»Ja, Sir.« Alexander ging schnell hinaus.
»Hier ist der Verwaltungsdirektor des Three Counties Hospitals.« Tomaselli sprach wieder in das Telefon. »Ich bitte Sie um einen Polizeiwagen, um eine dringende Blutprobe zu befordern.« Er horte kurz zu. »Ja, unsere Leute werden an dem Eingang der Notaufnahme warten.« Als er den Horer einhangte, sagte er: »Ich uberzeuge mich am besten selbst davon, da? alles klappt.« Er ging hinaus und lie? Pearson und Dornberger allein.
In den letzten Sekunden hatten sich im Kopf des alten Geburtshelfers die Gedanken gehetzt. Es war unvermeidlich gewesen, da? Charles Dornberger wahrend der vielen Jahre, in denen er Medizin praktiziert hatte, Patienten nicht am Leben erhalten konnte. Manchmal schien ihr Tod fast vorausbestimmt zu sein. Aber immer hatte er um ihr Leben gekampft, zeitweise wild und verbissen, und nie vor dem endgultigen Ende aufgegeben. Und in allen Fallen - ob er Erfolg gehabt hatte oder nicht - konnte er von sich selbst aufrichtig sagen, da? er in Ehren bestanden, da? er hohe Anforderungen an sich gestellt, da? er nichts dem Zufall uberlassen, da? er sich immer mit seinen ganzen Kraften eingesetzt hatte. Es gab Arzte, die es manchmal weniger genau nahmen, das wu?te er. Aber nach seinem besten Wissen und Gewissen hatte er niemals einen Patienten durch Versaumnisse oder Nachlassigkeit verloren.
Bis zu diesem Augenblick.
Jetzt schien ihm, da? er vor dem Ende seiner eigenen Laufbahn stand, da? er die traurige und bittere Ernte der Unfahigkeit eines anderen teilen mu?te. Und das schlimmste war - eines Mannes, der sein Freund war.
»Joe«, begann er, »ich mu? dir etwas sagen.«
Pearson hatte sich auf einen Laborhocker sinken lassen. Sein Gesicht hatte jede Farbe verloren, sein Blick ging ins Leere. Nun sah er langsam auf.
»Dieses Kind war eine Fruhgeburt, Joe, aber es war normal, und wir hatten sofort nach der Geburt eine Austauschtransfusion vornehmen konnen.« Dornberger schwieg. Und als er fortfuhr, lag der ganze Aufruhr seiner Gefuhle in seiner Stimme: »Joe, wir sind sehr lange Freunde gewesen. Und manches Mal bin ich fur dich aufgestanden und habe dir geholfen, deine Kampfe auszufechten. Aber dieses Mal, wenn dieses Kind stirbt, so wahr mir Gott helfe, werde ich dich schonungslos vor den medizinischen Ausschu? bringen.«
XX
»Du lieber Himmel, was machen die da druben nur. Warum haben wir noch nichts gehort?« Dr. Joseph Pearsons Finger trommelten einen kurzen Wirbel auf seiner Schreibtischplatte. Es war eineinviertel Stunden her, seit dem Kind der Alexanders die Blutprobe abgenommen und sofort ins Universitatskrankenhaus gebracht worden war. Nun warteten der alte Pathologe und David Coleman in Pearsons Arbeitszimmer.
Coleman sagte ruhig: »Ich habe Dr. Franz noch einmal angerufen. Er versprach, uns das Ergebnis sofort telefonisch durchzugeben.«
Pearson nickte dumpf. »Wo ist der Junge - Alexander?« fragte er.
»Die Polizei hat ihn wieder zuruckgebracht. Er ist bei seiner Frau.« Coleman zogerte. »Meinen Sie nicht, da? wir uns mit dem Gesundheitsburo uber die Situation in der Kuche auseinandersetzen sollten, solange wir doch warten mussen? Und uns vergewissern, ob die Untersuchung des Kuchenpersonals begonnen hat?«
Pearson schuttelte den Kopf. »Spater. Erst wenn das voruber ist.« Er sagte heftig: »Ich kann an nichts anderes denken, solange der Fall nicht geklart ist.«
Zum erstenmal, seit an diesem Vormittag in dem Labor die Ereignisse so unvermittelt ihren Anfang genommen hatten, dachte David Coleman uber Pearson und das, was der alte Mann empfinden mochte, nach. Colemans Erklarung uber den Sensibilitatstest war mit keinem Wort angezweifelt worden, und durch sein Schweigen schien Pearson stillschweigend zuzugeben, da? sein jungerer Kollege besser informiert war als er selbst, zumindest auf diesem Gebiet. Coleman dachte: es mu? bitter fur ihn sein, das einzugestehen, und zum erstenmal empfand er fur den alten Mann eine Regung der Sympathie.
Pearson horte auf zu trommeln und schlug mit der flachen Hand hart auf den Tisch. »Warum rufen sie denn nicht an, verdammt noch mal?« rief er ungeduldig aus.
»Etwas Neues von der Pathologie?«
Dr. Charles Dornberger wartete, gewaschen und im Operationsanzug, fur den Eingriff bereit in dem kleinen Operationsraum neben der Entbindungsstation. Die Frage war an die Stationsschwester gerichtet, die gerade hereingekommen war.
Sie schuttelte den Kopf. »Nein, Doktor.«
»Wie weit sind wir mit den Vorbereitungen?«
Die Schwester fullte zwei Gummiwarmflaschen und legte sie unter die Decke auf dem kleinen Operationstisch, der fur Sauglinge benutzt wurde. Sie antwortete: »In ein paar Minuten ist alles fertig.«
Ein Praktikant trat ein und fragte Dr. Dornberger: »Beabsichtigen Sie, mit der Austauschtransfusion zu beginnen, auch wenn das Ergebnis des Coombs-Tests noch nicht vorliegt?«
»Ja«, antwortete er. »Wir haben schon zuviel Zeit verloren, und ich will nicht noch langer warten.« Er uberlegte, dann fuhr er fort: »Jedenfalls ist die Anamie an dem Kind jetzt so deutlich erkennbar, da? die Austauschtransfusion auch ohne den Test gerechtfertigt ist.«
Die Schwester sagte: »Ubrigens, Doktor, die Nabelschnur des Kindes ist sehr kurz abgeschnitten worden. Ich wei? nicht, ob Ihnen das bekannt ist.«
»Doch. Ich wei? es. Danke.« Dem Praktikanten erklarte Dornberger: »Wenn wir vorher wissen, da? eine Austauschtransfusion notwendig ist, lassen wir die Nabelschnur bei der Geburt lang, um einen leicht zuganglichen Verbindungspunkt zu haben. Bedauerlicherweise wu?ten wir in diesem Fall nicht rechtzeitig Bescheid, und darum wurde sie kurz abgeschnitten.
»Wie werden Sie vorgehen?« fragte der Praktikant.
»Ich werde unter ortlicher Betaubung einen Schnitt unmittelbar uber der Nabelvene machen.« Zu der Schwester gewandt fragte Dornberger: »Ist das Blut vorgewarmt?«
Sie nickte. »Ja, Doktor.«
Dornberger erklarte dem Praktikanten: »Es ist wichtig, da? das neue Blut Korpertemperatur hat, sonst ist die Gefahr eines Schocks gro?er.«
Dornberger war sich bewu?t, da? er mit seinen Worten sich selbst ebenso vergewissern wie den Praktikanten belehren wollte. Das Sprechen hielt ihn mindestens davon ab, zu grundlich nachzudenken, und grundlich nachdenken war etwas, das Dornberger im Augenblick vermeiden wollte. Seit er Pearson nach der Auseinandersetzung im Labor verlassen hatte, folterte ihn ein Sturm von Befurchtungen und Selbstvorwurfen. Die Tatsache, da? technisch gesehen ihn selbst kein Vorwurf fur das Geschehene traf, erschien ihm nebensachlich. Es ging um seinen Patienten, der sich in Gefahr befand, es war sein Patient, der wegen einer arztlichen Nachlassigkeit schlimmster Art sterben konnte, und die letzte Verantwortung lag allein bei ihm.
Im Begriff weiterzusprechen, hielt er plotzlich inne. Etwas stimmte nicht. Ihm schwindelte. Sein Kopf schmerzte, der Raum schwankte um ihn. Er schlo? einen Augenblick die Augen, offnete sie wieder. Alles in Ordnung. Seine Umgebung war wieder klar, das Schwindelgefuhl fast verschwunden. Aber als er auf seine Hande sah, stellte er fest, da? sie zitterten. Er versuchte es zu unterdrucken. Es gelang ihm nicht.
Der Brutkasten mit dem Saugling wurde hereingerollt. Er horte den Praktikanten fragen: »Dr. Dornberger, fehlt Ihnen etwas?«
Es lag ihm auf der Zunge, nein zu sagen. Er wu?te, wenn er es tat, konnte er es durchstehen, verbergen, was in ihm vorging, ohne da? jemand anders als er selbst etwas bemerkte. Und vielleicht konnte er selbst noch zu dieser spaten Stunde dank seines Konnens und Wissens dieses Kind retten, im letzten Augenblick wenigstens im gewissen Ma? sein Gewissen entlasten und seine Integritat bewahren.
Aber dann fiel ihm ein, was er selbst in all den Jahren immer wieder gesagt und woran er geglaubt hatte: von den alten Mannern, die sich zu lange an ihre Macht klammern, seine Behauptung, er wurde wissen, wann es fur ihn an der Zeit sei, zuruckzutreten, seine Uberzeugung, da? er nie einen Patienten behandeln wurde, wenn er nicht mehr seine vollen Fahigkeiten besa?. Daran dachte er. Dann sah er wieder auf seine zitternden Hande hinunter.
»Nein«, sagte er, »ich glaube, ich bin nicht in Ordnung.« Er schwieg. Und zum erstenmal ergriff ihn ein uberwaltigendes Gefuhl, das es ihm schwermachte, seine Stimme zu beherrschen. Er bat: »Bitte, rufen Sie Dr. O'Donnell an. Sagen Sie ihm, ich sei nicht in der Lage, die Transfusion durchzufuhren, und bate ihn, sie fur mich zu ubernehmen.«
In diesem Augenblick hatte Dr. Charles Dornberger es aufgegeben, Arzt zu sein, und das wu?te er.
Als das Telefon klingelte, ri? Pearson den Horer von der Gabel.