Schnell wiederholte sie das gleiche an anderen Arterien und den Venen. Dann durchtrennte Lucy weitere Muskeln, griff herunter und legte den Nerv frei, der parallel nach unten verlief. Wahrend ihre behandschuhten Hande prufend daruber tasteten, regte sich Vivian plotzlich, und aller Augen richteten sich schnell auf den Narkosearzt am Kopfende des Tisches. Er nickte beruhigend. »Der Patientin geht es gut, keine Komplikationen.« Eine seiner Hande lag auf Vivians Wange. Sie war bleich, aber ihr Atem ging tief und regelma?ig. Ihre Augen standen offen, ohne etwas zu sehen. Ihr Kopf lag gerade weit zuruck, nicht zur Seite geneigt, die Augenwinkel waren mit Wasser gefullt, Tranen, die sie in der Bewu?tlosigkeit geweint hatte.

»Mit dem Nerv verfahren wir in gleicherweise wie mit den Arterien und den Venen, ziehen ihn also soweit wie moglich am Oberschenkel herunter, durchtrennen ihn und lassen ihn sich zuruckziehen.«

Lucy sprach fast automatisch, ihre Handbewegungen begleiteten ihre Worte und verrieten ihre Gewohnheit, zu unterrichten. Ruhig fuhr sie fort: »Zwischen Chirurgen wird immer viel uber die beste Methode diskutiert, Nervenenden bei einer Amputation zu behandeln. Die Absicht ist selbstverstandlich, spater im Stumpf Schmerzen zu vermeiden.« Gewandt knupfte sie einen Knoten und nickte dem Assistenten zu, der das uberstehende Ende des Fadens abschnitt. »Eine ganze Reihe von Methoden sind erprobt worden - Injektion von Alkohol, Abbrennen des Nervenendes mit elektrischem Strom. Aber die Methode, die wir heute anwenden, ist immer noch die einfachste und die am haufigsten befolgte.«

Lucy sah auf die Uhr an der Wand des Operationsraumes. Sie wies auf neun Uhr funfzehn. Funfundvierzig Minuten waren verstrichen, seit sie angefangen hatte. Sie sah zu dem Narkosearzt.

»Noch alles in Ordnung?«

Der Narkosearzt nickte. »Konnte nicht besser sein, Lucy. Sie ist ein wirklich gesundes Madchen.« Boshaft fragte er: »Sind Sie sicher, da? Sie der richtigen Patientin das Bein abnehmen?«

»Keine Sorge.« Lucy hatte nie etwas dafur ubrig, wenn im Operationsraum uber die Patienten auf dem Tisch Scherze gemacht wurden, obwohl sie manche Chirurgen kannte, die die ganze Zeit, vom ersten Einschnitt bis zur letzten Naht, witzelten. Es war alles eine Frage des Standpunktes, nahm sie an. Leichtfertigkeit war fur manche vielleicht ein Mittel, tiefere Empfindungen zu verbergen. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls zog sie es vor, das Thema zu wechseln. Wahrend sie begann, die hinteren Muskeln des Beines zu durchschneiden, fragte sie den Narkosearzt: »Wie geht es Ihrer Familie?« Lucy unterbrach sich, um eine zweite Klemme anzusetzen, die das Gewebe von dem neuen Einschnitt zuruckzog.

»Ausgezeichnet. Wir ziehen nachste Woche in ein neues Haus.«

»Wirklich? In welcher Gegend?« Zu dem Assistenten sagte sie: »Etwas hoher, bitte. Versuchen Sie, es mir aus dem Weg zu halten.«

»Somersets Heights. Es ist die neue Siedlung im Norden.«

Die hinteren Beinmuskeln waren fast durchtrennt. »Ich glaube, ich habe davon gehort. Ihrer Frau wird es sicher sehr gefallen«, antwortete sie.

Jetzt war der Knochen sichtbar. Der ganze gro?e Schnitt klaffte rot. Der Narkosearzt antwortete: »Sie ist im siebten Himmel. Kauft Teppiche, sucht Vorhange aus und all das andere. Es gibt nur ein Problem.«

Lucys Finger griffen um den Beinknochen herum, arbeiteten nach oben, losten die umgebenden Muskeln. Den Studenten erklarte sie: »Sie werden bemerken, da? ich die Muskeln soweit wie moglich zuruckschiebe. Dann konnen wir den Knochen recht hoch durchtrennen, und er ist nachher vollstandig von Muskeln umgeben«

Der Assistent hatte Schwierigkeiten, die Muskellappen mit den beiden Klemmen zuruckzuhalten. Sie half ihm, die Stellung zu verbessern, und er murmelte: »Das nachste Mal bringe ich mir eine dritte Hand mit.«

»Sage, bitte.« Die Operationsschwester war schon bereit, legte den Griff der Knochensage in Lucys ausgestreckte Hand. Zu dem Narkosearzt sagte Lucy: »Was ist das fur ein Problem?«

Lucy setzte die Sage so hoch an, wie sie konnte, und begann mit kurzen, gleichma?igen Strichen zu sagen. Ein dumpfes, durchdringendes, knirschendes Gerausch wurde horbar, als die Sagezahne sich in den Knochen hineinfra?en. Der Narkosearzt antwortete: »Ich mu? das alles bezahlen.«

Lucy lachte. »Wir werden Sie ofter beschaftigen mussen, mehr Operationen ansetzen.« Sie hatte den Knochen halb durchgesagt, er erwies sich zaher als andere, aber selbstverstandlich waren junge Knochen von Natur aus harter. Plotzlich kam ihr der Gedanke, wie tragisch dieser Augenblick war und sie sich trotzdem ungeniert unterhielten und sogar uber alltagliche Dinge scherzten. In ein oder zwei Sekunden, langer dauerte es nicht mehr, war dieses Bein abgetrennt, und ein junges Madchen - kaum mehr als ein Kind hatte fur immer einen Teil seines Lebens verloren. Nie mehr konnte sie frei laufen, unbehindert wie andere, oder tanzen oder schwimmen oder reiten oder unbefangen lieben. Schlie?lich wurde sie wohl das eine oder andere wieder tun, vieles aber nur muhsam und mit mechanischen Hilfen. Aber nichts konnte je wieder ganz das gleiche wie fruher sein. Niemals wurde sie wieder so frohlich, unbeschwert und sorglos sein wie vorher, als ihr Korper noch ganz gewesen war. Hier lag der Kern der Tragodie: sie trat zu fruh ein.

Lucy hielt inne. Ihre sensiblen Fingerspitzen verrieten ihr, da? die Sage den Knochen fast durchgeschnitten hatte. Dann erfolgte unvermittelt ein knirschendes Gerausch, auf den ein scharfes Knacken folgte. Im letzten Augenblick war der letzte Teil des Knochens unter dem Gewicht des fast abgetrennten Gliedes gebrochen. Das Bein war lose und fiel auf den Tisch. Zum erstenmal hob Lucy ihre Stimme und rief: »Halten Sie es! Schnell!«

Aber die Warnung kam zu spat. Als der Assistent zugriff, entglitt das Bein seinen Handen und fiel von dem Operationstisch auf den Boden.

»Lassen Sie es liegen!« Lucys Ton war scharf, als der Assistent verga?, da? er dadurch unsteril werden wurde, und sich niederbeugte, um das Bein aufzuheben.

Die zweite Schwester trat hinzu, nahm das amputierte Glied auf und hullte es in Gaze und Papier ein. Spater wurde es mit anderen Paketen, die chirurgische Proben enthielten, von einem Boten abgeholt und in die Pathologie gebracht werden.

»Halten Sie den Stumpf von dem Tisch fort, bitte.« Lucy winkte dem Assistenten, und er trat naher, um ihre Anweisung zu befolgen. Die Operationsschwester hielt eine Raspel bereit, und Lucy nahm sie, tastete nach den scharfen Spitzen am Knochen, die durch den Bruch entstanden waren, und beseitigte sie mit der Raspel. Wieder erklarte sie den Studenten: »Vergessen Sie nicht, das Knochenende zu glatten. Uberzeugen Sie sich, da? keine kleinen Spitzen herausstehen, denn wenn das der Fall ist, besteht die Wahrscheinlichkeit, da? sie wachsen und fur den Patienten au?erst schmerzhaft werden.« Ohne aufzublicken fragte sie: »Wie lange dauert es schon?«

Der Narkosearzt antwortete: »Es sind jetzt siebzig Minuten.«

Lucy reichte die Raspel zuruck. »Gut«, sagte sie, »jetzt konnen wir anfangen zu nahen.« Das Ende der Operation vor Augen, dachte sie dankbar an den Kaffee, der im Chirurgenzimmer unten am Gang auf sie wartete.

Mike Seddons hatte die Zeit uber, in der Vivian operiert wurde, im wahrsten Sinne des Wortes geschwitzt. Mit den Loburtons - Vivians Eltern hielten sich noch in Burlington auf und beabsichtigten, vorlaufig zu bleiben - wartete er in einem der kleinen Wartezimmer, die den Angehorigen von Patienten, die operiert wurden, vorbehalten waren. Am fruhen Morgen, als das Leben im Hospital: gerade erst zu erwachen begann, hatte er sie im Hauptgang getroffen und in Vivians Krankenzimmer hinaufgebracht, um Vivian zu besuchen. Es war aber nicht mehr viel zu sagen gewesen, und Vivian, von einem Betaubungsmittel bereits benommen, schien sie kaum wahrzunehmen. Schon nach ein paar Minuten war sie ab geholt und in die Operationsabteilung gebracht worden.

Jetzt hatten sie in der unbehaglichen Hinterhofstimmung des sparlich moblierten Raumes mit seinen unbequemen Kunstlederstuhlen und den lackierten Tischen ihre alltaglichen Unterhaltungsthemen erschopft. Henry Loburton, gro? und kraftig, mit dunn gewordenem, eisgrauem Haar, das Gesicht von den Jahren, die er im Freien verbracht hatte, gerunzelt und gegerbt, stand am Fenster und sah auf die Stra?e hinunter. Mike Seddons konnte voraussagen, da? er sich in ein oder zwei Minuten vom Fenster abwenden und zu seinem Kunstlederstuhl zuruckkehren wurde. Nach einer Weile wurde er dann wieder aufstehen, um an das Fenster zu treten. Es war ein monotones Hin und Her, das der alte Mann schon seit uber einer Stunde befolgte, in einer langsamen, auf die Nerven gehenden Monotonie, von der Seddons verzweifelt wunschte, da? er endlich eine Abwechslung hineinbringen wurde - entweder seine Schritte beschleunigen oder den Abstand zwischen jedem Platzwechsel variieren.

Im Gegensatz dazu verhielt sich Vivians Mutter still. Fast schien es, als ob sie sich nicht bewegt habe, seit sie hierhergekommen waren. Sie hatte einen geradlehnigen Stuhl einer der anderen, scheinbar bequemeren Sitzgelegenheiten, vorgezogen und hielt sich in einer Weise aufrecht, die auf eine altgewohnte bewu?te Selbstbeherrschung hinwies. Schon seit einiger Zeit sah Angela Loburton gerade vor sich hin, ihr Blick, wie es

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