schien, in die Unendlichkeit gerichtet, die Hande auf dem Scho? leicht gekreuzt. Sie war heute noch blasser als sonst, aber die hohen Backenknochen, die ihre naturliche Wurde und Haltung betonten, traten wie immer hervor. Diese Frau erschien gleichzeitig zerbrechlich und unzerstorbar.

Seit ihrer ersten Begegnung vor ein paar Tagen hatte Mike Seddons viel uber Mrs. Loburton nachgedacht. Ihre Gefuhle fur Vivian und die Sorge um ihre Tochter traten bei ihr viel weniger offensichtlich zutage als bei ihrem Mann, und doch spurte Seddons im Verlauf dieser Tage, da? sie ebenso tief, vielleicht noch tiefer waren. Er vermutete auch, da? trotz der unverkennbaren Mannlichkeit, die Vivians Vater zeigte, ihre Mutter bei weitem den starkeren Charakter besa?, da? sie das solide Fundament dieser Ehe bildete, von dem ihr Mann im Lauf der Jahre abhangig geworden war.

Seddons uberraschte sich bei dem Gedanken, wie es zwischen ihm und Vivian in der vor ihnen liegenden Zeit sein wurde. Wer von ihnen wurde sich am Ende als entschlossener und ausdauernder erweisen? Er wu?te, da? es keine zwei Menschen gab, die sich ganz gleich waren, weder in der Charakterstarke noch in der Gabe zu fuhren, nicht einmal in der Fahigkeit zu lieben. Er wu?te auch, da? das mit dem Geschlecht wenig zu tun hatte, da? bei Frauen Verstand und Herz oft starker waren als bei Mannern und da? nach au?en gezeigte Mannlichkeit manchmal nur eine hohle Pose war, um innere Schwache zu verbergen.

War Vivian starker als er selbst? War ihr Charakter besser, ihr Mut gro?er? Diese Frage hatte er sich am Abend vorher gestellt, und seither hatte sie ihn nicht losgelassen. Als er erfuhr, da? die Entscheidung fur die Amputation gefallen war, und er wu?te, da? Vivian unterrichtet war, war er zu ihr gegangen. Er hatte sie nicht in Tranen aufgelost, sondern lachelnd angetroffen. »Komm herein, Mike, Liebling«, hatte sie gesagt, »und mache bitte kein so dusteres Gesicht. Dr. Grainger hat mir alles gesagt, und ich habe mich ausgeweint. Jetzt ist es voruber, oder wird es morgen wenigstens sein.«

Bei diesen Worten fuhlte er, wie seine Liebe fur sie sich vertiefte. Er pre?te sie an sich und ku?te sie leidenschaftlich. Sie wuhlte zartlich in seinem Haar, bog seinen Kopf zuruck und sah ihm gerade in die Augen.

»Fur den Rest meines Lebens werde ich nur ein Bein haben, Mike«, sagte sie. »Ich werde nicht mehr das Madchen sein, das du kennengelernt hast. Nicht mehr so, wie du mich zum erstenmal gesehen hast, und nicht mehr so, wie du mich jetzt kennst. Wenn du zuruck willst - ich kann es verstehen.«

Voller Nachdruck erwiderte er: »Du sollst so etwas nicht sagen.«

»Warum?« fragte sie. »Furchtest du dich, daruber zu sprechen?«

»Nein!« Es war ein lauter, harter Protest, aber im gleichen Augenblick, als er ihn aussprach, wu?te er, da? er log. Er furchtete sich. Ebenso, wie er spurte, da? Vivian sich nicht furchtete - jetzt nicht, jetzt nicht mehr.

Es war das Abbild Vivians, erkannte er, das er jetzt in ihrer Mutter sehen konnte, oder richtiger umgekehrt. Die Kraft, die sie beide besa?en, war unverkennbar. War seine Kraft ebenso gro?? Zum erstenmal beschlichen ihn unbehagliche Zweifel.

Mr. Loburton hatte sein monotones Hin und Her unterbrochen. Mitten zwischen dem Fenster und dem Stuhl war er stehengeblieben. »Michael«, sagte er, »es sind jetzt anderthalb Stunden. Kann es noch viel langer dauern?«

Seddons bemerkte, da? auch Vivians Mutter ihn ansah. Er schuttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Dr. Grainger sagte, sie wolle sofort herkommen, wenn, unmittelbar danach.« Er schwieg, fugte dann hinzu: »Wir werden es bald wissen - sehr bald.«

XIX

Dr. Dornberger griff durch die beiden runden Offnungen an den Seiten des Brutkastens und untersuchte das Kind der Alexanders grundlich. Dreieinhalb Tage waren seit der Geburt vergangen, eine Tatsache, die normalerweise als ein hoffnungsvolles Zeichen gewertet werden konnte. Aber es zeigten sich Symptome, die standig deutlicher wurden, von denen Dornberger wu?te, da? sie bedenklich waren.

Er lie? sich Zeit bei seiner Untersuchung, trat dann nachdenklich zuruck, erwog in Gedanken die vorliegenden Anzeichen, filterte sie durch seine in langen Jahren und bei den zahllosen von ihm behandelten Fallen gesammelten Erfahrungen. Am Ende bestatigten seine Uberlegungen, was ihm sein Instinkt bereits sagte. Die Prognose war au?erordentlich ungunstig. »Wissen Sie«, sagte er, »eine Zeitlang habe ich geglaubt, er wurde es schaffen.«

Die junge Schwester, die das Sauglingszimmer mit den Fruhgeburten unter sich hatte - die gleiche, mit der John Alexander vor ein paar Tagen gesprochen hatte -, sah Dornberger erwartungsvoll an. Sie sagte: »Sein Atem war bis vor einer Stunde noch ganz regelma?ig. Dann wurde er schwacher. Deshalb rief ich Sie an.«

Eine Lernschwester auf der anderen Seite des Brutkastens folgte aufmerksam der Unterhaltung. Ihre Augen uber der Gazemaske wanderten zwischen Dornberger und der Stationsschwester hin und her.

»Nein, die Atmung ist nicht gut«, bestatigte Dornberger langsam. Er dachte laut weiter, versuchte sich zu vergewissern, da? er nichts ubersah. »Die gelbe Verfarbung ist starker geworden, als sie sein durfte, und die Fu?chen scheinen geschwollen zu sein. Geben Sie mir noch einmal das Ergebnis der Blutzahlung.«

Die Stationsschwester blickte auf ihre Notiztafel: »4,9 Millionen rote Blutkorperchen, sieben rote Blutkorperchen mit Kernen auf je hundert wei?e Blutkorperchen.«

Wieder entstand eine Pause, wahrend die beiden Schwestern Dr. Dornberger beobachteten, der uber den Befund nachdachte. Er uberlegte: Im ganzen ist die Anamie zu gro?, obwohl sie naturlich eine uberstarke Reaktion normaler Art sein kann. Laut sagte er: »Wissen Sie, wenn der Sensibilitatsbefund nicht vorlage, wurde ich vermuten, da? das Kind Erythroblastose hat.«

Die Stationsschwester sah ihn uberrascht an. »Aber zweifellos, Doktor,«, dann brach sie ab.

»Ich wei?, das kann nicht passieren.« Er deutete auf die Notiztafel. »Trotzdem. Zeigen Sie mir den Laborbefund. Das Original uber das Blut der Mutter.«

Die Stationsschwester schlug ein paar Blatter um, fand das Formular und zog es heraus. Es war der Bericht, den Dr. Pearson nach seinem Zusammensto? mit David Goleman unterschrieben hatte. Dornberger studierte ihn sorgfaltig, reichte ihn zuruck. »Nun, das ist eindeutig genug - Sensibilitat negativ.«

Naturlich sollte das eindeutig sein, aber er konnte einen nagenden Zweifel nicht unterdrucken. War der Befund etwa doch falsch? Unmoglich! sagte er sich, die pathologische Abteilung kann niemals einen so groben Fehler begehen. Trotzdem entschlo? er sich, nach seiner Visite Joe Pearson aufzusuchen und mit ihm zu sprechen.

Zu der Stationsschwester sagte Dornberger: »Im Augenblick konnen wir nichts weiter tun. Benachrichtigen Sie mich bitte sofort, wenn eine Veranderung eintritt.«

»Ja, Doktor.«

Ab Dornberger fort war, fragte die Lernschwester: »Was hat der Doktor gesagt? Erythro.?« Sie stolperte uber das Wort.

»Erythroblastose. Das ist eine Blutkrankheit bei Sauglingen. Sie tritt manchmal auf, wenn das Blut der Mutter Rh-negativ und das des Vaters Rh-positiv ist.« Die junge Stationsschwester mit dem roten Haar beantwortete die Frage genau und sachlich wie immer. Die Lernschwestern lie?en sich bei der Verteilung der Arbeit gern ihr zuweisen, da sie nicht nur im Ruf stand, eine der besten Schwestern des Krankenhauses zu sein, sondern weil es auch nur wenig uber zwolf Monate her war, da? sie ihre eigene Lehrzeit als Beste ihres Kursus abgeschlossen hatte. Das wu?ten die Lernschwestern und zogerten deshalb nicht, sie auszufragen.

»Ich dachte, in diesen Fallen wurde das Blut des Kindes gleich nach der Geburt ausgetauscht.«

»Sie meinen durch eine Austauschtransfusion?«

»Ja.«

»Nur in manchen Fallen«, erklarte die Stationsschwester bereitwillig. »Es hangt von dem Sensibilitatsbefund uber das Blut der Mutter ab. Wenn der Befund positiv ist, bedeutet es im allgemeinen, da? das Kind mit Erythroblastose geboren wird und da? unmittelbar nach der Geburt eine Austauschtransfusion vorgenommen werden mu?. In dem vorliegenden Fall war der Laboratoriumsbefund aber negativ, so da? die Austauschtransfusion nicht notwendig war.« Die Stationsschwester schwieg. Dann fugte sie nachdenklich, halb zu sich selbst, hinzu: »Die Symptome sind allerdings auffallig.«

Seit der Auseinandersetzung uber die Frage der Laboruberprufungen vor einigen Tagen war der alte Pathologe mit keinem Wort auf David Colemans Arbeit im serologischen Labor zuruckgekommen. Coleman hatte keine Ahnung, was das Schweigen bedeutete ob er seinen Standpunkt durchgesetzt hatte und ihm die Serologie nun unmittelbar unterstand oder ob Pearson beabsichtigte, die Frage spater wieder aufzugreifen. Inzwischen hatte der junge Pathologe allerdings die Gewohnheit angenommen, regelma?ig im Labor zu erscheinen und die in Arbeit befindlichen Untersuchungen zu uberprufen. Das Ergebnis war, da? er schon verschiedene klare Vorstellungen

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