
Dr. Dornberger hatte Streichholzer aus der Tasche gezogen und zundete seine Pfeife an. Als sie brannte,