diesen geheimnisvollen und einschuchternden Geraten wurde ein gro?er Teil der wirklichen Forschungsarbeiten der Medizin verrichtet. Der Gedanke angstigte sie einen Augenblick. Uber all dem schwebte eine bedrohliche Unpersonlichkeit, an diesen Maschinen war so wenig Menschliches. Was sie auch aufdecken mochten, wurde ohne Warme oder Freude, ohne Trauer oder Anteilnahme registriert und ubermittelt. Gut oder schlecht, es spielte keine Rolle. Einen Augenblick erschien ihr die Offnung vor der Rontgenrohre, die jetzt uber ihr hing, wie das Auge des Gesetzes, unbeugsam, leidenschaftslos. Wie wurde seine Entscheidung jetzt ausfallen? Durfte sie hoffen, oder wurde sie gar erlost - oder wurde es ein Verdammnisurteil fallen, gegen das es keine Berufung gab? Wieder sehnte sie Mike herbei. Sie nahm sich vor, ihn anzurufen, sobald sie wieder in ihr Zimmer kam.
Der Techniker hatte seine Vorbereitungen beendet. »So wird es wohl gehen.« Er warf einen letzten uberprufenden Blick auf den Apparat. »Ich sage Ihnen Bescheid, wenn Sie vollig ruhig bleiben mussen. Sie mussen wissen, wir sind die einzigen im Krankenhaus, die den Patienten versprechen konnen, da? sie nichts spuren, und es stimmt auch wirklich.«
Jetzt trat er hinter die zolldicke Glaswand, die die Rontgentechniker vor der Strahlung schutzte. Aus dem Augenwinkel konnte Vivian erkennen, wie er, eine Liste in der Hand, hierhin und dorthin griff und Schalter einstellte.
Vor dem Schaltbrett dachte Firban: ein hubsches Madchen. Was ihr wohl fehlt? Es mu? etwas Ernstes sein, wenn Bell sich selbst um sie kummert. Im allgemeinen interessiert sich der Chef nicht fur Patienten, ehe die Filme vorliegen. Er uberprufte noch einmal das Schaltbrett. Bei dieser Arbeit lernte man bald, nichts zu riskieren. Die Einstellungen stimmten - vierundachtzig Kilovolt, zweihundert Milliampere, Belichtungszeit eine funfzehnhundertstel Sekunde. Er druckte auf den Knopf, der die Drehanode der Rohre in Bewegung setzte, Dann rief er das ubliche: »Nicht bewegen! Ganz stillhalten!« pre?te mit dem Daumen auf den zweiten Knopf und wu?te: was es auch zu sehen gab, war jetzt durch die durchdringenden Rontgenstrahlen festgehalten, um von anderen beurteilt zu werden.
Im Vorfuhrraum der Rontgenabteilung waren die Jalousien heruntergelassen, um das Tageslicht auszuschalten. Dr. Bell und Lucy Grainger warteten. In ein paar Minuten mu?ten die Filme, die Firban aufgenommen hatte zum Vergleich mit den Aufnahmen von vor zwei Wochen, vorliegen. Der Techniker hatte die belichteten Negative bereits in die automatische Entwicklungsanlage eingeschoben, die in diesem Augenblick -sie sah wie eine etwas gro? geratene Olheizung aus - noch leise vor sich hinsummte. Dann begannen, einer nach dem anderen, die entwickelten Filme aus einem Schlitz am Vorderteil der Maschine herauszufallen.
Bell nahm jeden Film sofort auf und klammerte ihn vor einem Betrachter fest, der durch Leuchtrohren erhellt wurde. Vor einem zweiten Betrachter unmittelbar daruber hatte er schon die fruheren Aufnahmen aufgehangt.
»Sind die Aufnahmen nicht schon geworden?« Der Ton des Technikers verriet einen Anflug von Stolz.
»Ausgezeichnet.« Die Antwort kam mechanisch. Bell betrachtete schon konzentriert die neuen Filme, verglich sie mit den entsprechenden Stellen auf den alten Aufnahmen. Dabei deutete er mit einem Bleistift auf diese Stellen, um sich bei seinen Uberlegungen zu helfen und gleichzeitig Lucy seine Gedanken zu erlautern.
Nachdem sie beide Serien grundlich verglichen hatten, fragte Lucy: »Sehen Sie einen Unterschied? Ich furchte, ich kann keinen erkennen. «
Der Rontgenarzt schuttelte den Kopf. »Hier liegen Anzeichen einer geringfugigen Reizung der Knochenhaut vor.« Er deutete mit dem Bleistift auf einen kleinen Unterschied in der grauen Schattierung auf zweien der Filme. »Das sind aber wahrscheinlich Folgen Ihrer Probeexcision. Sonst sind keine Veranderungen festzustellen, die irgendwelche Schlusse zulassen.« Bell nahm seine dicke Brille ab und rieb sein rechtes Auge. Fast wie um Entschuldigung bittend, sagte er: »Es tut mir leid, Lucy, ich glaube, die Entscheidung liegt nach wie vor bei der Pathologie. Wollen Sie Joe Pearson benachrichtigen, oder soll ich es tun?« Er begann, die beiden Serien Filme von den Haltern abzunehmen.
»Ich tue es selbst«, antwortete Lucy ernst. »Ich gehe gleich zu Joe und sage es ihm.«
XVII
Die Stationsschwester Mrs. Wilding schob eine Strahne grauer Haare, die immer wieder unter ihrer gestarkten Haube hervorkroch, zuruck und ging rasch vor John Alexander durch den Gang der Entbindungsstation im vierten Stock. Vor der funften Tur blieb sie stehen und blickte hinein. Dann verkundete sie frohlich: »Ein Besucher fur Sie, Mrs. Alexander«, und lie? John in das kleine Krankenzimmer eintreten.
»Johnny, Liebster.« Elizabeth streckte ihre Arme aus. Sie zuckte unwillkurlich etwas zusammen, als sie dabei ihre Stellung veranderte. Er trat schnell zu ihr und ku?te sie zartlich. Einen Augenblick hielt sie ihn fest umschlungen. Er spurte ihre Warme und unter seiner Hand das frische, saubere, leicht gestarkte Krankenhausnachthemd, das sie trug. Ihr Haar hatte einen Geruch, der an eine Mischung von Schwei? und Ather erinnerte. Es gemahnte ihn an das, was er nicht mit ihr hatte teilen konnen, etwas, das wie der fremde Hauch eines fernen Landes uber ihr lag, von dem sie jetzt zuruckgekehrt war. Einen Augenblick empfand er eine Spannung zwischen ihnen, als ob sie sich nach einer langen Trennung wiederfinden und von neuem kennenlernen mu?ten. Dann loste sich Elizabeth sanft von ihm.
»Ich mu? schrecklich aussehen.«
»Du bist wunderschon«, versicherte er.
»Ich hatte gar keine Zeit mehr, etwas mitzunehmen.« Sie sah auf das formlose Krankenhaushemd hinunter. »Nicht mal ein Nachthemd oder einen Lippenstift.«
Mitfuhlend sagte er: »Ich wei?.«
»Ich werde eine Liste aufstellen, dann kannst du mir alles bringen.«
Hinter ihnen hatte Schwester Wilding den Vorhang zugezogen, der das andere Bett in dem kleinen Zimmer abtrennte.
»So. Jetzt sind Sie so ungestort, wie Sie sein konnen.« Sie nahm ein Glas von Elizabeths Nachttisch und fullte es aus einem Krug mit Eiswasser.
»Ich komme gleich wieder, Mr. Alexander, dann konnen Sie Ihr Baby sehen.«
»Danke.« Beide lachelten der Schwester dankbar zu, als sie hinausging.
Nachdem die Tur geschlossen war, wandte Elizabeth sich John wieder zu. Ihr Ausdruck war gespannt, ihr Blick forschend. »Johnny, Liebster, du mu?t es mir sagen: welche Chancen hat das Kind?«
»Nun, Liebste.« Er zogerte.
Sie streckte ihre Hand aus und legte sie auf die seine. »Johnny, ich will die Wahrheit wissen. Die Schwestern werden sie mir nicht sagen. Ich mu? sie von dir erfahren.« Ihre Stimme schwankte. Er sah ihr an, da? ihr die Tranen nahe waren.
Leise antwortete er: »Es ist ungewi?.« Er wahlte seine nachsten Worte vorsichtig. »Ich habe mit Dr. Dornberger gesprochen, die Aussichten stehen eins zu eins. Das Baby kann leben oder.« John vollendete seinen Satz nicht und schwieg.
Elizabeth lie? den Kopf in die Kissen zurucksinken. Sie blickte zur Decke. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flustern, als sie fragte: »Dann besteht nicht sehr viel Hoffnung?«
John erwog die Wirkung seiner nachsten Worte sorgfaltig, ehe er antwortete. Vielleicht war es fur sie beide besser, wenn sie sich jetzt schon auf die Moglichkeit gefa?t machten, da? das Kind starb, besser jedenfalls, als bei Elizabeth Hoffnungen zu wecken, die dann in ein oder zwei Tagen womoglich grausam enttauscht wurden. Behutsam sagte er: »Es ist. schrecklich klein, verstehst du? Er wurde zwei Monate zu fruh geboren.
Wenn irgendeine Infektion eintritt, wenn es auch nur das Geringste ist. Er ist eben nicht sehr kraftig.«
»Danke.« Elizabeth lag vollig regungslos. Sie sah ihn nicht an, sondern druckte nur fest seine Hand. Auf ihren Wangen standen Tranen, und John spurte, da? auch seine Augen feucht wurden. Er versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben und sagte: »Elizabeth, Liebling, was auch geschieht. Wir sind noch jung. Wir haben noch so vieles vor uns.«
»Ich wei?.« Ihre Worte waren kaum horbar. Er legte wieder seine Arme um sie, druckte ihren Kopf an sich und horte sie zwischen unterdrucktem Schluchzen flustern: »Aber zwei Babys. auf diese Weise.« Sie hob den Kopf und schrie verzweifelt auf: »Es ist nicht gerecht!«
Er fuhlte, wie ihm die Tranen in die Augen traten. Zartlich flusterte er: »Es ist schwer zu begreifen. aber wir haben immer noch uns.«
Er hielt sie noch eine Minute umschlungen. Ihr Schluchzen wurde ruhiger, dann spurte er, wie sie sich bewegte. Sie murmelte: »Taschentuch, bitte.« Er zog eines aus seiner Tasche und reichte es ihr.
»Es ist jetzt schon gut.« Sie wischte sich uber die Augen. »Es ist manchmal nur so.«