erst in den vierziger Jahren bekannt. Danach dauerte es weitere zehn Jahre, bis Rh-Tests von allen Krankenhausern und Arzten allgemein ubernommen wurden. In der Zwischenzeit wurden an vielen Orten Bluttransfusionen durchgefuhrt, ohne da? der Rh-Faktor uberpruft wurde. In New Richmond wahrscheinlich auch. Der Zeitpunkt stimmte. Elizabeths Unfall mu?te 1949 gewesen sein. Er erinnerte sich, da? sein Vater ihm spater davon erzahlt hatte.

Sein Vater! Ein neuer Gedanke uberkam ihm: Es war sein eigener Vater - Dr. Byron Goleman -, der die Alexanders behandelt und der die Transfusionen angeordnet haben mu?te, die Elizabeth Alexander erhalten hatte. Wenn sie mehrere Transfusionen erhalten hatte, stammte das Blut von mehr als einem Spender. Die Moglichkeit, da? wenigstens ein Teil des Blutes Rh-positiv war, konnte fast nicht ausgeschlossen werden. Das war also die Gelegenheit gewesen, bei der Elizabeths Blut sensibilisiert worden war. Dessen war er jetzt sicher. Damals konnte naturlich keine sichtbare Wirkung aufgetreten sein. Das hei?t keine andere, au?er, da? ihr eigenes Blut Antikorper entwickelte - Antikorper, die verborgen und unvermutet gelauert hatten, bis sie sich neun Jahre spater gereizt, virulent und stark entwickelten, um ihr Kind zu vernichten.

Naturlich traf damit Colemans Vater kein Vorwurf, selbst wenn seine Hypothese richtig war. Er hatte ihre Behandlung im guten Glauben nach den letzten Kenntnissen der Medizin angeordnet. Richtig war, da? zu dieser Zeit der Rh-Faktor schon bekannt war und an manchen Orten der Rh-Faktor bereits ermittelt und berucksichtigt wurde. Aber von einem vielbeschaftigten Landarzt konnte kaum erwartet werden, sich uber alles Neue sofort auf dem laufenden zu halten. Oder etwa doch? Manchen Arzten dieser Zeit - darunter auch praktischen Arzten - war der neue Horizont bekannt, den die moderne Einteilung der Blutgruppen geoffnet hatte. Sie handelten sofort, berucksichtigten die letzten Erkenntnisse. Aber moglicherweise, uberlegte Coleman, waren das jungere Manner. Sein Vater war zu dieser Zeit schon alt. Er arbeitete zu angestrengt, um genugend Zeit zum Lesen zu finden. Aber war das eine ausreichende Entschuldigung? War es eine Entschuldigung, die er selbst - David Goleman - bei einem anderen gelten lassen wurde? Oder gab es vielleicht zwei verschiedene Normen -galten nachsichtigere, weniger strenge Gesetze, wenn es darum ging, uber einen Verwandten und gar den eigenen verstorbenen Vater zu urteilen? Der Gedanke beunruhigte ihn. Mit Unbehagen empfand er, da? durch seine personliche Zuneigung einige seiner Ansichten beeintrachtigt wurden, die er am hochsten hielt. David Coleman wunschte sich, da? er nicht daruber nachgedacht hatte. Es loste nagenden Zweifel aus, da? er sich doch nicht absolut sicher war. uber gar nichts mehr sicher war.

Pearson sah ihn an. Er fragte: »Wie lange dauert es schon?« Coleman blickte auf die Uhr, ehe er antwortete: »Etwas uber eine Stunde.«

»Dann werde ich anrufen.« Ungeduldig griff er nach dem Telefon. Dann zogerte er und zog seine Hand wieder zuruck. »Nein«, sagte er, »es ist wohl besser, ich lasse es.«

Auch John Alexander im serologischen Labor konnte die Uhr nicht aus den Augen lassen. Vor einer Stunde war er von einem Besuch bei Elizabeth zuruckgekommen und hatte seither mehrere halbherzige Versuche unternommen, zu arbeiten. Aber er hatte selbst bemerkt, da? seine Gedanken immer wieder weit von seiner Arbeit abirrten, und hatte es lieber aufgegeben als zu riskieren, einen Fehler zu begehen. Jetzt griff er wieder nach einem Reagenzglas, um es noch einmal zu versuchen, aber Bannister trat zu ihm und nahm es ihm aus der Hand.

Der alte Laborant las die Anforderung und sagte freundlich: »Lassen Sie mich das nur machen, John.«

Alexander protestierte, aber Bannister bestand darauf. »Uberlassen Sie es ruhig mir. Warum gehen Sie nicht zu Ihrer Frau?«

»Danke, aber ich bleibe lieber hier. Dr. Coleman sagte, sobald er etwas erfahre, wolle er herkommen und mich benachrichtigen.« Alexanders Blick wanderte wieder zur Uhr an der Wand. Mit gepre?ter Stimme fugte er hinzu: »Es kann doch nicht mehr lange dauern?«

Bannister wandte sich ab. »Nein«, erwiderte er langsam, »ich glaube nicht.«

Elizabeth Alexander war allein in ihrem Krankenzimmer. Regungslos, den Kopf tief in den Kissen, die Augen geoffnet, lag sie da, als Schwester Wilding hereinkam. Elizabeth fragte: »Wei? man schon etwas?«

Die altliche, grauhaarige Schwester schuttelte den Kopf. »Ich sage Ihnen Bescheid, sobald ich etwas erfahre.« Sie stellte das Glas Orangensaft, das sie hereingebracht hatte, neben Elizabeth und fugte hinzu: »Ich kann ein paar Minuten bei Ihnen bleiben, wenn Sie mogen.«

»Ja, bitte.« Elizabeth lachelte schwach, und die Schwester zog sich einen Stuhl an das Bett und setzte sich. Schwester Wilding war froh, da? sie eine Weile ihre Fu?e ausruhen konnte. Gerade in letzter Zeit schmerzten sie ihr haufig, und sie vermutete, da? ihre Fu?e sie wahrscheinlich zwingen wurden, die Krankenpflege aufzugeben, ob sie wollte oder nicht. Nun, sie hatte das Gefuhl, da? sie dazu ohnehin bald bereit war.

Schwester Wilding wunschte, da? sie etwas fur die beiden jungen Leute tun konne. Sie hatte sie von Anfang an ins Herz geschlossen. Ihr kamen die beiden Alexanders fast noch wie Kinder vor. In gewisser Weise hatte sie bei der Pflege dieser jungen Frau, die jetzt allem Anschein nach ihr Baby verlor, fast das Gefuhl, als pflege sie die Tochter, die sie sich vor vielen Jahren gewunscht, aber nie bekommen hatte. War das nicht geradezu albern? Nach all den Jahren als Krankenpflegerin wurde sie auf ihre alten Tage noch sentimental. Sie fragte Elizabeth: »Woran dachten Sie gerade, als ich zu Ihnen hereinkam?«

»Ich dachte an Kinder, an dicke, gesunde Kinder, die auf einem grunen Rasen in der Nachmittagssonne herumtollen.« Elizabeths Stimme klang traumerisch. »So war es in Indiana im Sommer, als ich noch Kind war. Schon damals dachte ich oft daran, da? ich eines Tages selbst Kinder haben wurde und da? ich bei ihnen sa?e, wenn sie, genau wie ich damals, in der Sonne auf dem Gras herumtollen.«

»Es ist merkwurdig mit Kindern«, antwortete Schwester Wilding. »Manchmal kommt es so ganz anders, als man es sich denkt. Ich habe einen Sohn, wissen Sie. Er ist jetzt schon erwachsen.«

»Nein«, sagte Elizabeth, »das wu?te ich nicht.«

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte die Schwester. »Er ist ein guter Junge, Offizier bei der Marine. Vor ein oder zwei Monaten hat er geheiratet. Er schrieb es mir in einem Brief.«

Elizabeth fragte sich verwundert, wie es wohl sein mochte, wenn man einen Sohn zur Welt brachte und dann spater einen Brief von ihm bekam, in dem er schrieb, da? er geheiratet habe.

»Ich hatte nie das Gefuhl, da? wir uns sehr gut kannten«, sagte Schwester Wilding. »Ich furchte, in gewisser Weise war es mein Fehler - ich lie? mich scheiden und bot ihm nie ein wirkliches Heim.«

»Aber manchmal konnen Sie doch zu ihm fahren und ihn besuchen«, antwortete Elizabeth. »Und wahrscheinlich werden doch Enkel kommen.«

»Daran habe ich oft gedacht«, sagte Schwester Wilding. »Ich glaubte immer, es mu?te eine gro?e Freude fur mich sein. Ich meine, Enkel zu haben, verstehen Sie. Irgendwo in der Nahe zu wohnen und abends hinuberzugehen und auf die Kinder aufzupassen und all das.«

»Aber konnen Sie das denn nicht?«

Schwester Wilding schuttelte den Kopf. »Ich habe das Gefuhl, wenn ich dort hinkomme, wird es wie ein Besuch bei Fremden sein, und oft kann es auch nicht sein. Mein Sohn ist namlich nach Hawaii versetzt worden. In der vergangenen Woche sind sie dorthin abgereist.« Mit einem Anflug trotziger Rechtfertigung fugte sie hinzu: »Er wollte mich vorher noch mit seiner Frau besuchen, aber im letzten Augenblick kam dann etwas dazwischen, und sie schafften es nicht mehr.«

Darauf herrschte Schweigen, bis Schwester Wilding sagte: »Nun, ich mu? wieder an meine Arbeit.« Sie erhob sich und sagte an der Tur noch: »Trinken Sie Ihren Saft, Mrs. Alexander. Ich komme wieder und gebe Ihnen Bescheid, sobald wir etwas erfahren.«

Kent O'Donnell lief der Schwei? uber das Gesicht, und die assistierende Schwester beugte sich vor, um ihm die Stirn abzuwischen. Funf Minuten waren vergangen, seit er mit der kunstlichen Atmung angefangen hatte, und der winzige Korper unter seinen Handen zeigte noch keine Reaktion. Seine Daumen lagen auf der kleinen Brust, die anderen Finger griffen zum Rucken herum. Das Kind war so klein, da? sich O'Donnells Hande uberdeckten. Er mu?te sehr behutsam sein, weil ein bi?chen zuviel Druck die gebrechlichen Knochen wie dunne Zweige zerdrucken wurde. Sanft druckte er noch einmal zu, lie? wieder locker. Der Sauerstoff zischte, versuchte den Atem zu wecken, die schwachen, winzigen Lungen ins Leben zuruckzurufen und zu eigener Tatigkeit anzuspornen.

O'Donnell wunschte brennend, da? dieses Kind lebte. Ihm stand vor Augen, wenn es starb, bedeutete das, da? das Three Counties Hospital, sein Krankenhaus, in seiner wichtigsten Aufgabe versagt hatte: Selbstlos fur die Kranken und die Schwachen zu sorgen. Fur dieses Kind war nicht selbstlos gesorgt worden. Es hatte das Schlechteste bekommen, als es das Beste brauchte, und Pflichtvergessenheit hatte uber Konnen gesiegt. Er entdeckte, da? er versuchte, seinen eigenen, brennenden Willen durch seine Fingerspitzen auf das kleine

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